Arnold Vaatz

Kurzbiografie

Vaatz wurde 1989 Mitglied der Gruppe der 20 und er schloss sich dem “Neuem Forum” an und wurde dessen Pressesprecher. In den 90er Jahren begleitete er mehrere Ämter in der sächsischen Landesregierung.

Seit 2002 ist Vaatz Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Bereiche Aufbau Ost, Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das Interview führte Thomas Eichberg

Arnold Vaatz, geb. 1955

Interview

Reisen wir gedanklich 20 Jahre zurück, in den Sommer 1989. Wie haben Sie den Sommer in Erinnerung, was haben Sie zu dieser Zeit gemacht?

Die 80er Jahre, also die zweite Hälfte, waren politisch optimistische Jahre in Ostdeutschland. Das ist der erste Satz. Warum? Weil die sich von den vorhergehenden Jahren dadurch unterschieden, dass es in den früheren Jahren immer, wenn man jetzt in den Größenordnungen des russischen Imperiums denkt, an den Rändern unruhige Bewegungen gegeben hat, bis hin zur Herauslösung von einzelnen Ländern. In Moskau regierte aber ein unerschütterlich orthodoxer Machtwille, der dann am Ende unter Einsatz von Armee und Sicherheitskräften diese Emanzipationsbewegungen in aller Regel totgeschlagen hat. Das hatte sich jetzt geändert. In Moskau war das Empfinden, dass man in einer technologischen und gesellschaftlichen Sackgasse gelandet ist, nicht mehr zu unterdrücken. Gorbatschow war ein Ausdruck dieser Ratlosigkeit. Er fiel ja einigermaßen aus dem Schema des typischen Funktionärs und aus der alten Logik raus, die besagte, dass die Dinge, die in Moskau Realität sind, kurze Zeit später auch uns aufgezwungen würden. Das bedeutete in diesem Jahr, dass es bei uns eine Liberalisierung geben müsse. Demzufolge kam damals der Gedanke auf, wir müssen uns um eine Reform der Gesellschaft in der DDR Gedanken machen. Es war eine optimistische Phase in Bezug auf die Frage, ob das auch möglich sein würde. Der Optimismus ist aus meiner Sicht in zwei Etappen auf Null reduziert worden.

Erste Etappe: Wir meinten damals, dass wir die Kommunalwahl am 7. Mai dazu nutzen könnten, dass es ein Aufbruchsignal in der DDR gibt. In der Gestalt, dass das Politbüro registriert, dass die Bürger nicht mehr bereit sind, diese 98% Wahlergebnisse zu liefern. Wir wissen jetzt alle, dass das nichts genützt hat. Auch unsere Auszählaktion in den Stimmlokalen hat die DDR Führung nicht bewogen, das Ergebnis so zu verkünden, wie es möglicherweise gewesen ist. Es ist offenbar eine vorgefertigte Zahl abends über die Bildschirme verkündet worden. Die Botschaft für uns war: Ihr könnt wählen, was ihr wollt; ihr könnt reden, was ihr wollt; ihr könnt denken, was ihr wollt – wir machen, was wir wollen! Das war die Realität. Es würde uns demonstriert, dass wir in Wirklichkeit null Einfluss auf die Entscheidungen in diesem Land haben. Der zweite Termin, der die Hoffnung auf eine Veränderung gänzlich zerschlagen hat, das ist Anfang Juni gewesen, also einen Monat später, als auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Studentenunruhen in China niedergeschlagen wurden und das Politbüro der SED kurze Zeit später gratulierte. Das war das Signal: Wenn ihr nicht zufrieden seid damit, dass wir machen, was wir wollen, dann ergeht es euch so, wie ihr das gerade im Fernsehen mit ansehen könnt. Die Reaktionen der Ostdeutschen darauf waren verschieden. Es hat nicht jeder gleich reagiert, das ist richtig.

Das wesentlich Andere an früheren Zeiten war, dass sich plötzlich Schlangen gebildet haben vor den Polizeistationen. Nicht weil man Ausreiseanträge stellen wollte, sondern deshalb, weil man nach Ungarn fahren wollte und dafür ein Visum brauchte. Ungarn war im Mai der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und hatte sich damit verpflichtet, keine Flüchtlinge mehr an die DDR oder das Herkunftsland auszuliefern, wenn es sich um politische Flüchtlinge handelt. Auf diese Verpflichtung setzten die Ostdeutschen, die nach Ungarn wollten. Das ist sozusagen eines der größten Phänomene, die ich bisher in der Deutschen Geschichte erlebt habe. Ich kenne keinen anderen Fall, wo sich mal deutlich gezeigt hat, dass die Freiheitsrechte im Leben eines Menschen prinzipiell eine höhere Priorität als alle materiellen und sozialen Rechte haben. Denn die Menschen, die damals gesagt haben: „Wir gehen“, die haben alles, was sie sich zu DDR Zeiten geschaffen haben, hinter sich gelassen. Die haben auf alles verzichtet. Das heißt, sie haben teilweise Häuser, die unter für heute nicht mehr vorstellbar schwierigen körperlichen Bedingungen gebaut worden sind, zurückgelassen. Sie haben Gärten zurückgelassen. Sie haben ihre Wertsachen zurückgelassen, darunter Automobile, für die sie teilweise 14 oder 16 Jahre warten mussten zu DDR Zeiten. Sie haben also im Grunde ihr bisheriges Lebenswerk einfach hingeschmissen und sind gegangen. Es handelte sich dabei nicht um einzelne Aussteiger, sondern um eine, wie sich dann später gezeigt hat, ungefähr sechsstellige Zahl von Menschen. Und ohne darüber zu reden: „Wie wird denn die Gesellschaft, in die ich will, mit meinen Rentenansprüchen und mit meinen Gesundheitskosten umgehen? Wird sie mich steuerlich gleich behandeln? Werde ich mal den gleichen Lohn kriegen, wie andere?“ All die Kernfragen, die jetzt im Grunde die Gesellschaft in Deutschland bewegen und zu heftigsten Auseinandersetzungen führen, die waren plötzlich zweitrangig gegenüber der Aussicht, aus dem Status der Unfreiheit in ein selbstbestimmtes Leben treten zu können. Das ist die große geschichtliche Erfahrung.

Das Problem war, dass wir in Ostdeutschland damals im Bereich der Opposition, also in der kirchlichen Opposition,  auch Strömungen hatten, die im Kern diese Ausreiseabsichten verurteilten und am liebsten die Ausreisenden aus Friedensgebeten und ähnlichen Sachen ausgeschlossen hätten, weil sie in irgendeiner Weise von diesem Republikflucht-Verdikt, was die DDR ausgesprochen hatte, berührt waren und sich im Kern der Meinung angeschlossen haben: „Wer hier weggeht, der übt Verrat.“ Das war es unter anderem, was mich persönlich von anderen oder von diversen anderen Oppositionsgruppen unterschieden hat und wo ich auch in keiner Weise mitgehen wollte. Heutzutage ist es so, dass man das ungern zugibt, dass man damals gesagt hat: „Wir wollen aber keine Ausreiser.“ Es gab also in Kirchen teilweise Plakate, wo drauf stand: „Ausreiser raus!“ – aber aus der Kirche und nicht aus der DDR. Genau das war es, was mich damals sehr abgestoßen hat und was mich auch in eine gewisse Isolation gebracht hat. Ich fühle mich als Bestandteil der uralten DDR Opposition. Warum? Weil ich eine bis Anfang der 70er Jahre zurückverfolgbare enge Kommunikation und enge Gemeinschaft gepflogen habe mit jedem, der damals eine DDR kritische Haltung eingenommen hat. Ich habe unter anderem damals hier in Ostdeutschland auch Reiner Kunze unterstützt, bei der Popularisierung seines Buches: „Die wunderbaren Jahre“. Das war im Übrigen meine letzte große organisatorische Aktivität hier in Dresden. „Die wunderbaren Jahre“ haben ihre letzte oder vorletzte Lesung, da bin ich nicht ganz sicher, im Turm der Drei-Königs-Kirche in Dresden, am Abend des 30. November zum 1. Dezember, erlebt. Das hatte ich organisiert, zusammen mit noch weiteren damaligen Kommilitonen. Das heißt also, ich bin immer in einem sehr engen Verhältnis und in einer sehr engen Korrespondenz mit der oppositionellen Szene in der DDR gewesen. Auch schon zu einem Zeitpunkt, als es die Initiative für Frieden und Menschenrechte und die vielen kirchlichen Gruppen überhaupt noch nicht gab und auch überhaupt noch nicht an sie zu denken gewesen ist. Ich habe das auch ziemlich teuer bezahlt. Demzufolge fühlte ich mich im Frühjahr 1989 selbstverständlich als eine Adresse der Opposition hier in Dresden und hatte auf der anderen Seite nicht den Idealismus, dass ich meinte die DDR verändern zu können. Insbesondere nicht nach den zwei einschneidenden Erlebnissen: Wahl und Niederschlagung der Demonstration auf dem Platz des himmlischen Friedens. Demzufolge gehörte ich von Anfang an auch nicht zu denjenigen, die an eine Reform der DDR glaubten. Ich war der Meinung, dass die Ausreisewelle der DDR ökonomisch den Hals brechen würde. Dass es also zu einem dramatischen Verlust von Kompetenz und von Eliten kommt und dass die Lebensfähigkeit, die ohnehin schon in Frage stand, der DDR Gesellschaft, ihrer Infrastruktur, ihres gesamten Überbaus, sich nach dem Herbst oder nach dem Jahreswechsel noch fragiler gestalten würde und dass man dann schließlich nicht umhin kommen kann in die Richtung zu reagieren, welche die Öffentlichkeit akzeptiert. Mir ist auch damals schon klar geworden, dass es in der Öffentlichkeit, das heißt bei den Leuten, die täglich zur Arbeit gingen und die nichts mit oppositionellen Kreisen und mit Rotwein-Gesprächen von Intellektuellen zu tun hatten, dass die seit Mitte der 80er Jahre zunehmend und intensiver von dem Glauben an die Stabilität dieses Staates abrückten. Sie nahmen eine viel rigorosere Haltung gegenüber der DDR ein, als die sogenannte DDR Opposition. Ich habe mich dieser Art von Betrachtung der DDR viel näher gefühlt, als der über Jahre tradierten Art und Weise der intellektuellen oppositionellen Gruppen über die DDR zu sprechen, wie beispielsweise in Berlin. Was mich nicht dran hinderte, mit denen zusammenzuarbeiten. Gleichwohl war es so und das ist die Wurzel in der Diskrepanz, die sich bis heute vollzieht, dass ich überhaupt zu keinem Zeitpunkt der Meinung war, dass es eine reformierte DDR überhaupt geben könnte. Meiner Ansicht nach war das ein Widerspruch in sich: „Wenn sie die führende Rolle der SED aufgeben, dann gibt es freie Wahlen. Wenn es freie Wahlen gibt, dann gibt es freie Angebote. Wenn es freie Angebote gibt, dann gibt es natürlich auch das Angebot, dieses Sonderstaatswesen einfach aufzugeben und das wird eine Mehrheit bekommen – wenn es nicht durch Waffengewalt erzwungen wird, dass es beim Status Quo bleibt.“ Genau das ist aufgegeben worden. Dieser Anspruch ist von Gorbatschow fallen gelassen worden. Damals gab es kein Halten mehr. Ich verstehe bis heute nicht, was etliche vernünftige Leute oder Leute, die sich besonders klug dünkten, da bewogen hat, diesen Fall einfach auszuschließen.

Zu Ihren persönlichen Gedanken zum Sommer 1989? Wie haben Sie den wahr genommen?

Ja, habe ich gerade gesagt. Es gab ja die Vorbereitung der Wahlen. Wir haben uns auf unsere Weise in kleinen kirchlichen Gruppen abgesprochen, dass wir in einzelnen Wahllokalen sein würden, dass die Ergebnisse dann zusammengefasst würden. Wir hatten Angst, dass man unter irgendwelchen Vorwänden einschreitet und uns dann vielleicht festhält oder interniert, das war ja alles möglich. Das ist der eine Punkt. Wir hatten dann nichts weiter als ein sarkastisches Lachen dafür übrig, was Krenz abends im Fernsehen sagte. Das hat gezeigt, dass wir auf diese Weise nicht weiter kommen. Die nächste Sache hab ich schon erwähnt, das hat man im Fernsehen ja erlebt, was auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattfand und wie unsere Obrigkeit darauf reagiert hat. Dann kam der Sommer, geprägt im Wesentlichen durch immer neue sich überschlagende Nachrichten über die Gestalt, welche die Fluchtbewegung inzwischen angenommen hatte. Das Thema Neues Forum und SPD etc. kam erst am Ende Ende September, diese Geschichten waren im Sommer noch nicht aktuell. Die Opposition in Berlin hat sich damals große Sorgen gemacht, dass sie überholt wird von den Dingen, die auf der Straße geschehen und dass man jetzt die großen Koryphäen, die sich sozusagen als Kritiker und als Oppositionelle über Jahre gefühlt haben, plötzlich bei der Revolution übergeht. Die Gefahr hatte man in Berlin ziemlich stark. Dann muss man auch noch sagen, dass es sicher durch persönliche Eitelkeiten dazu gekommen ist, dass sie dann nicht mal in der Lage waren, eine einheitliche Bewegung aus dem Boden zu stampfen. Stattdessen entstanden: „Demokratie jetzt“, „Neues Forum“, „Initiative für Frieden und Menschenrechte“, dann „Demokratischer Aufbruch“ usw. Ich vermute hauptsächlich auch deshalb, weil wir in Berlin viele hatten, die sich als Könige fühlten, aber nicht als Indianer, das heißt als Häuptlinge, aber nicht als Indianer. Ich will mal keine Namen nennen, aber Herr X und Frau Y konnten sich auf keinen Fall vorstellen, dass sie sich innerhalb einer Partei oder einer Bewegung der einen oder dem anderen unterordnen könnten. Aus dem Grunde brauchte jeder von den Großakteuren seine Partei. Das fand ich damals schon ein bedauerliches Zeichen von Eitelkeit und Verantwortungslosigkeit, weil es in der Situation darauf ankam, wirklich an einem Strang zu ziehen. Das ist es, was Dresden von Berlin unterscheidet.

Sie sagten vorhin, Sie haben teuer bezahlt für Ihre politische Haltung in der DDR. Können Sie dazu vielleicht noch etwas sagen?

1981 war ja der Fokus auf Polen gerichtet mit der Frage: Wie wird es mit Solidarnosc weiter gehen? Am 13. Dezember 1981 kam das Kriegsrecht in Polen. Man hatte nun die ganze Zeit im Sommer 1981 und ich glaube auch bis in das Jahr 1982 hinein Manöver veranstaltet. Manöver zwischen der NVA und den anderen Warschauer Pakt Staaten auf polnischem Boden. Ich habe damals den Entschluss gefasst, dass ich an solchen Aktionen nicht teilnehmen werde. Ich war Reservist und wurde dann im Herbst 1982 einberufen zu einem Reservistenlehrgang. Diese Einberufung habe ich abgelehnt. Daraufhin wurde ich zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt, saß dann in der Strafvollzugsanstalt Unterwellenborn und musste im Stahlwerk arbeiten. Das ist natürlich nun nicht das Problem. ‚Arbeit ist Arbeit‘, habe ich mir gedacht, aber es ist eben in der Tat so gewesen, dass ich Dinge erlebt habe, die heute nicht mehr vorstellbar wären. Das wäre ein Fall für den internationalen Gerichtshof, was man damals gemacht hat. Man hat Gefangene bewusst unter Arbeitsbedingungen arbeiten lassen, bei denen schwere Unfälle stattfinden müssten, weil die entsprechenden Maschinen in einem katastrophalen technischen Zustand waren und teilweise auch veraltet. Das führte dazu, dass wir alle drei-vier Wochen schwere bis tödliche Unfälle hatten. Das alles war also unter den Augen der Staatsmacht und unter den Augen der Polizei ein hinzunehmender Zustand dort. Ich glaube nicht, dass man es heute Ländern wie Uganda, Sudan, Indonesien oder Marokko durchgehen ließe, wenn sie solche Haftbedingungen kreierten. Das wäre ein Fall für den internationalen Gerichtshof und derjenige, der dafür verantwortlich ist, ob Justizminister oder sonst etwas, der müsste mit einer Verurteilung rechnen. Das war damals DDR Realität. Insofern habe ich also die ganze Geschichte aus dieser Perspektive kennengelernt. Ich wusste, im Gegensatz zu manchen, die 1989 gesagt haben: „Ah, jetzt interessiert es uns gar nicht mal, mögen sie uns einsperren“, was dahinter auf uns wartet, falls uns das widerfährt. Das ist nun schon eine etwas andere psychologische Vorbelastung, das muss ich mal sagen.

 Kam für Sie 1989 eine Ausreise in Frage?

Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aber meine Schwester ist mir zuvorgekommen. Meine Schwester hat 1988 einen Ausreiseantrag gestellt, der ist 1989 wegen einer beabsichtigten Heirat, die dann auch stattgefunden hat, genehmigt worden. Heute ist meine Schwester in Schweden. Meine Eltern haben schon ein Kind verloren, meine erste Schwester ist gestorben. Für meine Eltern war das eine sehr, sehr harte und schwerwiegende Tatsache, dass sie akzeptieren mussten, dass meine Schwester weggeht und dass sie sie möglicherweise nicht mehr sehen. Sie konnten ja nicht damit rechnen, dass im nächsten Jahr die Mauer fällt. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, jetzt als letztes Kind auch noch zu gehen. Die Vorstellung, dass meine Eltern in der Gewalt dieses Staates dann sind, dieser Gedanke hat mich überfordert. Es sind ja auch ältere Leute und die werden dann auch irgendwann gesundheitliche Probleme kriegen. Dann muss ich mir auch immer den Vorwurf machen, sie hier alleine gelassen zu haben und dann am Ende kann ich vielleicht überhaupt nichts dagegen machen, dass sie sterben, ohne dass sie mich jemals wiedergesehen haben. Dieser Gedanke hat mich überfordert. Demzufolge habe ich gesagt: „Ich habe sowieso schon eine Familie hier gegründet.“ Wir haben die Situation sortieren müssen wie sie ist. Die Konsequenz ist eben, dass ich jetzt hier bleibe. Ich habe mir allerdings schon von Anfang an überlegt, dass wir bei unseren Kinder dafür sorgen, dass die, wenn es soweit ist und die Situation sich nicht verändert hat, keinerlei Skrupel haben wegzugehen. Dafür haben wir auch Vorbereitungen getroffen.

Wie haben Sie die Ereignisse am Dresdener Hauptbahnhof und auf der Prager Straße persönlich erlebt?

Ich habe zunächst erstmal die Konstellation erfasst. Als es darum ging, dass die Züge von der Prager Botschaft nach Hof geleitet werden sollen, da war mir klar, dass dies über Dresden  stattfinden muss. Es gibt zwar noch ein Gleis über Plauen, was man auch hätte nehmen könnte, es gibt auch noch eins über dort bei Annaberg und Marienberg in der Ecke – aber das sind alles Kleinbahnen, heute sagt man „Regionalbahnen“, „Nebenanschlüsse“. Der einzige Haupt­anschluss, der wirklich schnell ist und wo man auch die entsprechende Logistik hat, um die Dinge zu überwachen, das war der Dresdner Hauptbahnhof. Aus dem Grunde kamen die Züge durch den Dresdner Hauptbahnhof und ich habe mir schon gedacht: ‚Freunde, es wäre doch mal höchst interessant zu gucken, was sich dort an dem Hauptbahnhof tut, wenn die Züge dort kommen.‘ So weit wie ich hätte denken müssen, habe ich nicht gedacht, später ist mir das natürlich klar geworden. Es ist ja so, die erste Räumung der Prager Botschaft ist reibungslos verlaufen, da gab es in Dresden am Hauptbahnhof keine großen Vorkommnisse. Das Problem war, dass das Politbüro nicht das Signal berücksichtigt hat, das sie mit der Leerung der Botschaft gegeben hat: Die Nummer Botschaftbesetzung funktioniert! Aus dem Grunde war die Botschaft am nächsten Tage nochmal so voll, wie sie vor der ersten Leerung gewesen ist. Nicht nur das, in ganz Ostdeutschland haben die Leute gesagt: „Die Botschaft zu besetzen, das funktioniert. Lasst uns sofort in die leere Botschaft gehen, dann kommen wir noch weg!“ Eine absurde Vorstellung: Ich muss von Berlin nach Prag, um von Prag wieder über Dresden in den Westen expediert zu werden. Das war die Überlegung. Das hat erst so richtig gezündet bei der zweiten Leerung, so dass es dann in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober zu den eigentlichen Auseinandersetzungen vor dem Hauptbahnhof gekommen ist. An der Stelle war ich auch dort. Ich hab meinen Trabant in der Nähe der Budapester Straße geparkt, ich glaube unterhalb der Brücke, welche die Budapester Straße dort über die Ammonstraße kreuzt. Dann bin ich zu Fuß zum Hauptbahnhof, weil sich die Menschenmenge zwar noch nicht staute, aber es ein reges Gedränge Richtung Hauptbahnhof gab. Das hab ich auch gemacht. Ich bin auch bewusst nicht mit der Straßenbahn gefahren, weil ich einfach mal gucken wollte, was sich da auch im Einzelnen vollzieht. Dann wurde das immer schwieriger weiter vorzudringen, da hatte sich eine riesige Menschenmenge gebildet. Dann sah ich, wie die Polizei dort mit Wasserwerfern rumspritzte, bzw. der funktionierte nicht und die Masse grölte und lachte. Dann funktionierte es doch mal und dann haben sie ein bisschen in die Massen reingespritzt. Ich weiß nicht, wann ich gekommen bin, ich würde mal sagen so ungefähr um 8 Uhr. Eher war ich nicht da, eher hatte ich keine Zeit. Dann habe ich also bemerkt, wie die Polizei und die sie belagernde Öffentlichkeit sich gegenseitig nicht direkt bedrängte, aber auf alle Fälle ging die Polizei etwas vor, die Öffentlichkeit wich zurück und dann ging es wieder von vorne los. Es war wie Ebbe und Flut. Um diese Ebbe- und Flutbewegung nicht mitzumachen, bin ich auf so einen kleinen Baum, auf so eine Eiche, die dort gestanden hat, hochgeklettert. Das hat mir dann die günstige Position verschafft hat, den unter mir stehenden Menschen sagen zu können, was vorne passiert. Die konnten das mit eigenen Augen nicht sehen, also zum Beispiel: „Jetzt kommen sie mit Schilden“, „Aber die schlagen nur auf die Schilde, die schlagen auf niemanden ein“, „Jetzt brennen sie hier drüben ein Polizeiauto an!“ und solche Sachen. Das habe ich dann auch gesehen, das ist die Situation gewesen. Ich habe da oben aber eine relative Ruhe gehabt und mit dem Wasserwerfer sind sie auch nicht näher als bis an den Stamm unten herangekommen. Ich meine, sie hätten mal ein bisschen höher halten können, aber vielleicht haben sie mich nicht gesehen oder nicht so weit treffen können, das weiß ich nicht. Ich hatte mich also schon festgeklammert und wenn ich ein bisschen nass geworden wäre, dann wäre das auch nicht weiter schlimm gewesen. Den Baum hätten sie nicht umgekriegt. Ich habe mir nur um eine Sache Sorgen gemacht, dass die den Platz um den Hauptbahnhof vielleicht ganz und gar räumen, indem sie wirklich mit schwerem Gerät kommen und ich auf einmal als einziger dort oben auf meinem Baum im geräumten Gelände übrig bleibe. Das war die große Frage, aber ansonsten habe ich dort oben so eine Art Kriegsberichterstattung gemacht.

Da ist es dann auch gewesen, als dieses Gerücht plötzlich aufkam. Das habe aber nicht ich aufgebracht, ich hab es nur vernommen, als man dann plötzlich unten auf den Straßen sagte: „Wir werden alle gefilmt.“ Dann hab ich hoch geschaut. Mir war die Sicht versperrt wegen des Blattwerks vom Baum und ich habe zur anderen Seite geguckt, nicht zu der Seite vom Hotel Newa. Als ich mich dann mal ein bisschen befreite, also als ich die Sicht ein bisschen freigemacht hatte, dann sah ich tatsächlich, dass oben am Newa1 alles voller Videogeräte ist. Ich meine, wer hatte schon Videogeräte? Wir hatten keine, jedenfalls ich hatte keins. Die waren höchstwahrscheinlich „zentral beschafft“ worden, wie man das damals so nannte. Mit anderen Worten, das ist Staatssicherheit gewesen. Die haben diese ganze Sache gefilmt. Dann war klar, die werden natürlich versuchen, die Gesichter ausfindig zu machen und dann holen die die bis Weihnachten alle einzeln, sukzessive aus dem Produktionsprozess raus. Die kommen dann in ein großes Internierungslager. Die Geschichte, dass die Internierungslager vorbereitet werden, das war damals durchgesickert, das war nichts Neues. Das war ja eine der großen Sachen, welche die Leute dazu brachte, nicht mehr zurückzuweichen, weil sie dachten: ‚Halt, wenn wir jetzt zurückgehen, dann schnappt die Falle zu und dann macht man das tatsächlich, dann interniert man uns tatsächlich.‘ Ich glaube, dass das eigentlich der Anstoß war für die Not, in die die Stadt Dresden oder die Menschen in Dresden geraten mussten, um bereit zu sein, sich gegenseitig zu unterstützen bei der Selbsthilfe. Die Selbsthilfe war die, dass man sich dann gesagt hat: „So, jetzt gehen wir jeden Tag auf die Straße, weil wir das nicht hinnehmen, dass aus unserer Familie, aus unserem Freundeskreis dieser eine raus­gezogen wird, der gestern oder die gestern bei der Demonstration war. Um den zu schützen gehen wir morgen und übermorgen alle auf die Straße, dann können sie uns alle holen.“ Dass man das sagen konnte, das ist wirklich irgendwie faszinierend und deutet irgendwie auf höhere Mächte hin, wie die Dinge zu einander gegriffen haben.

Es war nun ausgerechnet noch in den Tagen vor dem 40. Jahrestag der DDR. Wir wussten ganz genau: Selbstverständlich wollen die gerne zuschlagen, die Staatsmacht, aber nicht im Vorfeld des 7. Oktober. Das ist auch eine Angelegenheit, die heute in Vergessenheit geraten ist, diese einzelnen Staatsfeiertage. Sagen wir es mal so: Die Substitute der kirchlichen Feiertage, die sich die sozialistische Gesellschaft geschaffen hatte – 100. Geburtstag Lenins, 30. Geburtstag der DDR, 40. Jahrestag der SED und ähnliche Dinge – die traten an deren Stelle. Das sind im Grunde die neuen heiligen Tage gewesen, die neuen heiligen Gedenktage. Die Periodisierung der politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten war auf diese Jahrestage ausgerichtet. Das heißt, es war undenkbar, dass der 40. Jahrestag mit irgendwelchem unangenehmen Beiwerk befleckt werden könnte. Das gab den Leuten ein zusätzliches Quäntchen Mut und ein zusätzliches Argument, dass es möglich ist, die wenigen Tage, die vom 3. – 7. Oktober noch da waren, zu nutzen, um zu zeigen, wofür und wogegen man ist. Dann war die große Frage: Was passiert am ersten Tag nach dem 7. Oktober?

Jetzt kommt eben auch meine These, von der ich sicher bin, dass sie sich durchsetzten wird gegenüber allem, was sonst noch dazu gesagt wird. Wenn man fragt, wo der Initialakt stattgefunden hat für den Durchbruch dieser Blockade zwischen Öffentlichkeit und Staat, dann ist das die Stadt Dresden. Aus dem ganz einfachen Grund: Mit großem Recht können auch die Plauener für sich in Anspruch nehmen, schon zu einem frühen Zeitpunkt  gegen die Staatsmacht demonstriert zu haben, keine Frage. Das war am 7. Oktober. Am 7. Oktober selbst hätten die Sicherheitskräfte für ein wirkliches Massaker niemals grünes Licht bekommen, das wussten alle, auch die Plauener. Das heißt, das ist die letzte Veranstaltung, die noch unter dem Schutz des 7. Oktober gestanden hat. Am 8. Oktober ist die Gruppe der 20 gegründet worden. Ich bin zu dieser Demonstration zu spät gekommen, muss ich ganz klar sagen. Ich meinte, dass es am Abend dann richtig interessant würde. Wir kamen an diesem Tag aus Rudolstadt, weil ein Freund von mir dort geheiratet hatte. Wir kamen etwa um 7:00 Uhr an. Ich bin sofort zur Prager Straße gegangen und hab dann aber nur noch gesehen, wie sie alle dort abzogen, aber habe mir noch erklären lassen, wie die Kesselstrukturen da gewesen sind. Dann hat man mir gesagt, man hätte eine Abordnung gebildet und morgen und übermorgen würde dann drüber beraten, wie die miteinander ins Gespräch kämen. Damit war ich natürlich sehr zufrieden. Ich habe das also wirklich als einen Durchbruch betrachtet. Ich habe gedacht: ‚Leute, es wird vielleicht doch nicht ganz so schlimm, wie ich befürchtet hatte.‘ Natürlich ist der nächste Tag in Leipzig ganz bestimmt der vollständige Durchbruch gewesen, also sagen wir mal vom Riss der Plazenta bis zur Geburt, so ungefähr. Wenn am 8. Oktober in Dresden die Armee zugeschlagen hätte und wir hätten, sagen wir mal, 30 Tote und vielleicht 10.000 Inhaftierte gehabt, das wäre ungefähr die Größenordnung gewesen, mit der man hätte rechnen müssen. Dann wäre am nächsten Tag die Demonstration in Leipzig, wenn sie überhaupt stattgefunden hätte, um eine Zehnerpotenz kleiner ausgefallen. Mit der wäre man dann mit der altbekannten Rigorosität zuverlässig fertig geworden, das muss man wissen.

Demzufolge ist Dresden selbstverständlich der Ort, wo zwei Dinge stattgefunden haben: Erstens hat die Öffentlichkeit ohne Bevormundung durch irgendwelche Oppositionsgruppen oder sonst etwas von sich aus die Initiative übernommen und in Gestalt der Gruppe der 20 eine Struktur vorgelegt, mit der man zumindest über die nächsten Wochen kommen konnte. Die Gruppe der 20 war nicht geplant von irgendwelchen kirchlichen Oppositionsgruppen, sie existierte auch außerhalb der Struktur des Neuen Forums. Zweitens hatte man eben diesen Punkt überwunden, von dem Windschatten des 7. Oktober in die offene Schlacht der Zeit nach dem 7. Oktober zu treten. Deshalb ist die Stadt Dresden aus meiner Sicht so eine Art archimedischer Punkt dieser Revolution. Bis Dresden hat Sisyphus den Stein nach oben gewälzt und im Gegensatz zu seiner Legende hat er ihn in Dresden tatsächlich über den Kamm weggeschubst.

Ich möchte ganz kurz nochmal auf das Detail mit der Kamera zurückkommen. Die Gewalt, die von den Kameras im Hotel Newa ausging, war die größer als die Gewalt der Sicherheitskräfte?

Ja, das kann man nicht vergleichen. Selbstverständlich hat jemand, der jetzt plötzlich einen Knüppel abgekriegt hat oder ausgerutscht ist oder mit dem Wasserwerfer irgendwie in Kontakt gekommen ist, irgendwelche Blessuren davon getragen. Derjenige, der also mit der Polizei direkt in Kontakt gekommen ist, der hat möglicherweise blaue Flecken davongetragen. Der hat sich meinetwegen auch furchtbar erregt und konnte vielleicht tagelang nicht schlafen. Das ist die eine Situation. Die andere Situation ist aber, dass die Kameras wesentlich nachhaltiger und auf wesentlich mehr Menschen gewirkt haben. Die Menschen ja nicht da hingekommen, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, um eine Revolution zu machen, sondern sie sind hin gekommen, weil sie so etwas noch nicht gesehen hatten auf den Hauptbahnhof. Die hatten so etwas einfach noch nicht gesehen und wollten mal gucken, was da abläuft. Die hatten natürlich schon ihre Meinung zu dem ganzen Thema, aber dass das jetzt der Tag sein würde, wo auf einmal in der Geschichte weitergeblättert würde, das war den wenigsten klar. Die hatten mit ihrem Dortsein den Schutz der Anonymität verlassen. Auf einmal waren die Kameras das Indiz dafür, dass sie diesen Schutz der Anonymität,  sozusagen die Kulisse, ein Punkt in der Masse zu sein, nicht mehr fanden. Das ist jetzt der Punkt. Damit sind sie abends ins Bett gegangen, damit haben sich ihre Alpträume beschäftigt und damit haben sie am Morgen darauf ihre Kollegen konfrontiert.

Wie kamen Sie in die Gruppe der 20?

Es ist erstmal so, ich hatte Ihnen ja eingangs gesagt, dass ich mich Ende der 80er Jahre in einer gewissen Isolation fühlte, weil ich mit den politischen Entwürfen, die die Opposition in Berlin ausgebrütet hat, kaum einverstanden sein konnte und weil ich auch teilweise den Idealismus nicht teilte, den gewisse Kirchengruppen an den Tag gelegt haben. Ich war der Meinung, dass es überhaupt keine Zukunft für dieses System gibt. Für mich gab es nur noch die Frage: Wieviele schützenswerte Dinge reißt es mit, wenn die ganze Geschichte umfällt, in sich kollabiert? Das ist sozusagen ein Standpunkt, der sich bei mir 1988/1989 so rausgebildet hat. Das ist der erste Punkt. Daraus folgt jetzt meine Zögerlichkeit im Herbst 1989. Ich wurde natürlich oft angerufen von Bekannten aus Berlin, ich erinnere mich an ein konkretes Telefonat mit dem Reinhard Schult nach den Auseinandersetzungen am Hauptbahnhof. Ich habe ihm am nächsten davon Tag berichtet und der Reinhard Schult sagte: „Jetzt musst du aber beim Neuen Forum mit machen“, darauf hin meinte ich: „Ich teile das, was in dem Papier steht nicht. Es ist zwar richtig, das spannt einen bestimmten Rahmen auf und es ist auch ganz klar, wir wollen einerseits dies nicht und wir wollen anderseits das nicht. Klar ist aber auch, dass es auf die Dauer kein Genügen in negativen Auffassungen gibt. Irgend wann muss man sagen, was man will. Die Möglichkeit, zu sagen was man will, bietet schon überhaupt die gegenwärtige Personalstruktur des Neuen Forums überhaupt nicht.“ Das heißt also, mit anderen Worten, ich kann mir den Gedanken machen, dass ich jetzt einfach auf deren Seite trete, aber ich weiß schon jetzt, dass es tiefgreifende politische Unterschiede geben wird. Da hat er zu mir gesagt: „Du kannst eine Sache nicht machen, du kannst nicht jahrelang sagen, wie entschieden du diese DDR als ein unnormales Gebilde, die politische Situation ablehnst, Schriftstücke verfasst, Briefe schreibst, in der Samistad-Presse dort deine Meinung zur DDR kundtust und wenn es ernst wird, machst du Urlaub.“ Das geht natürlich nicht. Da fühlte ich mich schon angesprochen. Also den Eindruck, dass ich mich aus Feigheit zurückzog, den wollte ich nicht aufkommen lassen, weil es auch nicht so war und weil ich im übrigen auch schon teilweise mehr investiert hatte, als mancher aus der DDR. Demzufolge habe ich mir gesagt: „Okay, du gehst jetzt da hin.“ Daraufhin habe ich mir einige Adressen rausgesucht, Kontaktadressen, an die konnte man herankommen damals. Die sind auf vielfältigste Art und Weise geschrieben und in den Briefkasten gesteckt worden. Jedenfalls bin ich dann zu der Catrin Ulbricht und zu dem Dieter Reinfried gegangen, habe mich vorgestellt und habe aber gleichzeitig sofort neben der ständigen Teilnahme an den Zusammenkünften des Neuen Forums Kontakt zur Gruppe der 20 aufgenommen und meine Mitarbeit angeboten. Ich war ja nicht Mitglied der Gruppe der 20 der ersten Stunde, ich kann mich auch an das genaue Datum nicht mehr erinnern. Ich glaube, es war schätzungsweise am 10.-15. Oktober, als ich meine Unterlagen – Dinge, die ich geschrieben habe; Artikel, die ich verfasst hatte; biografische Aussagen usw. – an die Beate Mihaly gegeben habe. Die Beate hat das weitergegeben und dann wurde ich angesprochen, ob ich bei der Arbeitsgruppe Recht bereit wäre teilzunehmen. Vorher bin ich schon mal in der Kreuzkirche aufgetreten. Dieser Auftritt in der Kreuzkirche muss kurz vor dem Rücktritt von Honecker gewesen sein, also am 19. Oktober und da wurde ich schon mit denen bekannt. Vorher hatte ich das aber schon der Beate Mihaly gegeben und wurde von der Gruppe der 20 in die Gruppe Recht gebeten. Das war auf Zuruf. Man kannte sich gegenseitig nicht, ich kannte von der Gruppe der 20 niemanden, bis auf den Herbert Wagner, den ich mal irgendwie so am Rande zur Kenntnis genommen hatte während des Katholiken-Tages. Daraufhin habe ich in dieser Gruppe Recht mitgearbeitet. Wir haben uns im Rathaus getroffen, ich lernte Steffen Heitmann kennen und Walther Siegmund. Eine Frau aus dem Landeskirchenamt kam noch hinzu, dann später noch der Jürgen Bönninger und andere. So hat das dann angefangen. Ich hab mich dann immer quasi als Klammer zwischen dem Neuen Forum und der Gruppe der 20 verstanden. Weil ich jetzt in einer Unterstruktur der Gruppe der 20 drinnen war, bekam ich mit, was die machten und hatte auch dort im Grunde immer Zugang zu den Sitzungen, die der innere Kreis veranstaltete. Auf der anderen Seite konnte ich denen berichten, was sich an der Logistik am Neuen Forum tut und umgekehrt konnte ich das auch machen. Beide Seiten wussten, dass ich für beide Seiten tätig war.

Die Historiker müssen das später mal auswerten, aber ich halte es aus heutiger Sicht für eine der ganz wesentlichen Dinge, die Dresden von anderen unterscheidet: Wir haben eben nicht gegeneinander gearbeitet. Was wir dann an gegeneinander zwischen den einzelnen oppositionellen Gruppen in Leipzig, in Chemnitz und in Berlin festgestellt haben, hat in Dresden niemals stattgefunden. Auch nur deshalb, weil es Leute gegeben hat, zu denen ich mich auch zähle, die dafür gesorgt haben, dass die Leute, die sich jetzt für eine Veränderung der politischen Bedingungen hier im Osten einsetzen, an einem Strick in dieselbe Richtung ziehen. Das ist Dresden und das ist das Geheimnis des Erfolgs von Dresden, was lange angehalten hat. Da rechne ich mir schon eine gewisse Mittäterschaft zu. Es ist dann auch dazu gekommen, dass die Demonstrationen in eine stärker strukturierte Phase getreten sind, dass es dann jeden Samstag absprachen gegeben hat und dass an diesen Absprachen alle beteiligt waren. Es ist nicht so gewesen, dass beispielsweise die SPD ihr Eigenes gemacht hätte und die Gruppe der 20 ihr Eigenes und das Neue Forum und Demokratischer Aufbruch. Nein, die waren alle zusammen, es ist jeder zu Wort gekommen. Wir haben auch immer dafür gesorgt, dass es keine Dominanz irgendeiner Gruppe gibt, sondern dass die anderen auch was zu sagen haben. Ich glaube dieses Kooperationsmodell Dresden hat dann wirklich dazu geführt, dass Dresden auch nach und nach zu dem Ort wurde, wo über die bloße Frage der Reform des Status Quo, bei gleichzeitiger Beibehaltung des Kernes dieses Status Quo, hinaus gedacht wurde.

 Die Gruppe der 20 war ja quasi schon am ersten Tag nach ihrem Entstehen keine homogene Gruppe mehr, wie haben Sie das erlebt?

Ich muss mal sagen, ich habe ja noch große Bewunderung für die Gruppe der 20. Es sind unterschiedliche Leute gewesen, sie hatten völlig unterschiedliche Vorbildung, also total unvergleichbare Vorstellungen von dem, was werden soll. Wir sind im Wesentlichen unter dem Druck einer äußeren Situation zusammengekommen und haben uns dort, finde ich, auch sehr solidarisch zueinander verhalten. Es ist nicht zu erbitterten Grabenkämpfen gekommen, wir hatten ein paar Nichtigkeiten, aber sonst ist es nicht dazu gekommen. Diejenigen, die dann eben meinten, dass das nicht ihr Weg ist, die sind ausgeschieden. Ich muss mal sagen, Leute, wie der Superintendent Ziemer und Uta Dittmann und andere, die haben auch dafür gesorgt, dass man denen das nicht negativ anrechnete, sondern dass man sagte: „Okay, es führt nicht jedermanns Weg zwingend in die Politik und wenn man das merkt, dann ist es richtig, wenn man frühzeitig sagt: ‚Ich hab das jetzt mal kurz gemacht, aber jetzt möge mal jemand anders die Zügel in die Hand nehmen.’“ Auf diese Weise ist es zum ständigen Austausch von Personal gekommen. Die Gruppe der 20 war bemüht, immer die 20 wieder aufzufüllen.

Irgendwann bin ich auch angesprochen worden, das mitzumachen. Das war für mich insofern ein bisschen ein Problem, weil ich ja Mitglied des Neuen Forums war und die anderen eher nicht. Aber dann stellten wir fest: „Moment mal, die Abgrenzung zu anderen Parteien ist auch nicht gegeben. Wir habe hier CDU-Leute drin. Wieso eigentlich nicht?“ Dann hatten im Wesentlichen der Herbert Wagner und die Uta Ditmann dann durchgesetzt, dass ich dann offiziell gefragt wurde, ob ich beitreten will und dann auch aufgenommen wurde. Wann das genau war, das weiß ich gar nicht. Irgendwann im Dezember erst. Für mich hat sich aber dadurch nichts geändert, das muss ich sagen. Ich war vorher schon eingebunden  in den Führungskreis der Gruppe der 20, in die regelmäßigen Sitzungen. Im Kern ist es ja so gewesen, dass die Beratungstätigkeit oder die Ergebnisse der Beratungstätigkeit meistens einschneidender waren, als die Ergebnisse der Beschluss-Runden der Gruppe der 20 an sich. Die eigentlichen Themen: Wie weit man gehen kann, was man mit welchem Personal vortragen kann, was variabel ist und was als unveränderlich erstmal zu gelten hat usw., das ist in diesen Berater-Runden beredet worden. Eine ganz wichtige Funktion hatte die Uta Ditmann an dieser Stelle, weil die Uta Ditmann diejenige war, die in der Lage sein musste, die Ergebnisse der Gruppe der 20 der Öffentlichkeit vorzutragen. Dazu hatte sie eine Auseinandersetzung zu bestehen in ihrer Redaktion. Sie hatte auch genau abzuwägen, wie die Öffentlichkeit das jeweils beurteilen möge. Ich bin der Meinung, dass die Uta Ditmann in ihrer wirklichen Rolle, die sie 1989 gespielt hat, auch zur Stabilisierung und zur politischen Stärkung dieser Gruppe der 20 beigetragen hat. Das ist nicht annähernd tief genug erörtert worden. Ich glaube, dass das eine absolute Schlüsselperson in der Stadt Dresden gewesen ist mit der Union zusammen, die sie damals im Grunde zu einem Blatt gemacht hat, was sich dieser Bewegung unter unsäglichen Schwierigkeiten anschloß. Das ist zum Beispiel eine Angelegenheit, die muss einfach wieder zur Sprache kommen.

Ich habe gesagt, ich wäre der Gruppe der 20 nicht beigetreten, wenn ich diese Klammerfunktion zwischen Neuem Forum und überhaupt zwischen oppositionellen Gruppen dadurch hätte aufgeben müssen und zur Vertretung einer Partikularkraft dort geworden wäre. Das genau ist ja nicht eingetreten. Es war dann erst eine neue Entscheidung notwendig, als wir durch alle Fegefeuer der Erneuerung hindurch waren und uns in Etappen klar wurde, dass die Sache jetzt funktionieren wird. Die nächste Etappe war die erfolgreiche Besetzung des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, wie immer auch die Staatssicherheit selbst ihre Hände dabei im Spiel gehabt haben mag. Als nächstes der Kohl-Besuch in Dresden, der vollkommen anders verlief, als sich das Modrow erwünscht hatte. Modrow wollte Kohl zeigen, wie sehr ihn die Bevölkerung in Dresden liebt. Das sollte den Kohl so einschüchtern, dass ihm nichts weiter übrig bleibt, als der DDR kräftig unter die Arme zu greifen und Modrow als Regierungschef zu akzeptieren. Als die Bevölkerung von diesem Kohl-Besuch hörte, da war Modrow vergessen, eine Randfigur. Die Bevölkerung hat von Kohl erwartet, dass er tatsächlich den Wunsch nach Wiedervereinigung aufnimmt und Kohl hat es gemacht. Ich bin heute der Meinung, es wäre leichter gewesen, die Zweistaatlichkeit durchzusetzen. Wenn der damalige Bundeskanzler zur Frau Thatcher, zu Francois Mitterrand und zu Gorbatschow gegangen wäre und gesagt hätte: ‚Ihr wollt doch nicht ernsthaft, dass jetzt dieser alte Koloss Deutschland wieder entsteht, ich als der Bundeskanzler will es auch nicht, jetzt helft mir bitte dabei, das zu verhindern.‘ Dieser Konstellation wäre es gelungen, die Wiedervereinigung zu verhindern. Noch ein Satz: Von Weizsäcker aus der CDU bis zu Lafontaine aus der SPD hätte ich fast keinem Politiker der damaligen Zeit zugetraut, die Wiedervereinigung zu erreichen. Ich hätte keinem zugetraut, die Wiedervereinigung zu erreichen, außer diesem Bundeskanzler. Ich bin fest davon überzeugt, dass Leute wie Lafontaine, Vogel, Weizsäcker und vielleicht auch der damalige Außenminister Genscher – man kann das im Nachhinein nicht beweisen, das ist eine persönliche, subjektive Vermutung von mir – nicht diesen Weg gegangen wären, den Kohl gegangen ist. Demzufolge hätte es auch eine Wiedervereinigung nicht gegeben, sondern eine Art Österreich-Lösung. Allerdings mit dem Unterschied zu Österreich, dass das jetzt schon genug Personen verliert. Wir verlieren in Ostdeutschland rapide an Bevölkerung, aber der Bevölkerungsverlust wäre in Dimensionen vielleicht in einer Zehner Potenz höher geworden, wenn es diese Österreich-Lösung für uns gegeben hätte. Das hätte bedeutet, dass die Angleichung an den Lebensstandard des westlichen Europas uns nicht gelungen wäre. Wir hätten heute das Niveau unserer östlichen Nachbarn und nichts anderes. Das ist eben verhindert worden. Der 19. Dezember ist definitiv der Schlüsseltag gewesen. Der 19. Dezember war meines Erachtens der Durchbruch zur deutschen Wiedervereinigung, zumindest das Signal, dass die Interessenlage der Ostdeutschen und die politischen Absichten von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl gleich gerichtet sind.

Dann gibt es hinterher noch eine Phase, die meines Erachtens zu wenig im öffentlichen Bewusstsein ist. Es gab dann noch einen Versuch einen Rollback zu erzeugen. Wir reden einerseits ja über die Etappen, die dazu geführt haben, dass die Sache irreversibel wurde. Wir reden aber zu selten über die Versuche, einen Rollback zu organisieren oder zu erreichen. Die hat es auch gegeben. Der wichtigste Versuch, einen Rollback zu erreichen, war der Brief für unser Land, den Christa Wolf und Stefan Heym geschrieben haben, der sozusagen der politische Counterpart zu dem Zehn-Punkteprogramm von Kohl gewesen ist. Der hat nicht verfangen, obwohl die Reaktion, die in Folge diese Briefes eintreten sollte, logistisch mit der selben Perfektion schon geplant war, wie das bei allen großen Aktionen auch zu DDR-Zeiten gewesen ist. Es lagen in allen Betrieben Unterschriftenlisten aus, in die man sich eintragen konnte, wenn man dem Inhalt dieses Briefes zustimmen wollte. Es gingen die Leute wieder durch die Betriebe, die sich in der letzten Zeit schamhaft verborgen hatten, nämlich diejenigen, die den Belegschaften sagten, wo sie sich am 1. Mai einzufinden hatten, wer Fähnchen und wer Transparente trägt usw. Die waren still geworden in der ganzen Herbstzeit, die standen plötzlich wieder da mit den Unterschriftenlisten, wo man erklären konnte, dem Brief für unser Land beizutreten. Der Brief war insofern gefährlich, als er eine Reihe von Initiatoren hatte, die vorher als Oppositionelle gegenüber dem Regime eingeschätzt wurden. Insbesondere Stefan Heym, dessen Bücher „Collin“, „5 Tage im Juni“ „Der König David Bericht“ oder Ähnliches, die lange Zeit also so eine Art  Hoffnungssignal für kritische Ostdeutsche gewesen sind. Es haben damals auch Leute wie Sebastian Flugbeil und die Ulrike Poppe mit unterschrieben. Das heißt also, mit anderen Worten, die Gefahr, dass wirklich dieser Brief zu einer Art Plebiszit für den Fortbestand der DDR würde, das war nicht auszuschließen. Das ist der erste Schritt. Dann kam der zweite Versuch, den Rollback einzuleiten.

Das war meines Erachtens die Besetzung der Staatssicherheit, weil ich von der ziemlich sicher bin, dass es durchaus von der Staatssicherheit oder mindestens von der SED unter Einbeziehung gewisser Teile des MfS vorbereitet worden ist.  Als der Schwanitz2, der damalige Chef des Amtes für Nationale Sicherheit, am nächsten Tag nach der Besetzung der Staatssicherheit in Dresden ein Interview oder eine Pressekonferenz gegeben hat, da sagte er, dass es viele Verletzte gegeben hätte unter den Angehörigen des Ministeriums, in Cottbus und in Dresden. Ich selbst habe die Pressekonferenz gar nicht gesehen, aber schon Stunden später erschien bei mir eine Journalistin Namens Tamara Jones von der Los Angeles Times. Die fragte mich, wo die Verletzten seien, die in Dresden zu beklagen sind. Da sag ich: „Ich weiß nichts von Verletzten“, worauf sie erwiderte: „Das ist ja interessant“, sie sei eben in Cottbus gewesen und wollte Verletzte besuchen, dort seien auch keine gewesen. Daraufhin habe ich Hillenhagen3 gefragt, der damals als Chef der Regierungs­dele­gation hierher kam: „Schwanitz sagt, sie haben hier Verletzte zu beklagen. Wieviele sind das? Wir müssen sofort dazu eine Presseerklärung abgeben“, da sagte er: „Ich weiß überhaupt nichts von Verletzten, wenn aber Schwanitz so etwas sagt, dann hat er es offenbar ganz absichtlich gesagt, weil es möglicherweise geplant war.“ Ich glaube in der Tat, dass man an diesem Tag umschalten wollte, von einer gewaltlosen in eine etwas andere Phase. Der Vorwurf sollte erhoben werden, das Neue Forum und diese neuen politischen Kräfte gehen gewaltsam gegen Staatsorgane vor, also hat der Staat das Recht sich zu rächen. Das war meines Erachtens die reale Gefahr und die ist durch die Vernunft der Bürger in Dresden unterbunden wurden.

Ich muss auch sagen, die Situation auf der Bautzner Straße war äußerst kritisch. Ich selber habe dann das erste Mal wirklich die Empfindung gehabt, dass wir uns in einer großen Gefahr befinden und bin demzufolge runter gegangen, wo die Leute auf den Hof der Staatssicherheit gestürmt sind. Da habe ich dann gesagt: „Bitte verlasst mal für ein paar Minuten den Raum, wir bekommen sonst möglicherweise Probleme, weil die Staatssicherheitsleute nervös werden.“ Ich hatte kein Mikrofon. Herbert Wagner hatte so ein Megafon, aber das funktionierte nicht, also musste ich nur auf die Stimme vertrauen und hab mir fast die Lunge aus dem Leib geschrien. Dann ist mir der entscheidende Satz eingefallen, für den ich heute noch dankbar bin: „Und im Übrigen, die Sache muss ohne jede Gewalt vor sich gehen und achtet alle auf eure Nachbarn. Derjenige, der Gewalt ausübt oder andere zur Gewalt anstachelt, ist ein Stasimann, daran erkennt ihr sie.“ Ich bin auch heute noch der Meinung, dass das mit dazu beigetragen haben könnte, dass möglicherweise Planspiele, dort gezielt Provokateure einzusetzen, die dann so zu sagen Übergriffe provozieren als scheinbare Mitglieder der Bürgerbewegung, gar keine Chance hatten. Das war das Ziel der Überlegung. Das ist der zweite Versuch eines Rollbacks gewesen.

Der dritte Versuch eines Rollback war, als zwischen Weihnachten und Neujahr 1989 plötzlich Demonstrationen von 150.000 Menschen in Berlin stattfanden, diesmal von regimetreuen Kräften. Die demonstrierten für die Wiedererrichtung des MfS. Die sagten das nicht so, sondern: „Wir brauchen einen Verfassungsschutz.“ Grund war, dass man irgendwelche Schmierereien in dem Ehrenmal von Berlin-Treptow entdeckt hatte. Jetzt kommt die interessanteste Sache: Diese Geschichte, dieser Rollback -Versuch ist zum ersten Mal zurückgewiesen worden, nahezu ohne jede Beteiligung der sogenannten Bürgerbewegung, also der neuen politischen Partei. Die waren am Runden Tisch beschäftigt unter Haufen von Papier, mit welchen man sie mit Arbeit versorgt hatte. Die waren teilweise mit absurden Entscheidungsfragen betraut, wo sich die Öffentlichkeit an den Kopf griff, ob das jetzt wirklich an der Tagesordnung sein müsste.  Währenddessen wurden sie ganz genau und Tag für Tag darauf hingewiesen, dass offene Grenzen auch offene Einfallstore für Rechtsradikale und dergleichen bedeuten. Eine Argumentation, die linear und stringent auf die Vorbereitung  dieses durch das Treptower Ehrenmal initiierten Rollback-Versuches hin lief. Unbemerkt, auch ohne dass die Opposition das irgendwie pariert hätte, ging das also über die Bildschirme. Dann fand es zwischen Weihnachten und Neujahr statt, in einer inaktiven Phase, wo man nicht reagieren kann. Dieser Versuch ist als erstes durch Streiks zurückgewiesen worden, der einzige. Die Öffentlichkeit hat sich zu der Zeit völlig von den Oppositionellen emanzipiert, sie hat überhaupt nicht mehr hingehört, was die sagen. Die meinten: „Also jetzt wollen die die Staatssicherheit wieder installieren und jetzt werden wir nicht mehr arbeiten.“ Es gab damals dutzende und aber dutzende spontane Streiks, die diesen Versuch, einen Verfassungsschutz  aus der Staatssicherheit zu machen – resultierend aus der Beschmierung des Ehrenmals – im Keim erstickt haben. Das hat auch endlich dann dazu geführt, dass die Berliner Opposition über einen Monat später im Vergleich zur Provinz dann endlich mal geschnallt hat, dass die Berliner Normannenstraße noch übrig war, dass die Berliner Normannenstraße das Zentrum der Staatssicherheit war und dass man die Arbeit dieser Institution beenden musste. Aus dem Grund ist sie dann besetzt worden. Auch hier glaube ich, dass die Partei selbstverständlich die Hände mit im Spiel hatte und ich bin im Übrigen auch ziemlich sicher, dass die Aussage von Berghofer nicht aus der Luft gegriffen ist, wonach Modrow darauf erpicht war, die Stasi als Buhmann zu erhalten, um die Partei aus der Schusslinie zu nehmen.

Als der dritte Rollback-Versuch gescheitert war, ging es dann nur noch um eine Frage: Wie werden die Wahlen, die freien Wahlen, vorbereitet? Ich muss auch jetzt mal so sagen, im Bezug auf den staatsrechtlichen Übergang vom sozialistischen System zu einem System des offenen politischen Wettbewerbes, wie wir es jetzt haben, da war Dresden Vorreiter. Wir haben am 14. November bereits Termine gefordert für eine Kommunalwahl, für eine Landtagswahl und für eine – falls es noch nötig ist und auch das ist nachlesbar in der Zeitung – Volkskammerwahl. Allerdings in einer Reihenfolge, die sich als nicht durchhaltbar erwiesen hat, aber immerhin. Der 7. Mai als Termin für die neue Kommunalwahl stammt aus Dresden. Es ist am 14. November von der Bühne gesagt worden. Ich durfte derjenige sein, der das verkündet. Das war eine ganz wichtige Sache. Freie Wahlen bedeuten, dass wir den systematischen Weg gegangen sind. Es gibt keine freien Wahlen, wenn in der Verfassung die führende Rolle einer Partei festgeschrieben ist. Wenn bei uns in Bundesrepublik die führende Rolle der SPD in der Verfassung stünde, bräuchten wir keine Kanzlerwahlen mehr machen, dann wäre die Sache entschieden. Bei uns stand eben die führende Roll der SED. Wenn man freie Wahlen will, muss man erst den Artikel 1 streichen. Dafür ist in Dresden demonstriert worden. Als er dann gestrichen worden ist, wurde als nächstes gesagt: „So, jetzt kommt Schritt zwei, freie Wahlen.“ Diese saubere, rational einleuchtende Vorgehensweise ist ein Gesamtwerk von allen, die hier in Dresden beteiligt waren. Wir haben damit im Grunde wirklich auch ein Stück des Fahrplanes mit erarbeitet, der dann für ganz Deutschland gültig geworden ist. Dann ging es nach dem letzten Rollback-Versuch nur noch darum, diese freien Wahlen auch vorzubereiten. Das bedeutet, dass die Parteien die Möglichkeit erhalten müssen, sich über ihre politischen Ziele klar zu werden und diese politischen Ziele der Öffentlichkeit vorzustellen. Das ist geschehen Anfang des Jahres. Dann gab es die Volkskammerwahlen. Der Weg, der dann gegangen worden ist, der dann sozusagen demokratisch legitimiert war, der musste also nicht mehr im Rahmen einer solchen ungeordneten Phase abgearbeitet werden. Das hatte dann eine klare Struktur. Wobei auch da noch zu sagen ist, dass wir uns mit Erfolg noch das ganze Jahr gegen eine Absicht der Regierung in Berlin massiv gewährt haben, nämlich gegen die Absicht, die alten Strukturen der DDR soweit wie möglich unangetastet lassen. Das war die Absicht der Regierung de Maizière. An der Stelle mussten wir innerparteilichen Widerstand, dann schon als CDU- Mitglieder, aufbieten und haben uns dort dann gegen die Regierung de Maizière durchgesetzt. Auf diese Weise ist es dann eben zu der Art Länderbildung gekommen, die wir wollten und nicht zu der Art Länderbildung, die de Maizière wollte.

Eine abschließende Frage. Können Sie sich an die Zeit, Tage oder Wochen erinnern, wo die Aufgaben und Ziele der Gruppe sich weg von kommunalen und Freiheitsinteressen und hin zu nationalen politischen Interessen änderten? Und wie es dazu kam?

Das ist eine gute Frage und ich will mal so sagen es gibt zwei Bücher wo das auch meines Erachtens nach zutreffend aufgearbeitet ist. Das eine ist das Buch von Karin Urich4 über die Revolution in Dresden und dann das Buch von Michael Richter5, ebenfalls über die friedliche Revolution in Sachsen. Von Anfang an gab es einen Widerspruch und zwar sagte Berghofer ganz richtig, dass er für die Stadt Dresden und deren Befindlichkeiten zuständig sei und dass die Probleme der Rahmenbedingungen, die für die ganze DDR gelten, in einem Gespräch zwischen Bürgermeister Berghofer und den Dresdner Demonstranten nicht gelöst werden könnten. Das war eine Ansage, der man nicht widersprechen konnte. Gleichzeitig war allen klar, dass die Kernabsicht, welche die Demonstranten haben, mit kosmetischen Veränderungen in der Administration der Stadt Dresden überhaupt nicht befriedigt oder umgesetzt werden kann. Die Kernabsichten zielen auf eine Reform ganz anderen Ausmaßes ab. In diesem Kontext hat sich die Gruppe der 20 in Dresden zunächst erstmal in einzelne Arbeitsgruppen aufgespaltet. Man wollte einerseits Punkte, die man mit der Stadt Dresden lösen konnte, sehr wohl aufschreiben. Das ging um die Fragen: Kann man innerhalb der Stadt Dresden demonstrieren? Welche Absprachen muss es geben? Dann ging es aber weiter und als nächstes fragte man: „Was muss ich überhaupt am Strafrecht, am Medienrecht usw. in der DDR ändern?“ Da sind in der Gruppe der 20 Vorschläge erarbeitet worden, die weit über die Stadt Dresden hinausgingen, die also im Grunde die DDR betrafen. In diesen paritätisch besetzten Arbeitsgruppen war die Gruppe der 20 ein Partner, der andere Partner war die Stadt Dresden, die bisherige Administration. Dort ist von der anderen Seite regelmäßig versucht worden, die Spannweite der Themen auf Dresden zu reduzieren. Hier muss ich sagen, es ist ausgerechnet derjenige gewesen, der damals von der Polizeischule in der Neuländer Straße geschickt worden ist, also ein hochkarätiger Polizist , der am eindringlichsten von Staatsseite aus sagte: „So wie es bisher hier geregelt ist, geht es nicht weiter. Wir brauchen tiefgreifendere Veränderungen.“ Ich würde so weit gehen zu sagen, dass der damals tatsächlich als einziger sich dem Anspruch der Gruppe der 20 nicht verweigert hat, auch Rahmenbedingungen zur Sprache zu bringen, die weit über Dresden hinaus gehen. Er ist leider verstorben, man kann ihn nicht mehr befragen. In anderen Bereichen war das ähnlich. Auch beim Thema Medien ging es um die Frage der Redaktionsprinzipien, also ob die redaktionelle Eigenständigkeit von Zeitungen gewährleistet werden könne. Das ist alles in diesen Gruppen beredet worden, aber immer mit dem Ergebnis, dass es Aufgaben sind, welche die Stadt Dresden in Zukunft in Gesprächen mit Volkskammer, Regierung oder Ministerien zur Sprache bringen soll. Alles andere sind Dinge, die wir selber lösen können. Es wurde dann immer klarer: Dresden hatte im Grunde keinen großen Spielraum, was wir hier von Dresden erzwingen können. Wir müssen uns eigentlich gemeinsam hinter der Forderung versammeln, dass sich die Rahmen­bedingungen und das ganze politische System insgesamt ändern. So verstand sich die Gruppe der 20 zunehmend.

Allerdings hat sie natürlich auch den Versuch unternommen, Kommunalpolitik mit­zubestimmen, denn sie hat die Wahlen am 7. Mai 1989 als illegitim, das Ergebnis als inakzeptabel und die Wahlen als gefälscht betrachtet. Das ist ja eine Diskussion, die sich lange hingezogen hat, die immer wiederholt worden ist. Diese Einschätzung teile ich auch. Was ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist, dass der Stadtrat, bzw. die damalige Stadtverordnetenversammlung, so nannte man das damals, kein legitim gewähltes Gremium ist und demzufolge auch keine Kompetenz hat, über die Belange der Stadt Dresden zu entscheiden. Was ist als nächstes zu tun? Diese Stadtver­ordnetenversammlung ist zu ergänzen durch eine zwar ebenfalls nicht legitimiertes, aber aus der Bürgerbewegung kommendes Korrektiv. Auf diese Weise ist, anders als in anderen Städten, wo das Prinzip des Runden Tisches gewählt wurde, in Dresden die sogenannte „Basisdemokratische Fraktion“ ent­standen, die jetzt in Angelegenheiten der Stadt Rederecht und dann auch Antragsrecht hatte und sich als Fraktion zusammengefunden hat. Von der war natürlich sehr schnell klar, dass sie politisch so inhomogen ist, dass sie eigentlich keine Existenzgrundlage hat. Ich war auch zeitweise Mitglied der BDF. Als ich dann in die CDU eingetreten bin, war ich derart fanatischen und persönlichen Angriffen ausgesetzt, dass ich meine Mitgliedschaft niedergelegt habe. Ich weiß nicht, ob das aus heutiger Sicht richtig war, aber es ist eben so. Das ist das, was sich zu dieser Zeit gezeigt hat, was sich auch bis heute zeigt: Die SED hat im Grunde gesiegt im Bezug auf die Frage, ob es behandlungsbedürftig sei oder nicht, bürgerliche und politische Ansichten als prinzipiell moralisch  minderwertig und reaktionär zu charakterisieren. Das tut die politische Linke hier in Dresden und das ist ein wichtiges Erbe der SED. Es bedurfte nur eines Anfalls von Ekel, aber keiner Begründung, dass die CDU als die Partei der Konzerne, als die Partei der Reaktionäre, als die Partei des miefigen Katholizismus, selbstverständlich für einen aufgeklärten Mann keinerlei politische Relevanz haben darf. Dieses Vorurteil oder dieses moralisch-ästhetische Verdikt, was von einer eigenen moralischen Überlegenheit ausgeht, das ist das Kennzeichen der Linken in Dresden geblieben. Das ist das wichtigste Vermächtnis der SED.


1: Hotel Newa ist heute: Hotel Pullmann

2: Wolfgang Schwanitz

3: Horst Hillenhagen war 1989 Oberst im Ministerium für Staatssicherheit in Dresden.

4: Karin Urich: Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90, Köln 2001

5: Michael Richter: Die Revolution: Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90