Detlef Pappermann

Kurzbiografie

Detlef Pappermann war 1989 Oberleutnant der Volkspolizei. Er sprach am Abend des achten Oktobers mit den Kaplanen Frank Richter und Andreas Leuschner auf der Prager Straße, als sich Polizei und Demonstranten gegenüberstanden und es die Befürchtung gab, der Abend könne gewaltsam enden. Die Gruppe der 20 gründete sich spontan vor Ort, ein Treffen mit Oberbürgermeister Berghofer wurde mit Pappermanns Hilfe für den nächsten Morgen vereinbart. Die Demonstration löste sich anschließend ohne Eingreifen der Polizei auf.

Detlef Pappermann ist heute Hauptkommissar beim Landeskriminalamt Sachsen. Das Interview führt Thomas Eichberg.

Detlef Pappermann, geb. 1958

Interview

Ist die Arbeit heute anstrengender als zu DDR-Zeiten?

Vehementer heutzutage. Das ist auch klar, denn es passiert viel mehr und die Ereignisse sind oft dramatischer als zu DDR-Zeiten. Zu DDR-Zeiten haben wir ja regelrecht ruhig gelebt. Sicherlich, es gab auch eine ganze Menge von Straftaten und andere Ereignisse, aber selbst wenn man das jetzt mal vergleicht, Dresden mit Leipzig und Leipzig mit anderen Großstädten in Deutschland, selbst da ist ein riesen Gefälle. Da leben wir in Dresden wirklich ruhig. Was dagegen in anderen Städten so los ist… Wenn man das nur mal im Vergleich zu Leipzig sieht oder so, also von der Kriminalitätsentwicklung her, dann ist das in Leipzig doch zumindest in vielen Bereichen wesentlich intensiver.

Schauen wir mal zwanzig Jahre zurück, reisen wir mal in den Sommer/Herbst 1989. Da würde mich zuerst interessieren, wie Sie die Zeit der Ereignisse im September/Oktober in Dresden wahrgenommen haben, das heißt bevor es die Auseinandersetzungen am Dresdner Bahnhof und auf der Prager Straße, dann später gab.

Also, wenn ich das jetzt mal so sage, als Polizist oder als Polizeibeamter in einer Spezialeinheit, was es ja damals schon war, kam man über die Zeit auch an Informationen ran, die einem normalen Bürger oder normalen Polizisten überhaupt nicht zu Verfügung standen, ohne jetzt alles in der gesamten Breite zu wissen. Wir wussten zum Beispiel, dass im Mai 1989 eine SPD gegründet wurde, dass das Neue Forum hier und da Aktionen machte, dass es in Berlin an der Gethsemanekirche Ereignisse gab usw. Von einer ganzen Menge von Dingen erhielten wir Kenntnis, weil man sich auf solche Situationen natürlich auch seitens einer Spezialeinheit vorbereiten musste. Da hat man dann schon irgendwo gemerkt, irgendwie läuft hier das Rädel in nächster Zeit ganz schön im Dreck, man muss ganz schön aufpassen, dass das hier nicht mal daneben geht. Wir haben auch ziemlich offen bei uns in der Truppe darüber diskutiert, über die verschiedenen Ereignisse. Ich kann mich noch erinnern, dass die Eltern eines Kollegen plötzlich, weil sie Rentner geworden sind, in den Westen fahren wollten. Es gab ein Theater mit dem Reisepass, ein Hin und Her mit dem Abnehmen und wieder Hinbringen, bis der Kollege dann gesagt hat: „Wisst ihr was?, ihr könnt mich hier mal alle, Entschuldigung, wenn ich hier die Worte in den Mund nehme, mal am Arsch lecken! Das tue ich jetzt nicht machen und wenn ihr da jetzt ein Fehler gemacht habt, dann macht das gefälligst selber!“ Da hätten dann Vorgesetzte hingehen müssen.

Oder auch meine Mutter, die wollte zu einer Beerdigung eines wirklich entfernten Verwandten nach West-Berlin fahren. Sie ist auch Rentnerin gewesen. Da kam dann der Verbindungsoffizier zu uns, also zu mir ins Büro und fragte mich: „Ich denke, du hast gar keine Westverwandtschaft“  und nein, habe ich auch nicht, „aber wieso will dann Deine Mutter in den Westen fahren?“ Da sag ich: „Du, das ist mir jetzt neu. Meine Mutter hat mit mir darüber nicht geredet oder wie auch immer, also vielleicht kannst du mir mehr sagen.“ Jahrelang keine Westverwandtschaft und plötzlich diese Gefühlsduselei. Dann ist mir das Gefühl durchgegangen und ich musste zum Zahnarzt gehen. Also man merkte da schon, dass irgendwo Dinge nicht ganz im richtigen Gang waren. Wir haben eigentlich in unserer Truppe ziemlich offen darüber diskutiert. Wenn ich jetzt daran denke, also an die Sache auf dem Tian’anmen-Platz in Peking, die war doch dramatisch. Zu der Zeit war ich gerade auf Bezirksparteischule, da kannst du natürlich deine tatsächliche Meinung zu dem Zeitpunkt niemals offen sagen. Also das wäre ein Karriere-Knick gewesen ohne Ende und ich hätte den geilsten Job, den ich überhaupt gehabt habe oder so was, möglicherweise verloren.  Da hat man sich schon zurückgehalten in der Truppe selber, obwohl wir eine ganze Menge bei uns hatten, die inoffizielle Mitarbeiter waren. In der Truppe konnte man jederzeit über solche Themen ganz offen reden und wir haben auch gesagt: „Das kann ja wohl nicht sein, dass die Chinesen dort ein paar Leute überfahren“, das fanden wir schon entsetzlich.

Wobei die Information gar nicht so offiziell hierher kam, das waren ja dann wahrscheinlich auch wieder einschlägige Berufskanäle.

Man hat da vieles gehört über verschiedene andere Bereiche, es wurde dann eben immer gesagt, die Westmedien verbreiten da irgendwelche Märchen oder wie auch immer. Dass da Leute gestorben sind oder dass da Ausschreitungen waren und Schüsse gefallen wären – die Chinesen werden das schon richtig machen. Diese positive Reaktion seitens der Partei, die ging schon in die Richtung, dass alles ganz normal ist. Ein Polizist arbeitet eigentlich immer darauf hin, das war damals so und das ist heute noch so, dass möglichst niemand zu Schaden kommt. Kein Polizist geht so die Lage: die löse ich jetzt so, dass ich da mordsmäßig reinhaue oder jemanden einfach erschieße und damit ist das Ding auch erledigt. Dazu wird kein Polizist erzogen und dann fragt man sich ja schon: „Ging es denn nicht auch anders?“

Diese Einheit von der Sie sprachen, die Truppe von damals, wenn ich mich recht entsinne, sprachen Sie von einer Antiterror Einheit. Wie lange gab es die in der DDR und wozu gab es so etwas in der DDR, rechnete man denn mit Terror?

Dass es solche Einheiten gibt, das ergab sich aus den damaligen Ereignissen, wie in München anlässlich der Olympischen Spiele. Die Bundesrepublik, aber auch die DDR, reagieren eigentlich relativ schnell auf solche Situationen. In den USA wurden 1980 die SWAT-Teams gegründet, in der Bundesrepublik 1978 die GSG-9 und drei Monate vorher die Diensteinheit 9, Arbeitsrichtung 9 in der DDR. Eigentlich gab es uns eher als in der Bundesrepublik. Wenn man mal so will, dann könnte man stolz darauf sein. Mit diesen Möglichkeiten musste man immer rechnen, dass da auch die DDR in den Fokus oder Ereignisse in  der in den Fokus von Terrorakten kommen könnten – durch wen auch immer. Ob das nun in dem Falle Palästinenser waren oder die Israelis oder möglicherweise auch andersherum, also wie auch immer. Da ist es gut, wenn man gerüstet ist, um einfach erstmal eine Perspektive zu machen, ohne da eine konkrete Prognose zu machen. Heutzutage geht es natürlich um wesentlich intensivere Faktoren, die so was begründen würden.

Diese „9“, hat das eine besondere Bedeutung?

Arbeitsrichtung 9? Nein. Zu DDR-Zeiten gab es bei der Kriminalpolizei acht verschiedene Bereiche, das reichte von der Daten- und Aktenhaltung bis zu Mord. Arbeitsrichtung 1 waren Straftaten, die noch nicht bekannt waren und Ausländerkriminalität und so weiter. Das war in verschiedene Bereiche eingerichtet. Arbeitsbereich 8 hatten wir, da unser Arbeitsgebiet auch der Kriminalpolizei angehören sollte, weil es eben verdeckt und zivil aufgebaut ist. Die nächste Ordnungszahl ist 9. Möglicherweise wäre es dann noch weiter gegangen mit 10, 11, 12 oder wie auch immer, das war eigentlich nur Zufall.

Wie lange waren Sie eigentlich in dieser Abteilung?

Also ich bin 1985 im Frühjahr, nein, im Winter 1985, also im Januar/Februar hingekommen und bin das noch bis heute, wenn man so will.

Und wie kam man dort hin, also welchen Werdegang musste man da absolvieren?

Es gab drei Kriterien eigentlich, zwei gibt es heute noch. Das erste ist weggefallen – man durfte keine Westverwandtschaft haben. Dieses Kriterium, das gibt es nicht mehr. Ansonsten musste man fit wie ein Turnschuh sein, das ist heute noch so und man muss unglaublich teamfähig sein. Man muss sich wirklich auf diese Geschichte einlassen und den Kameraden oder den Kollegen, den man da nebenbei hat, einhundert prozentig vertrauen können. Man muss sich in das gesamte Gefüge  einordnen und seinen Part, den man da mitbringen kann, einfach einordnen.

Ich war beim Studium, da kamen sie ja dann auf mich zu: „Ja was wir machen, dürfen wir Dir nicht sagen, aber würdest Du mitmachen?“ – „Ja worum geht es?“ – „Also Du musst auch nicht Sport machen können, also würdest Du es mitmachen?“ Mit dieser nichtssagenden Auskunft sollte ich mich entscheiden und habe ich mich entschieden: „Ja, mache ich.“

Und das war ein normales Polizeistudium ?

Ja, das war normal. Ich bin ganz normal auf der Fachhochschule gewesen. Mein Fachhochschulabschluss, zum Offizier damals, ist heutzutage mittlerer gehobener Dienst. Im Zuge dieser ganzen Geschichte sind die auf mich zugekommen und bis zu dem Zeitpunkt, wo ich da angefangen habe, wusste ich überhaupt nicht, um was es da geht.

Und wie ist die Abteilung einzuordnen …

Also „Abteilung“ ist ein bisschen hoch gestochen. Wir waren 18 Leute, zahlenmäßig keine große Menge. In der gesamten Republik waren das wohl so 300-400 Leute, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Das war also, wie heutzutage, genau so ein Spezial-Einsatzkommando: Aufgaben zu lösen, die mit einem bestimmten Gefährdungsgrad verbunden sind. Wir haben zum Beispiel entflohene russische Soldaten – nein, „entflohen“ kann man nicht sagen – desertierte russische Soldaten eingefangen, die mit Waffe unterwegs waren. Wir haben auch polnische Fallschirmjäger festgenommen, die sich hierher durchgeschlagen hatten. Das war so das Hauptfeld irgendwo, diese Beziehung zwischen Militär und Bewaffnung, die ja doch relativ einfach war. Wir wären aber auch in der Lage gewesen, größere Maßnahmen zu unterstützen, wie das eben heutzutage auch ist.

Inwieweit waren Sie denn auf diese Ereignisse in Dresden vorbereitet, also wieviel wussten Sie vorab davon? Wieviel wussten Sie, als Sie im Herbst 1989 Ihren Dienst antraten im Dresdner Stadtzentrum?

Das mit den Zügen, dass die durch Dresden fahren sollen und die ganzen Entscheidungswege, wie das da passiert ist, das hat man schon mitbekommen. Das hat auch die Mehrzahl der Polizisten eigentlich mitbekommen, die dann später zum Einsatz gekommen sind, wo die Ursachen der ganzen Geschichte lagen. Die Reaktion in unserer Gruppe war Verständnislosigkeit, dass man diese Züge über die DDR fahren lassen musste. Das ist so ein Kinderkram, dass man diesen Hoheitsanspruch, den man eigentlich schon längst verloren hat, mithilfe dieser Zugrichtung oder mit der Zugfahrt hier noch mal dokumentieren wollte. Man hätte genauso sagen können: „Fahrt über Bratislava/Wien in die Bundesrepublik“, das ist auch einfacher. Da haben sie jetzt auch in Berlin, die alten Knaben, völlig durchgedreht, jetzt sind sie bar jeglicher Vernunft und jeder Erkenntnis und jeder Logik. Wir wussten dann schon, warum und weswegen die Züge hier durch Dresden fahren mussten. Wir wussten auch die Fahrtstrecke dahin. Dass allerdings ein Haufen Bürger da zu den Zügen ist und mitfahren wollte, das war für uns, aber auch für die Polizei insgesamt gesehen, völlig überraschend, welche Dimensionen das annahm.

Würden Sie das als einen strategischen Fehler bezeichnen?

Das war ein riesen Fehler, das haben wir schon damals gesagt. Das ist, wie gesagt, realitätsfern. Heutzutage kann man ja darüber reden, man hat ja ein bisschen Abstand. Hinterher ist man schlauer, aber das zeigt tatsächlich, wie weit die Führung in der Spitze der DDR eigentlich von den tatsächlichen Ereignissen weg war, bis hin zu völliger Ignoranz.

War das aus Ihrer Sicht ein entscheidender strategischer Fehler?

Das war entscheidend.

Und warum?

Weil es, im Gegensatz zu Leipzig und Berlin, wo alles regelmäßig und organisiert ablief, die Möglichkeit für zufällige und spontane Aufrufe zur Unmutsbekundung gab.

War das wie ein Magnet der Dresdner Hauptbahnhof?

Das würde ich sagen. Das war am Anfang mit Sicherheit eine Angelegenheit, die die Dresdner anging. Es gab auch andere Ereignisse, also die in Chemnitz und in Plauen, wo die Züge auch durchfahren sollten, die wesentlich geringer waren. Aber Dresden war der erste Ort auf dem Hoheitsgebiet der DDR, wo man die Chance hatte, alle bürokratischen und sonstigen Schikanen hinter sich zu lassen, indem man einfach mit aufsteigt und sagt: „Okay, wir fahren einfach mit.“ Es kann sein, dass die meisten Leute das ziemlich blauäugig gesehen haben, aber es ist gut, dass es so war. Wenn viele gesagt hätten: „Nein, da kommst du sowieso nicht rein“ und vielleicht noch ein paar Tage überlegt hätten, dann wäre es möglicherweise anders gekommen. Manchmal ist es ganz gut, wenn man spontan handelt und sagt: „Hin jetzt!“ und „Schauen wir mal, was kommt.“

Wie haben Sie die Ereignisse im Bahnhof miterlebt, also als die Züge kamen?

Das war schon prekär. Ich war selbst auch im Bahnhof drin mit unseren Leuten. Das grenzte an eine Belagerung, wie man die in schlechten Filmen sieht. Ich hab irgendwann mal „Kriegszustand“ gesagt, das ist sicher übertrieben gewesen, aber es erinnerte mich ein bisschen an die 60er Jahre in Westberlin, da hat man ja auch viele Bilder gesehen mit Wasserwerfer und so. Auch dass dann irgendwo mal Steine geflogen sind und dass dies Aggression oder diese Wut gegenüber der Staatsmacht und die Polizei verkörpert. Da kann man nicht sagen: „Okay, ich bin ja Polizist und eigentlich bin ich auch auf eurer Seite“, nein, man ist Polizist. Man verkörpert eigentlich eine Staatsmacht und egal, in welchem System man ist, man verkörpert immer eine Art Symbol. Dass sich diese Aggression gegen die Staatsmacht auf diese Weise zeigte, das war für mich schon überraschend.

Wer hat denn die Barrikade gebaut im Durchgang in der Haupthalle des Bahnhofes?

Die Barrikade? Also wir haben die Türen zugemacht und die Jungs von der Bereitschaftspolizei, man muss ja immer sagen, dass das ganz normale Wehrdienstleistende gewesen sind, die hier für anderthalb Jahre ihren Wehrersatzdienst abgeleistet haben, die haben sich da vorne mit Schildern hingestellt und haben versucht, den Bahnhof zu halten.

Es wurden ja auch Mülltonnen und andere Sachen mit aufgebaut.

Ja, klar. Irgendwann mal wird das so, dann ist jedes Mittel recht. Das sieht man auch jedesmal in Berlin bei den Feierlichkeiten zum ersten Mai, wenn es dann durch Kreuzberg geht, da schieben erstmal die Demonstranten irgendwelche Mülltonnen zusammen, zünden irgendetwas an, machen ein bisschen Feuer, werfen mal eine Flasche und im Verlauf der Zeit schmeißen die Polizisten mit den Flaschen zurück oder mit den Steinen oder je nach dem. Das schaukelt sich dann hoch, es ist anfangs eigentlich mehr oder weniger ein Geplänkel und irgendwo hat das einer überbewertet. Das sind Situationen, die entwickeln sich einfach so.

Sie würden also sagen, die Barrikaden wurden von beiden Seiten aufgebaut?

Mit Sicherheit. Also ich weiß noch, draußen die Demonstranten, also die Leute die vorm Bahnhof standen, haben irgendwo eine Mülltonnen herangefahren und wir haben von drinnen eine herangefahren – also was soll es. Das im Nachgang vielleicht noch auseinander zu klammern und zu sagen: „Du hast schuld“, das ist Quatsch. Das sind halt solche Situationen, die sich einfach so entwickeln.

Sie sagten vorhin: „Früher habe ich gesagt ‚Kriegszustand’“, das würden Sie heute vielleicht relativieren. Ihr erster emotionaler Eindruck im Bahnhof, wie war der? Konnten sie sich so etwas vorstellen in der DDR?

Nein, eigentlich überhaupt nicht. Das war jetzt für mich persönlich, aber auch im Rahmen der Polizeiführung insgesamt, völlig überraschend. In den nachfolgenden Oktobertagen gab es vorbereitete Pläne, aber dass man die so schnell oder auf diese Art und Weise auf ihre Tauglichkeit hin überprüfen musste, das war schon für alle überraschend. Das war einer der heißesten Tage, die ich hatte.

Wie erinnern Sie sich daran?

Ich habe Abstand dazu gewonnen. Erinnern, wo ich da war, das kann ich momentan überhaupt nicht sagen. Ich bin mal dazu gefragt worden: „Welche Emotionen hatten sie?“, das kann ich nicht mehr sagen, es ist weg. Ich will es mal so sagen: Eigentlich war es gut, dass ich mit dabei gewesen bin. Zu dem Zeitpunkt war das bestimmt nicht so: „Ach du Scheiße, jetzt stehst du hier“, aber heutzutage ist das schon ein: „Schön, dass du mit dabei gewesen bist.“ Das meine ich sowohl für diejenigen, die im Bahnhof waren, als auch für diejenigen, die draußen am Bahnhof waren.

Sie sagten vorhin, dass die Pläne schneller zum Einsatz kamen, als man sich das vielleicht erträumt hatte. Wissen Sie, wer diese Pläne erstellt hatte?

Also die Pläne zu solchen Zuführungspunkten oder irgendwelche Maßnahmen, die dann mit Festnahmen verbunden oder mit Zuführungen, mit Überprüfung, solche Pläne gab es schon für diesen Krisenfall. Das gab es im Prinzip auch schon für den Kriegsfall. Es gab ja im Grunde im Zuge des Kalten Krieges eine ganze Menge von Szenarien, die gedanklich durchgespielt wurden und wo die Polizei teilhaben musste. Da musste man daran denken, dass es natürlich auch gegen Maßnahmen, die der Staat durchführt, Widerstand gibt. Einen solchen Widerstand kann man natürlich in einem Kriegsfall nicht gebrauchen, also wurde gesagt: „Okay, wie bekommen wir die zur Seite? Internierungslager?“ Für so etwas existieren oft weltweit Pläne, die allerdings im Frühjahr 1989 noch einmal aktualisiert wurden. Komischerweise, das habe ich dann im Nachgang erfahren, wurde das alles noch einmal auf den Prüfstand gestellt – Funktioniert das alles? Was wäre wenn? Eine Vorbereitung auf solche Szenarien, das macht man für alle möglichen Szenarien, das macht man für einen Banküberfall bis hin zu einem Krisenfall. Solche Krisenpläne existierten. In einem Kriegsfall oder für den Krisenfall, da sagt man: „Okay, da kommen jetzt hier feindliche Truppen und da demonstrieren welche und die muss man internieren“ oder wie auch immer und: „Alle Ausländer internieren.“ Das wäre also bestimmt irgendwo mit etwas Vorlauf gewesen, aber man musste von jetzt auf gleich als Polizei darauf reagieren.

Und diese Pläne lagen in der Polizeischublade oder kamen vom MfS?

Die sind in der Polizeischublade, also das ist Aufgabe der Polizei gewesen. Das ist auch heute noch so.

Sie haben auch gesagt, Sie waren damals in einer Position, wo sie sich mit den Kollegen vom MFS abstimmen mussten über die einzelnen Schritte. Können Sie sich daran noch erinnern, aus der heutigen Sicht, wie oft Sie damals mit dem MfS gesprochen haben und wie die reagiert haben im Fall Bahnhof?

Das kann ich jetzt schlecht sagen, ich habe das unmittelbar selbst nicht mitbekommen. Das MfS war natürlich auch irgendwo mit dabei. Das MfS hat eigentlich für die Lage oder für die Situation, die da am Bahnhof war, keine Rolle gespielt, weil das von der Aufgabe her nicht Aufgabe des MfS war. Es gab da schon eine Trennung. Der Einfluss des MfS war dort eher über diese Bezirkseinsatzleitung und Kreiseinsatzleitung gegeben, auch wenn die bei uns im Bahnhof, also im Führungsstab, mit in dem Zimmer gesessen und natürlich alles beobachtet haben. Aber die unmittelbare Einflussnahme, ob die Polizei das nun so macht oder so, das hat es eigentlich nicht gegeben. Informationen wurden dann schon ausgetauscht, es wurden auch Berichte übergeben an das MfS, ganz normale Geschichten, aber dass das MFS gesagt hat: „So und jetzt werden hier alle zusammengeknüppelt“ oder „Es werden alle Festgenommen“ oder „Die werden jetzt alle zum MfS gebracht“, also das überhaupt nicht.

Also der Herr Böhm rief also nicht mal an und …

Nein. Also die Information kriegt er vom ehemaligen Bezirkschef in Dresden, dem Nyffeneggerund das kriegte er genauso, wie zum Beispiel Berghofer in Dresden oder Modrow, also dieses Gremium.

Wie weit nahm denn die Partei Einfluß, weil Sie gerade „Modrow“ sagten.

Modrow war als Mitglied der Bezirkseinsatzleitung – ich kann es gar nicht so genau sagen, ob er der Chef der Einsatzleitung war – auf jeden Fall mit dabei, weil die Partei als solches den Machtanspruch auch verkörperte und demzufolge auch in alle Bereiche verankert war. Die Politik im Bezirk wurde mehr oder weniger bei der Partei gemacht. Im Rat des Bezirkes, da war der Chef des Rates des Bezirkes auch der Chef der Bezirkseinsatzleitung, genauso wie der Chef des Rates des Kreises auch Chef der Kreiseinsatzleitung war. Dazu gehörten dann Polizei, MfS, Katastrophenschutz, medizinische Dienste, aber auch die Partei.

Und Sie können sich auf die spezielle Position der Partei oder die spezielle Aufgabenstellung der Partei in diesen Tagen nicht festlegen?

Nein. Der Auftrag damals ergab sich eigentlich aus der polizeilichen Auftragslage sowieso, d.h. Demonstrationen, die sich gegen den Saat richten, zu verhindern. Das ist eine ganz allgemeine Auftragslage und dazu gibt es bei der Polizei Pläne, Überlegungen und Planungen, die dann im konkreten Fall vorgenommen werde. Dass diese Pläne natürlich politik- und parteikonform und staatskonform waren, das versteht sich von selbst.

Können Sie sich an den konkreten Auftrag am Bahnhof erinnern? Gab es da überhaupt einen oder hat man gesagt: „Schaut mal, dass ihr das irgendwie ruhig haltet“?

Nein. Am Bahnhof, als die Züge durchfuhren, also die zwei Tage, am dritten Oktober und vierten Oktober muss das wohl gewesen sein, ging es eigentlich darum, dass diese Zugdurchfahrt durch den Bahnhof gewährleistet wird und niemand aufsteigt. Das kann man natürlich am besten machen, indem man den Bahnhof ohne Publikum hält. Da muss man sich schon das nächste Mal überlegen: Die Leute hätten ja eigentlich an der Wiener Straße auf die Gleise gehen können, hätten dort die Gleise blockieren und auch versuchen können, dort aufzusteigen. Da hätten die Züge auch angehalten. Es bezog sich aber auf den Bahnhof, weil da die Staatsmacht war und die Staatsmacht trat dagegen ein, was die wollten und möglicherweise ist der Bürger deshalb da hingegangen. Klar, ein Zug hält normalerweise auf dem Bahnhof, vielleicht ist das auch ein Bewegungsgrund gewesen.

Wie war denn Ihre Aufgabe an dem Tag am Bahnhof? Welchen ganz persönlichen Auftrag hatten Sie?

Es ist schon so, wenn so eine Truppe kommt,  das ist auch heute noch so, dann hieß es ganz einfach: „Die Spezis sind da, jetzt richtet sich alles.“  Da ist es egal, wieviele das sind. Da können das fünf sein oder 10 oder 100, der moralische Effekt bei den Truppen ist derselbe. Das ist halt so:  „Spezialisten sind jetzt da, jetzt richtet es sich.“ Das ist mehr oder weniger eine moralische Stütze gewesen, da wir ja vermutlich auch nicht mehr ausrichten konnten, als andere.

Das heißt, Sie haben die Sache am Rande beobachtet …

Nein, wir haben selbst dahinter gestanden. Die Jungs haben vorne in der ersten Reihe gestanden mit ihren Schilden und haben versucht, da einen Steinhagel abzuwehren. Wir waren dahinter und haben das einfach nochmal mit abgesichert. Wenn da vorne einer gewackelt hat, dann ist mal einer mit nach vorne gegangen: „Komm, das halten wir noch.“

Hätten die Reihen vorne nicht gehalten, hätten sie dann geschossen?

Das ist eine gute Frage, die ist mir schon oft gestellt worden. Ich glaube nicht. Geschossen hätten wir sicherlich, wenn ein Kollege angegriffen worden wäre und wenn wir um dessen Leben hätten bangen müssen. Dann hätten wir mit Sicherheit geschossen – nicht zielgerichtet, also irgend jemanden, sondern da hätte man sicherlich in die Luft geschossen. Das hätten wir sicherlich auch so hinbekommen, den Kollegen auch ohne Schuss aus den Händen einer möglichen Lynchjustiz zu befreien, aber ich glaube noch nicht einmal, dass es dazu gekommen wäre. Die Leute wären mit Euphorie durch den Bahnhof durchgerammelt, wären am Wiener Platz reingegangen und hinten an der Bayrischen Straße wieder rausgerannt, weil das einfach nur ein Sieg gegenüber der Staatsmacht gewesen wäre. Dass es da groß zu Auseinandersetzungen oder möglicher Lynchjustiz gekommen wäre, wage ich zu bezweifeln.

Gab es einen Moment, wo Sie auch Angst davor hatten, dass Sie dem Druck nicht mehr standhalten können?

Ja, gab es schon. Zumindest, wenn ich mich mal erinnere, als dann die ersten Steine flogen. Mein lieber Mann, das sind ordentliche Geschosse gewesen. Also wenn da so ein Kalkstein mit 3x3x8 cm angeflogen kommt, das ist schon ganz ordentlich und es hat auch mächtige Verletzungen gegeben, etwa Kopfverletzungen, die nicht ganz ohne waren, aber auch Platzwunden. Aber Angst kann ich eigentlich nicht, „Respekt“ hätte ich jetzt eher gesagt.

Gab es da zu dem Fall einen speziellen Befehl, dass man gesagt hat, von der Schusswaffe nur im äußersten Fall Gebrauch zu machen?

Das Thema Schusswaffe wurde überhaupt nicht angesprochen. Es gibt grundsätzliche Regeln, die sind im Gesetz festgehalten, damals schon wie heute. Am Ende musste der Schütze für sich selbst entscheiden, ob er die Schusswaffe zieht oder nicht. Er hat alle Ermächtigungen gehabt. Es gab Situationen in den Oktobertagen, die das durchaus gerechtfertigt hätten, trotzdem hat es niemand getan. Da muss ich heute mal jedem Polizisten, der damals im Einsatz war, sagen: „Okay, Hut ab, dass Ihr da die Nerven behalten und es nicht getan habt.“

Mal ein Wort zur Ausrüstung. Für viele Demonstranten, für viele DDR Bürger, war es überraschend und aus der Überraschung ja auch teilweise erschreckend, dass es überhaupt solche Ausrüstung bei der Polizei gibt, diese Schilde und diese Spezialhelme. Wie lange gab es denn so etwas schon und wie lange wurde im Vorfeld auch damit trainiert?

Wie lange es das gibt, das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Als ich zur Polizei kam und das ist dann schon Anfang der 80er Jahre gewesen, da gab es das schon. Ich bin darin auch ausgebildet worden, ganz normal, war VF – vertrauliche Verschlusssache – das durfte man niemandem sagen, dass es so was gibt und deswegen hat es ja eigentlich funktioniert, wenn die Mehrzahl der Bürger überrascht war, dass es sowas gibt, weil ja das eigentlich völlig konträr zu dem normalen Bild in der DDR gestanden hätte. Wieso braucht unsere Polizei, die ja für den Bürger da ist, Helm und Schild und lange Knüppel? Sollen die gegen Demonstranten vorgehen, gegen irgendwelche? Welche Demonstranten? Wir sind doch alle für den Staat!

Die Polizisten haben sich auch daran gehalten, also das nicht breit zu tragen. Trainiert wurde das ein bis zwei Mal im Jahr irgendwo im Verborgenen, in irgendwelchen Höfen im VPK1, jetzt Polizeidirektion Dresden. Da gab es einen geschlossenen Hof, da wurde das mal probiert oder man hatte das mitgenommen auf irgendwelche Truppenübungsplätze und da wurde das mal geübt, aber mit Sicherheit war das Training niemals ausreichend im Umgang mit so etwas.

Und warum wurde es angeschafft? Sie sagen ja selber, der Polizist ist dein Freund und Helfer, das ist ja dann ein untypisches Bild. Warum glaubte man also, das haben zu müssen?

Warum? Fragen Sie die Leute, die gesagt haben: „Okay, wir brauchen so etwas.“ Das kann ich nicht beantworten, wahrscheinlich haben sie sich selber nicht getraut.

Also man vermutete vielleicht schon?

Ja, mit Sicherheit. Also wenn ich sage: „Ich habe keinen Hunger“ und „Ich werde in den nächsten hundert Jahren keinen Hunger bekommen“, dann brauche ich mir auch keinen Bäcker anschaffen. Aber es könnte ja sein, dass ich Hunger bekomme, also wir tun jetzt mal die Berufsgruppe Bäcker schaffen. Man muss irgendwo etwas geahnt haben oder man hat irgendwo etwas gesehen, z.B. in den 60er Jahren,  da hätte man sagen können, das könne aufgrund unseres Sozialismus‘ nicht passieren, aber letztlich hat man die Möglichkeit doch eingeräumt.

Da hat man seinen eigenen Thesen nicht getraut?

Nicht ganz so getraut, genau.

Kommen wir mal von den Tagen am Bahnhof ein Stück weiter, zwei, drei Tage später zur Prager Straße oder vielleicht noch die Zeit dazwischen zum Fetscherplatz, wo viele Dresdner verhaftet und zugeführt wurden. Wie haben Sie das aus ihrer Sicht erlebt, also die Zeit unmittelbar nach den Ereignissen am Bahnhof?

Nach den Bahnhofsereignissen – 5.-7. Oktober, diese drei Tage – entwickelte sich eine völlig andere Situation auf den Straßen. Es gab keine durchfahrenden Züge mit Ausreisewilligen aus den Botschaften mehr, allerdings kamen dann schon die ersten Rufe, so 6./7. Oktober: „Wir bleiben hier!“ Am 7. Oktober wurde in Berlin der Tag der Republik groß gefeiert, alles schau und schick und alles schön. Gorbatschow ist dagewesen und sagte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, das wurde auch noch im Fernsehen übertragen. Statt sich mal den tatsächlichen Problemen, die es da offensichtlich gibt, zuzuwenden, hat man alles schick und schön geredet. Das merkte man dann auch auf der Straße. Es wandelte sich von diesen Gewaltereignissen, die da 3./4. Oktober am Bahnhof waren, immer mehr zum zu Unmutsäußerungen gegenüber dem Staat. Da kamen dann auch schon erste Geschichten auf mit Wahlfälschung. Wir hatten ja die Wahl 1989, wo ein Wahlergebnis herauskam, das wieder Oberklasse war. Heutzutage würde man sagen, dass es vom Kopierer stammt, aber damals gab es keine Kopierer, also hat man das einfach noch mal neu geschrieben. Viele Leute haben es einfach nicht geglaubt, dass das tatsächlich so war. Das zeigte sich dann auf den Straßen, das wandelte sich. Es wurde auch den Polizisten, die da irgendwelche Räumaufgaben hatten, nicht die Gewalt entgegen gebracht.

Können Sie sich an den Fetscherplatz erinnern?

Da komm ich noch dazu. Man hörte plötzlich am 7. Oktober, da gebe es einen Aufruf zu einer Demonstration auf dem Theaterplatz, heutzutage würde man das „Spontandemonstration“ nennen. Die Maßnahmen der Polizei richten sich, wenn es geht, gegen die Organisatoren der ganzen Geschichte, aber es gab keine Organisatoren. Also nicht so wie in Leipzig bei den Montagsdemonstrationen, sondern es war täglich ein Haufen Leute da, die sich völlig spontan und ohne irgendwelche Führung am Bahnhof auf dem Bahnhofsvorplatz einfanden. Manche sicherlich aus Neugier, manche auch tatsächlich aus persönlichen Gründen, manche durchaus, das muss ich heute schon sagen, aus politischen Gründen. Am 8. Oktober gab es plötzlich eine Demonstration, zu der aufgerufen wurde. Es wurde gedacht, aha, Demonstration, Aufruf, jetzt könnte es mal sein, dass wir an irgendwelche Hintermänner rankommen. Neues Forum oder möglicherweise SPD, also das kriegen wir ja wohl gebacken jetzt. Da gab es nun also am Vormittag die Demonstration bzw. Versammlung am Theaterplatz, ich selbst war auch mit dabei. Nachts waren die Beamten oder die Kollegen vom VPK Dresden im Einsatz und tagsüber hatten man eine zugeordnete Einheit, die war aus Halle und in Dresden völlig ortsunkundig. Es hieß dann: „Wer kann das machen?“ und „Die 9 hat nichts weiter zu tun momentan, einer von euch“ und da traf es mich. Die sagten: „Du Pap, Du machst das mal, Du tust da bei denen den Lotsen spielen, damit die sich ein bisschen auskennen.“ Navigationssysteme gab es da noch nicht, also musste man einen Ortskundigen haben und da bin ich dabei gewesen. Da kam dann die Aufforderung, die Demonstration in Richtung Terassenufer, Richtung Osten, langsam aber sicher aufzulösen. Das wurde dann auch gemacht. Eine Räumkette ging dann vor und man ist im Prinzip hinter den Demonstranten her gelaufen. Die sind dann in Richtung Fetscherplatz gegangen, Pillnitzer Straße, Steinstraße, Richtung Fetscherplatz. Am Fetscherplatz, bzw. kurz vor dem Fetscherplatz, waren es dann relativ wenige. Ich kann eigentlich gar nicht mehr sagen, wieviele das waren. Diejenigen, die wir eingekreist oder eingekesselt haben, waren vielleicht 30 Leute. Da kam dann auf die Nachfrage: „Sind das die Rädelsführer? Das kann man schlecht sagen hier, das sind die Letzten“ die Antwort: „Okay, zuführen! Es kommen Fahrzeuge.“

Solche Situationen beleuchtet man immer von der Seite der Betroffenen oder derjenigen, die das veranlasst haben. Die meisten der dort Festgenommenen fanden das also eine wahnsinnige Brutalität, die wir da an den Tag gelegt haben. Ich weiß auch noch ganz genau, was ich gesagt habe: „Ich möchte Sie bitten, zu den Fahrzeugen zu gehen und aufzusteigen.“ Ein paar sind gefolgt, manchen musste man helfen. Wir hatten einen mit einem Rollstuhl dabei, daran kann ich mich erinnern, der konnte natürlich selbst schlecht aufsteigen und der wurde da mehr oder weniger nach oben gehoben. Auf den Fahrzeugen waren dann Hunde und die Zugeführten durften sich nicht auf die Bänke setzen, obwohl Bänke da waren, das fand ich eigentlich ein bisschen Schikane. Ein Teil musste sich auf die Pritschen legen und da kam mir erstmal der Gedanke, was machen die da oben? Sind die noch ganz normal? Sind die sich noch ganz bewusst, worum es hier geht? Später erst dann, im Ergebnis der ganzen Sachen, die da passierten sind, ist mir bekannt geworden, dass sich da regelrechte Exzesse abgespielt haben müssen. Dass das natürlich an dem Tag auf dem Fetscherplatz schon auf den Fahrzeugen begann, das ist natürlich ein Ding, das kann ich überhaupt nicht billigen. Aber ich muss den damals Zugeführten sagen, Festnahme und Zuführung, das ist auch heute noch so, da gibt es Unterschiede. Aber eigentlich nicht für den Betroffenen, der sagt: „Okay, ich bin hier festgenommen und bin meiner Freiheit beraubt“ und das ist auch Tatsache, aber wenn dann diese Freiheit, diese Eingeschränktheit mit Füßen getreten wird, dann ist das eine Schweinerei. Das ist so und das geht nun überhaupt nicht.

Das heißt, das waren andere Abteilungen oder andere Kollegen?

Ich will nicht die Schuld von mir wehren, weil ich gehörte zu diesem System. Ich muss zum Teil die Kollegen, die das damals gemacht haben, in Schutz nehmen. Zum Teil muss ich auch sagen, dass ich es überhaupt nicht billigen kann. Ich verlange von einem Polizeibeamten, dass er seine Gefühle, egal welche, im Griff hat. Er muss nach Recht und Gesetz handeln und darf sich dort nicht gehen lassen. Auf der anderen Seite ist jeder Polizeibeamte auch ein Mensch und die Dinge, die sich da in den Zuführungspunkten abspielten, waren so, dass man wegen der Menge völlig überfordert war. Es war nämlich in den Plänen überhaupt nicht vorgesehen, dass Hunderte zugeführt werden. Dass bei diesen Größenordnungen, auch noch über Tage hinweg und bei den begrenzten Räumlichkeiten die Abarbeitung der damit verbundenen Verwaltungssachen einfach nicht so schnell ging, das ist klar. Aber dann muss ich eben andere Möglichkeiten suchen, das gestattet mir noch lange nicht Willkür oder Gewalt gegenüber den Festgenommenen. Das verbietet einfach der Humanismus und da kann man ja sagen was man will, aber der Humanismus stand dann in der DDR oben dran. Das muss ich einfach von einem Polizeibeamten oder von einem Polizisten verlangen, damals wie heute, dass er keine Willkür walten lässt. Das ist aber passiert und das kann ich überhaupt nicht billigen. Ich muss sagen, ich bin eigentlich erstaunt, dass es über diese Tage hinweg und im Nachgang so wenig Verfahren gegeben hat gegen die Polizisten, die sich dort vergangen haben. Das finde ich eine Schweinerei.

Lassen Sie uns ganz kurz nochmal auf die Motivation der Verhaftung oder der Zuführung kommen. Sie sagten vorhin, dass man hoffte, die Rädelsführer zu bekommen. War das hier so und glaubte man, dann wäre vielleicht Ruhe?

Man hat genau das gehofft. Man hat gesagt: „Okay, also wenn wir jetzt bei der Geschichte die Rädelsführer haben, dann kriegen wir das möglicherweise in den Griff und damit hat sich das erledigt.“  Dass man da völlig daneben lag, das hat man eigentlich schon zwei, drei Stunden später gemerkt, denn obwohl man da die Demonstration aufgelöst hatte oder die Demonstration sich verlief, standen die Leute plötzlich um 17 Uhr wieder auf dem Theaterplatz. Was haben wir denn da für einen Erfolg gehabt? Gar keinen.

Die Sache über die Ereignisse an der Prager Straße, dazu gibt es auch den recht bekannten Polizeifunk, der mitgeschnitten wurde und der also da die Einzelheiten, wer an welcher Stelle was sagte, dokumentiert hat, wo auch heute noch nachzuvollziehen ist, dass man hoffte, mehrere Leute dort im Prinzip festsetzen zu können – warum auch immer. Können Sie sich an diese Situation erinnern? Können Sie sich an diese Ereignisse, an diese Motivation, an diese Ziele dann zu dieser Zeit erinnern?

Ja, also um 17 Uhr ungefähr fanden sich die Leute wieder am Theaterplatz ein und wir bekamen dieselbe Aufgabenstellung: Zerstreut diese Demonstration. Da haben wir gedacht, das machen wir genauso, wie heute Vormittag und die verfolgen wir dann irgendwo und drängen sie dann in die Nebenstraßen ab und dann passen wir auf, dass die sich nicht wieder neu sammeln können. Das war so die grobe Linie. Die Leute festzunehmen, das ging eigentlich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr. Wie gesagt, am 7. Oktober mussten dann die ersten Zugeführten schon nach Bautzen ausgelagert werden, weil in Dresden alles voll war. Wenn man da nochmal ein paar hundert Leute gebracht hätte, dann wäre das der totale Kollaps gewesen, dann hätte man für jeden, der neu reinkommt, einen vorne wieder rausschmeißen müssen. Das wäre totaler Blödsinn gewesen. Dieser Auftrag stand zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr, es sei denn, man bekommt tatsächlich einen Rädelsführer, einen Wortführer, aber den gab es nicht. Die Leute demonstrierten, bzw. gingen einfach gemeinsam über die Straßen, aber die gingen über Straßen, wo man mit einer Einheit nicht hinterher konnte. Wir kamen also am Theaterplatz an2 und da liefen die Demonstranten, diese Menschenansammlung, einfach quer durch die Stadt. Heute würde man sagen über die Schloßstraße, Altmarkt, Prager Straße Richtung Bahnhof. Hinterher laufen ging nicht, also fuhren wir herum, stellten uns auf und dann versuchen wir wieder, sie auseinander zu drücken, also nicht als Pulk zusammenzulassen, sondern in kleinen Gruppen in die Nebenstraßen abzudrängen. Dann saßen wir wieder auf und fuhren zum Hauptbahnhof. Dort angekommen haben wir noch gesehen, wie die Menschenmenge kam und auf der Prager Straße, einfach so in Höhe des Hotels Newa3, wieder die Kurve machte und zurückging. Daher mussten wir wieder aufsitzen und weiter herumfahren. Das ging eine Weile und wir fuhren über den Fucikplatz4 wieder zum Theaterplatz, stellten uns wieder auf, wieder kam die Menschenmenge langsam heran, schwenkte ab und lief wieder zurück. Das war gerade so, wie das Spiel mit dem Hasen und mit dem Igel.

Irgendwann bin ich dann hoch gegangen, in den Führungsstab und hab mal etwa ganz anderes vorgeschlagen: „Wir fahren denen nur hinterher. Wir schicken jetzt die Fahrzeuge leer herum und wenn die drüben ankommen, dann sitzt keiner ab, sondern wir stellen die erstmal hin. Dann drehen die um und dann kommen die auf uns zu und dann lösen wir sie in kleine Trupps auf und drängen sie in die Seitenstraße raus.“ Der Polizeiführer sagte: „Okay, machen wir mal, einen Versuch ist es ja wert.“ Also bin ich runter zu meiner Einheit und erklärte das Vorhaben:  „Wir verstecken uns in den Seiteneingängen an der Prager Straße und in den Hotels und dann warten wir, bis die wieder zurückkommen. Dann halten wir den ganzen Troß an und dann lösen wir den auf.“ Dafür gibt es Taktiken, das ist überhaupt kein Problem. Da kann man auch mit 200/300 Leuten eine Demonstration von 5000 auflösen, das ist überhaupt keine Sache. Da muss man noch nicht einmal Gewalt anwenden.

Das heißt, Ihre Abteilung, Ihre Kollegen waren auch in Uniform oder…?

Genau, das waren Kollegen von der Bereitschaftspolizei aus Halle. Da waren mehrere Hundertschaften, drei Hundertschaften waren das insgesamt. Ich war in Zivil mit dabei. Wir haben das dann auch so gemacht wie besprochen. Die Demonstranten kamen auch wieder zurück, so wie gehofft und wir sind aus den Eingängen heraus an der Prager Straße und waren quasi in Höhe Hotel Newa, wo die Pusteblumen stehen bzw. standen, heutzutage ist er ein Stück weiter zurückgesetzt.   Wir hatten die Demonstranten im Prinzip dort eingekreist. Es waren jedoch ein paar weniger, als wir ursprünglich erwartet hatten, einige sind wohl andere Wege gegangen und waren über Nebenstraßen im Stadtgebiet irgendwo verschwunden. Aber es waren ein paar Tausende. Ich kann es nicht mehr genau sagen, irgend jemand hat es mal geschätzt, aber ich kann die Zahl nicht sagen. Es ist eigentlich auch unerheblich, ob es nun eintausend, fünftausend oder zehntausend Menschen waren, es waren erheblich viele. Nun hatten wir eine Pattsituation. Nun musste man sich überlegen, in welche Richtung die Menschenansammlung aufgelöst werden soll. Es dauerte ein paar Minuten, bevor man da eine Entscheidung fällt, und man muß auch überlegen: Okay, was macht Sinn, wohin lösen wir die Menschenmenge auf, wie machen wir es. Dann hätte es die Befehle gegeben, also Auflösung in die und die Richtung, vorher teilen, zwei Richtungen machen oder wie auch immer. Das hat ein paar Minuten gedauert.

Das heißt, die paar Minuten waren die Leute eingekesselt, die Polizisten hatten die Schilde oben und die Visiere der Helme waren unten?

Richtig. Alles martialisch, so wie gehabt. Das ist sicherlich für den Eingekreisten eine heiße Situation. Mit Sicherheit. Zum Glück hat die Entscheidung, was machen wir jetzt, ein paar Minuten gedauert, zum Glück.

Anderenfalls?

Da hätten wir vielleicht angefangen zu räumen. Richter5 wäre nicht gekommen, also wer weiß, was dann passiert wäre. Aber wie es so ist, Leuschner hat das gesagt gehabt: „Irgendwie war es ein glückliches Zusamenkommen“, er hat es irgendwie mit dem Glaubensausdruck verbunden:  „Es war ein Wunder“, das jetzt tatsächlich aus christlicher Sicht. Ich muß ihm an der Stelle bestimmt Recht geben, obwohl ich Atheist bin, aber es ist halt so. Es gibt Dinge auf der Welt, die passieren einfach und da sagen wir, das müsste eigentlich fast schon ein Wunder sein, obwohl ich eigentlich überhaupt nicht an Wunder glaube.

Und woran lag es aus Ihrer Sicht, dass es einige Minuten gab …?

Man muß sich entscheiden, man muß sich entscheiden und die Entscheidung, wie machen wir es jetzt, das dauerte halt ein paar Minuten. Das wird diskutiert, da sitzen ein paar Leute beieinander und sagen: „Wie machen wir es jetzt? Welchen Befehl geben wir jetzt raus?“ Es passierte ja nichts, wir standen ja da.

Das heißt, Sie standen mit einigen…?

Wir standen unten und sagten: „Okay, da warten wir mal, was die uns oben sagen.“ Der Herr  Nyffenegger war nicht da. Da gab es den Einsatzleiter, der aus der damaligen Bezirksbehörde war, ein Polizeiführer, ein Oberstleutnant, aber den Namen kann ich gar nicht mehr genau sagen. Das alles dauerte halt ein paar Minuten. Während der Wartezeit waren die versprengten Gruppen, die jetzt in den Straßen waren, unter anderem auch Leuschner und Richter, die beiden Kapläne, über verschiedene Seitenstraßen wieder Richtung Wiener Platz gekommen und standen der Polizeikette, die dort war, mehr oder weniger im Rücken. Nicht geballt, sondern als einzelne Gruppen von ca fünf bis sieben Leuten. Aus dieser Gruppe im Rücken kamen die beiden Kapläne auf die Absperrkette zugelaufen. Jetzt kann ich nur noch erzählen, wie es die beiden gemacht haben, wie sie mir es erzählt haben. Sie tippten irgendeinem Polizisten auf die Schulter: „Wir wollen mal mit einem Verantwortlichen sprechen.“ Der einfache Polizist, bzw. der Soldat, der Grundwehrdienstleistende, der sagte: „Da drüben, geh mal zu dem hin“, das war der Chef von der Einheit, der Oberstleutnant aus Halle, „und der da drüben, der in der blauen Jacke, da kannst Du Dich mal hinwenden, ich hab hier zu tun.“ Der Grundwehrdienstleistende wartete auf eine Anordnung aus der Führungsstelle, die jeden Moment sagen konnte, wie der Demonstrationszug aufgelöst werden sollte. Dann kamen die beiden zu mir und sagten: „Wir wollen mit den Demonstranten reden.“ – „Ja gut“, hab ich gesagt, „okay, nichts dagegen einzuwenden, gehen Sie einfach mal hinter und fragen Sie die Demonstranten, was sie eigentlich wollen.“ Ich frage mich bis heute, wie ich auf diese Idee kam, die da hinzuschicken und fragen zu lassen, was die Demonstranten da wollen. Okay, das war vielleicht naheliegend, gesunder Menschenverstand.

Sie warteten ja immernoch auf Rädelsführer ?

Rädelsführer, das war klar, das wollte keiner. Also Rädelsführer konnten wir überhaupt nicht gebrauchen, wir hatten genug Rädelsführer. Die beiden Kapläne sind also da hingegangen und kamen nach ein paar Minuten zurück und sagten: „Ja, die Demonstranten wollen mit den Verantwortlichen sprechen“, da muss ich irgendwie geantwortet, bzw. gefunkt haben, dass „wir hier zwei Kapläne, also zwei Geistliche, haben, die mit den Demonstranten reden und die Demonstranten wollen mit einem Verantwortlichen reden.“ Zu dem Zeitpunkt hatten wir uns auch schon geeinigt, mehr oder weniger. Anfangs schlugen die Demonstranten Berlin vor, was totaler Schnee ist, dann Modrow, was auch blöd ist. Ich habe dann argumentiert, dass wir hier in Dresden und Bürger Dresdens seien und was die Demonstranten von dem Oberbürgermeister Berghofer hielten. Diese Anregung wurde vorgetragen und alle waren einverstanden. Dann fand Demokratie statt.

Es gibt immer die Frage: „Wer ist auf die Zahl 20 gekommen?“, ich weiß bloß, dass ich keine tausend Leute haben wollte und unter dem Strich waren es eben 20 oder 25. Eigentlich war es vollkommen egal, es ging ja eigentlich eher darum, zu sagen, okay, lasst jetzt mal reden, wir haben ja noch Zeit, kann ja nichts verrutschen, wir lassen jetzt mal die Kaplane mit dem Demonstranten reden und dann schauen wir mal, was da passiert. Vielleicht bekommen wir das auch so hin, dass die dann wieder gehen, also dass wir hier nichts auflösen müssen, also wollten wir mal warten. Da wurden dann so am Rand die ersten Diskussionen geführt und die beiden kamen nochmal zurück zu mir. Das ging immer so hin und her, das war so ein Abstand von 20-50 Meter. Da war dann eine Frau dabei, die sagte: „Könnt Ihr mal die Jungs die Schilde runter nehmen?“, worauf es bei uns hieß: „Ja. Bewegung da hinten, Schilde ab!“ Die Jungs waren auch froh, dass sie die Schilde nun unten hinstellen konnten. Da ist auch dieses Bild geschossen worden, auf dem die Schilde noch oben waren, dann gibt es noch ein zweites Bild, da haben sie die Schilde unten am Fuß stehen und damit war mit dieser relativ einfachen Sache eigentlich jegliche Spannung aus der ganzen Geschichte raus. Irgendwo hatten wahrscheinlich auch die Leute gesehen, dass es ja jetzt erstmal entspannt zuginge. Einige hatten vielleicht auch unmittelbare Existenzangst vor irgendwelchen Gewaltübergriffen, die durchaus noch gut in Erinnerung waren. Dann wählten sie völlig demokratisch, es war für mich nach wie vor Demokratie in Reinkultur, 20-25 Delegierte. Die machten einfach Demokratie. Es wurde auch ein bisschen von Richter und Leuschner gedeichselt, dass man noch eine Frau, einen Jungen, einen Älteren, einen Arzt, einen Arbeiter und so weiter bräuchte, also im Prinzip aus allen Bereichen. Ich kann mich auch erinnern, dass Leute abgelehnt wurden. Man sagte beispielsweise: „Nein, den nicht.“ oder „Nein, anderes Beispiel.“ oder „Wer würde sich noch bereit erklären?“ Das ging tatsächlich ohne Wahlkampf, ohne auf das Ansehen der Person Rücksicht zu nehmen, vielleicht ganz einfach so, wie die Demokratie damals in Griechenland erfunden wurde. So, wie sie eigentlich funktionieren sollte.

Das ist die Führungsstelle der Polizei gewesen, also mit dem Polizeiführer. Es war zu dem Zeitpunkt eigentlich noch eine polizeiliche Lage. Dann kam aber jetzt dieses Thema mit dem Gespräch rein und das läuft eigentlich raus aus der polizeilichen Aufgabenstellung, das ist ein Problem, das muss die Politik oder an der Stelle der Bürgermeister klären. Man muss genauso sagen, dass die Kollegen, die da oben in der Führungsstelle gesessen haben, ganz genauso besonnen reagierten. So, wie ich vielleicht impulsiv, haben die mit fünf Minuten und 500 Meter Abstand genauso reagiert. Die haben also das normal Menschliche gemacht und statt die Leute auseinander zu treiben, was sie ja auch hätten machen können, haben sie den gesunden Menschenverstand walten lassen und der anderen Lösung den Vorzug gegeben. Dieses Thema, die Eskalation oder sowas, das gab es eigentlich in den polizeilichen Strategien in der DDR und, wie ich dann festgestellt habe, auch in der Bundesrepublik so gut wie gar nicht. In der Polizeidienstvorschrift, der Grundvorschrift der Polizei in der Bundesrepublik, hat das erst Einzug gehalten. Die friedliche Auflösung von Demonstrationen durch Worte, die gab es in der Konzeption überhaupt nicht. Das war auch überhaupt nicht vorgesehen. Trotzdem haben die genau so entschieden und haben die Möglichkeit genutzt, die Situation anders zu lösen. Die haben das innerhalb von Minuten auf die Reihe bekommen, haben also Nyffenegger angerufen. Dann haben die auf der oberen Ebene im Prinzip Berghofer die Karten in die Hand gegeben. Er war bereit, auch gedeckt von Modrow, das zu machen. Das wurde dann die gesamte Telefonkette zurückgemeldet: „Jawohl, das geht seinen Gang, Berghofer steht bereit, am nächsten Morgen irgendwann um … Uhr.“

Die Partei hatte das erste und das letzte Wort, auch in der Sache?

So ist es. Partei ist ja gleich Politik gewesen.

Um noch einmal ein Stück zurückzugehen, das heißt, es gab keine Vorschriften der Eskalation im Polizeidienst, das heißt die Leute in der Führungsabteilung haben sich auch gegen ihre eigenen Dienstvorschriften in dem Moment entschieden, durchgesetzt oder spontan gehandelt? Wie würden Sie das beschreiben?

Auf jeden Fall haben sie genau so gehandelt, wie man normalerweise handeln müsste. Sie haben  nicht einfach etwas gemacht, bloß weil es irgendwo in der Vorschrift steht. Sondern man muss eine Situation mit den effektivsten Mitteln lösen, das war ein Gespräch ja an der Stelle mit Sicherheit. Das haben sie ganz schnell begriffen. Die Kollegen, die das dort gemacht haben, die haben alle was im Kopf gehabt, das waren keine Dödel, wie man so schön sagt.

Hatten die auch die mit Zugeführten vollen Gefängnisse und die vollen Höfe im Hinterkopf?

Ja mit Sicherheit. Man kann ja nicht die ganze DDR einsperren, das geht ja gar nicht. Dann sind ja nur noch Polizisten auf der Straße, also das wäre natürlich auch eine tolle Sache gewesen.

Hat es Sie damals verwundert oder vielleicht auch erstaunt, dass Sie da anriefen und im Führungsstab die Gespräche, es ging also über Nyffenegger, an Böhm und dann wahrscheinlich an Modrow und an…?

Nyffenegger an Modrow, nicht an Böhm. Böhm war eine Nebenfigur an der Stelle. Böhm – ich möchte ihm nichts unterstellen – kann sein, dass der anders reagiert hätte.

Aber hat Sie an der Stelle verwundert, dass man da im Rathaus schon saß? Also dass der Landesbischof da schon war und dass da schon Gespräche geführt wurden?

Das habe ich hinterher mitbekommen, dass Berghofer mit Hempel und Ziemer am Tisch gesessen haben, nächster Zufall.

Glauben Sie an den Zufall?

Na klar. Ich glaube ja sowieso an einen Zufall und dass das dann so abläuft, das ist gesetzmäßig. Aber erst mal müssen ein paar Zutaten zusammenkommen, damit überhaupt ein Kuchen draus werden kann, ansonsten wird das nichts. Das war natürlich ein riesen Ding. Die Gewaltfreiheit ist ja das Kredo der Kirche. Dass die das dann noch an den Oberbürgermeister herangetragen haben, dass es diese 20 Leute gab und dass diese Gewaltlosigkeit unten genauso gelebt wurde, das passte alles. Es ist doch schön, dass es solche Zufälle gibt. Es wäre schlimm, wenn das nicht so gewesen wäre.

Also Sie hatten nie das Gefühl, dass es da vielleicht vorher eine Absprache gegeben haben könnte?

Nein. Auf keinen Fall. Also auch Leuschner und Richter waren jetzt nicht unbedingt in der Kirchenhierarchie diejenigen, die zum Ziemer oder zum Hempel gegangen wären und gesagt hätten: „Okay, wir gehen jetzt mal da runter zu den Demonstranten und reden miteinander und Ihr geht mal zum Bürgermeister“, das wäre einfach nur in der Hierarchie eigentlich nicht das Richtige gewesen. Ganz abgesehen davon, dass sie vom Zeitpunkt her gar nicht die Gelegenheit gehabt hätten, ein Gespräch mit denen zu führen. Nein, da muss man ja sagen, dass die Kirche das zum Glück so gemacht hat. Manchmal braucht man so einen kleinen Geburtshelfer.

Wie ging denn ab dann die Geschichte für Sie weiter? Das ist ja doch ein entscheidender Tag in Ihrem persönlichen Leben gewesen und in ihrem Berufsleben. Können Sie sich denn an die folgenden Tage und Wochen erinnern und die vielleicht im kurzen Rückblick charakterisieren?

Also das Tollste war eigentlich dieser Tag selber, das ist einer der wichtigen Tage in meinem Leben.  Ich hätte beinahe „wichtigsten“ gesagt, aber da gibt es wesentlich wichtigere. Als man die Verhandlung führte und ich dann die Namen von den Demonstranten aufschrieb, also auf einen Zettel, das war so ein wichtiger Moment. Ich appelliere nach wie vor bei jeder Gelegenheit an denjenigen, der den Zettel noch irgendwo hat, dass er mir den Zettel zukommen lässt. Ich will den nicht im Original haben, eine Abschrift oder eine Kopie mit dem Kopierer würde mir vollkommen reichen. Ich fahnde nach diesem Zettel schon seit vielen Jahren, er ist einfach weg.

Dann kamen noch Hempel und Ziemer, hielten eine kurze Rede, dass da am nächsten Tag die Auswertung der Gespräche in den Kirchen stattfinden sollte, dass die Kirche dazu die Stätten bereitstellte, das fand ich riesig. Wir haben Hempel angeguckt, der ein bisschen erhöht stand und haben uns gefragt, was wir jetzt machen. „Gehen wir nach Hause“, habe ich gesagt. Dann hat Hempel oder Ziemer gesagt: „So liebe Leute und dann einen schönen Abend, wir gehen jetzt nach Hause, wir gehen alle nach Hause“, da sind wir alle nach Hause gegangen. Das war der schönste Moment in den ganzen Tagen, dieser Abend überhaupt. Als wir unser Zeug packten, bildeten sich noch kleine Gruppen, Uniformierte standen mit dem Bürgern zusammen und haben sich noch fünf Minuten über dies und jenes gefreut und gelacht, dann sind wir nach Hause gegangen. Also das war das Tollste. Ich kann eigentlich jeden nur beglückwünschen, der an dem Abend diese Situation noch miterlebt hat, so etwas bekommt man nie wieder geboten. Nie wieder. Da kann man sonstwohin fahren, das ist einfach gigantisch. Das war also das Wichtige, dieser Moment, den habe ich irgendwo mitgenommen. Dass das geht, dass man sich so, ich sag mal so, relativ einfach miteinander verständigen kann, dass man sich auch über ziemlich komplizierte Geschichten und ziemlich komplizierte Dinge eigentlich nicht streiten, nicht zanken, nicht schlagen und schon gar nicht gegenseitig umlegen muss, wegen irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten, dass das eben geht, das hab ich so mitgenommen.

Wir sind dann doch die ganze Nacht herumgerannt, wir sind nicht nach Hause gekommen. Ich glaube, ich bin 10 Tage nicht zu Hause gewesen. Dann haben wir auch ein wenig telefoniert, ich beispielsweise auch mit meiner Frau, das war auch nicht ganz einfach. Da muß ich mal sagen, Hut ab, was meine Frau in der Zeit durchgestanden hat, das kann man gar nicht genug schätzen. Das ist so ein bisschen das Hinterland, das man dann auch braucht, was ich da auch habe. Sie wusste von der ganzen Geschichte ja gar nichts, als ich nach Hause kam und es ihr erzählte. Meine Frau hat immer ein bisschen Befürchtungen, sie ist ein bisschen eine Perfektionistin, was ich ja nun überhaupt nicht bin. In diesem Sinn war sie immer völlig konträr. Aber schön, dass das so ist, wenn jeder den anderen immer wieder ein bisschen zurückholt in das das tatsächliche Leben. Sie sagte dann: „Und jetzt? was ist wenn die Dich abholen?“, worauf ich erwiderte: „Dann ein Problem, allerdings wird mir niemand den Kopf herunterreißen deswegen.“ – „Bist du verrückt gewesen, das zu tun?“, fragte sie, worauf ich antwortete: „Ja, verrückt genug.“

Wir haben dann die Demonstrationen beobachtet, die völlig anders waren. Da ist die Polizei mitgegangen. Wir hatten Kerzen auf den Simsen, wo wir hinterher noch tagelang den Wachs von unseren Sandstein-Simsen runterkratzen mussten. Alles war wieder eins und dieser Geist, der sich da auf der Prager Straße zeigte, der ist dann in der Folge mitgezogen. Wir sprachen darüber, dass man alles klären könne, wenn man bis zum Letzten ginge. Wir wollten das, was wir bis jetzt gemacht haben, völlig über den Haufen werfen und neu darüber nachdenken. Das ist doch toll, wenn Menschen das können.

Hat das Ihr Leben, Ihr Denken nachhaltig beeinflußt? Also dieser Tag, hat der sich auch auf ihren ganz persönlichen Werdegang auswirkt?

Also in meinem Inneren überhaupt nicht. Das habe ich eigentlich schon immer gelebt, also dieses Gemeinsam. Ich hab irgendwo mal gesagt oder andere haben zu mir gesagt: „Du bist ein Philanthrop vorm Herrn“, das gibt es eigentlich gar nicht. Mich bewegen zum Beispiel solche Momente, das kann man gar nicht nachvollziehen. Da sind die Zyprioten die streiten sich seit vielen Jahren um ein Stückchen Land, ein wunderschönes Stück Land, die kommen einfach nicht zueinander. Ich bin dienstlich in Zypern gewesen, bin in Nikosia durch diese Sperre durchgegangen, von dem griechischen Teil in den türkischen Teil, das können die Zyprioten seit über 30 Jahren nicht machen. Die bekommen es nicht gebacken, sich auf ein normales Level zu einigen und dann sind diese, tut mir leid, wenn ich da den Zyprioten irgendwo Unrecht tue, Idioten nicht in der Lage, bei einer einfachen simplen Abstimmung ja zu sagen, sowas bewegt mich.

Wobei man sagen muss, dass die griechischen Zyprioten die türkischen Zyprioten überstimmt haben.

Genau. Diese Zyprioten sitzen nun da und schauen rüber und da sagt der Kneiper: „Da drüben steht mein Vaterhaus und ich würde Tod und Teufel darum geben, dass dieser Zaun hier verschwindet.“ Da gibt es die Masse und die sagen nein, das ist für mich ein Rätsel. Wo ich das hörte, die Zyprioten stimmen darüber ab, da standen mir die Tränen in den Augen. Vor allem, weil ich dahin einen Bezug hatte, weil ich das selber erlebt hatte. Also wenn man da unsere Mauer anschaut, hier in Berlin, da war das ein Scheißdreck dagegen. Was die dort abziehen, das ist unglaublich. Jedenfalls haben die das nicht hinbekommen. Im Inneren hat mich das überhaupt nicht verändert, weil ich habe eigentlich schon immer diese Situation erlebt, mit dieser Einstellung. Beruflich, ja, ich bin nach wie vor Polizist, nach wie vor bei den Spezialeinheiten, muss mich nicht mehr quälen, muss nicht mehr schwitzen und gehe nicht mehr in den Kraftraum. Das muss man dann ab einem gewissen Alter auch nicht mehr, das geht auch nicht mehr so, weil es hier und da zwickt und zwackt. Im Frühjahr war erst eine Tagung mit Kollegen aus der gesamten Bundesrepublik, da sind wir dann durch die Straßen gegangen und dann meinten sie, dass sie doch darüber gelesen hätten, dass die Ereignisse von 1989 irgendwo hier stattgefunden hätten. Wir sagten ihnen dann, dass wir es waren, die 1989 dort standen. Sie fragten: „Du?“ und ich antwortete: „Ja, ich.“ Daraufhin meinten sie nur, dass wir es toll hinbekommen hätten. Das ist als Lob genug, eigentlich müsste man das viel öfter hören, dass wir das toll hinbekommen haben.

Es wird wenig gesagt?

Ja, es wird wenig gesagt: „Ja das habt ihr doch toll hin bekommen“ und da muss ich mal sagen, dass sie Recht haben.

Sie sagten, Sie selbst hat das innerlich überhaupt nicht verändert. Hat es äußere Momente gegeben oder Anlässe, wo Sie jetzt sagen: „Da hab ich mir das noch mal hergenommen, also die Ereignisse oder die Erfahrungen dieser Tage und dann hat es mir im praktischen Wert weitergeholfen, also dann konnte ich Dinge und Situationen anders oder schneller beurteilen“? War das für Ihren Beruf…

Nein. Also das kann ich jetzt so nicht behaupten. Das wird mir nicht bewusst oder so was. Das würde meine Entscheidung nicht irgendwo beeinflussen. Damals war ich, wie gesagt, 31 Jahre alt, ein junger Kerl, da hat man natürlich ein bisschen Zeit. Jetzt sind 20 Jahre dazwischen und da wird man auch gesetzter, abgeklärter. Es kommt ein ganzer Schwung Lebenserfahrung mit dazu. Ich glaube, das ist das Leben insgesamt, was das ausmacht. Wenn man eine gewisse Grundeinstellung hat, dann hat man diese auch im Alter, diese Grundeinstellung ändert sich auch nicht. Der Charakter des Menschen ändert sich vielleicht in verschiedenen Facetten, aber im Grunde bleibt er gleich. Bei einer Entscheidung, ob nun polizeilich oder privat, hat das eigentlich überhaupt keine Rolle gespielt. Manche Dinge, wie die Abgeklärtheit, die Ruhe oder so was oder darüber 5 Minuten nachzudenken, mal sachte zu machen, bevor man etwas macht, das ist mit dem Alter gekommen.

Wie war denn die Reaktion der Kollegen, der Polizistenkollegen damals und im Laufe dieser 20 Jahre, hat das für Sie eine Rolle gespielt?

Also meine Kollegen meinten damals: „Hast Du gut gemacht.“ und „War okay.“ und „Klasse, wir brauchen morgen auf keinen Fall wieder arbeiten zu gehen.“ und „Ja da packen wir ein, hier können wir abrüsten, hier brauchen wir morgen nicht mehr herkommen, wir können zurückfahren.“ Das war die erste Reaktion. Ich treffe mich mit meinen ehemaligen Kollegen noch heute mehrfach jedes Jahr. Der Zusammenhalt dieser Truppe, obwohl sie weit verstreut sind, funktioniert nach wie vor. Der Tag selber und die Ereignisse um den Oktober herum, spielen bei uns in den Erzählungen keine Rolle, da gab es viel Bewegenderes. Für uns war es ein Alltag, einfach eine Entscheidung, eine Einsatzsituation, wie es so viele waren. Da sagt auch keiner immer wieder aufs Neue: „Mensch! ’89, das haben wir aber toll gemacht“ oder „Überhaupt, das hast Du gut gemacht“, da macht man kein Gewese drum, weder von mir, noch von den anderen. Selbst, wenn da einer dem anderen das Leben gerettet hätte, das wäre selbstverständlich. So verstehen wir uns heute noch. Bei anderen hat das schon ab und zu mal eine Rolle gespielt. Meine Klassenkameraden haben beispielsweise auf einem Klassentreffen gefragt: „Sag mal, ’89 und so, im Oktober, wie war das?“, da muss man das ein bisschen erklären oder ein bisschen erzählen, dann ist es aber auch wieder gut. Es wird mehr von der Öffentlichkeit wahrgenommen, in zyklischen Abfolgen und vor allen Dingen von vielen Kollegen, die nicht in der DDR groß geworden sind, die wollen das schon ziemlich genau wissen. Die sind dann auch relativ erstaunt, welche Rolle hier wer spielt. Mein jetziger Chef vom LKA, der sagt dann immer: „Ach das waren Sie, das wusste ich gar nicht.“ – „Jaja“, sag ich, ,,das ist auch nicht unbedingt so dramatisch, meine Rolle war so und so viel und ich habe durch dummen Zufall mal so einen kleinen Schubs gemacht gehabt und es ging glücklicherweise gut aus.“ Ich habe da nie irgendwo einen Hermann drum gemacht, wie wir so schön dresdnerisch sagen.

Manche haben uns auch gesagt in diesen Gesprächen, Sie haben viele Jahre gar nicht darüber nachgedacht oder viele Jahre gar nicht darüber gesprochen, weil es sich entweder nicht ergab oder nicht ergeben wollte oder der Alltag viel aufregender war, als die Erinnerung. Haben Sie das auch so empfunden? Waren für Sie die letzten 20 Jahre spannend, aufregend und könnten Sie da vielleicht im kurzen Zeitraffer drüberschauen? Diese 20 Jahre, wie würden Sie die für sich selber, für sich ganz persönlich beschreiben?

Ich will mal nicht sagen „Wende“, weil das ja eigentlich schon ein belegter Begriff ist, ich sage mal so: mein Horizont ist irgendwo weiter geworden. Die Möglichkeiten, die man hatte, sind weiter geworden. Die Anforderungen, die an einen gestellt werden, sind vielfältiger geworden. Das ist halt so. Das sind völlig neue Dimensionen, die sich aufgetan haben. Im Prinzip mit 1989, ob das tatsächlich eine Wende war, also für mich gesehen, vielleicht, das will ich jetzt gar nicht so sagen, aber es war einfach nur schau. Ich möchte keinen Tag missen.

Von den damaligen oder von den letzten 20 Jahren?

Von den letzten 51 Jahren, das ist so.

Vielleicht noch ein Satz, ein abschließender Satz. Welchen Einfluß, glauben Sie, hatten die Ereignisse in Dresden, also ganz speziell da vorm Bahnhof, wo Sie auch beteiligt waren, auf die Ereignisse im Herbst 1989 generell in der DDR? Also mit allen Entscheidung bis hin zum 9. November hin, als die Mauer geöffnet wurde. Welchen Einfluß oder welche Bedeutung hatten da diese Tage um den Dresdner Bahnhof?

Ich sage es mal so: Mit Sicherheit ist da sehr vielen klar geworden, von wem die eigentliche Macht ausgeht. Man hat das nochmal gesehen, als dann fünfhunderttausend Menschen in Berlin auf dem Platz standen und die Redner auspfiffen. Da haben sie tatsächlich gemerkt, dass sie völlig danebenliegen. Da muss ich mal sagen, in Leipzig und in Berlin dann, da ging es tatsächlich auf die Wende zu, das war die Wende. Vorher war eher so ein Vorgeplänkel, Dresden war der kleine Funke. In Leipzig, mein lieber Mann und in Berlin fünfhunderttausend pfeifen den Nachfolger aus und holen den quasi von der Bühne herunter. Da hat man gesagt: „Okay, eigentlich ist das, was wir hier machen, nicht mehr des Volkes Politik.“ Zu was das führen kann, wenn man das ignoriert, hat man dann in Dresden gesehen. Also das war so eine Abfolge, ja das ist doch schau so.

Und wann war das Ihnen persönlich klar, dass Sie sagten, das mit der DDR hat sich wahrscheinlich erledigt?

Das war im Frühjahr 1990. Nein, es war noch im Winter 1989. Da bin ich zu einer Bezirksdelegiertenkonferenz gegangen, ich war Parteisekretär bei uns hier. Man musste gar nicht delegiert werden, das war ja schon das erste Novum, man musste gar nicht mehr gewählt werden, damit man da irgendwo hingehen konnte. Nein, Kreisdelegierter von der Stadt war ich. Da war ein Podium bei der Partei aufgebaut vorne und da zogen ein paar vom Leder. Es war Anarchie, von deutscher Zucht und Ordnung und Disziplin, wie in der Partei, konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Das ging Nachmittags los und dauerte den ganzen Tag. Da wurde dann auch irgendwie darum gestritten, wer hier gewählt wird oder wie. Die Wahl habe ich gar nicht mehr erlebt, ich wusste bloß, dass am nächsten Tag Christine Ostrowskie als neue Vorsitzende der Partei gewählt wurde. Da habe ich dann zu einem Kollegen gesagt, es war so ungefähr 22 Uhr: „Weißt Du noch, warum wir hier sind?“, was er verneinte. Wir wunderten uns, ob wir im falschen Film seien und beschlossen, zu gehen, weil das, was die damals erzählten, Geschichte ist. „Hier ändert sich alles“, sagte mein Kollege, „hier in dem Laden ändert sich noch alles“. Das stimmte. „Was meinst Du denn, wie lange das noch dauert, dass hier alles den Bach runter geht?“, fragte er und fuhr aus Spass fort: „Vaclav hat ’86 gesagt, dass die Mauer fällt.“ – „Da brauchen wir ja nur ein paar Minuten warten“, erwiderte ich. Nun muss ich noch erklären, wer Vaclav ist. Vaclav ist ein Tscheche  gewesen, zu dem sind sehr viele Kollegen immer in den Urlaub gefahren. Der hat im Sudetenland gewohnt, hinter Harrachov und der hat 1986 beim Bier gesagt: „und übrigens, bevor ich in die Kiste hüpfe gibt es die DDR nicht mehr, da fällt die Mauer“, darauf hab ich gesagt: „Vaclav, willst Du 200 Jahre alt werden?“, darauf erwiderte er: „Nein, das kommt noch ’90.“ Und es kam tatsächlich so.

Aber das war dann schon noch 1989?

Das war 89.

Das heißt, das war noch vor dem 9. November?

Ja, das war noch vor dem 9. November. Okay, das war so die Geschichte, also dass die Mauer fällt und so was. 1989 ist sie gefallen, im November war ja dann Schluß, also war das irgendwo abzusehen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Vereinigung 1989, also das mit dem Mauerfall, so schnell geht.

Das heißt, nach diesen Tagen auf der Prager Straße verging schon noch mal eine gewisse Zeit, wo Sie dachten, das war eine kleine Episode hier innerhalb der DDR, aber es geht im Grunde genommen erst mal so weiter?

Das haben wir gedacht, das hab ich tatsächlich gedacht. Man kann ja sicherlich vieles ändern, aber  dass es so bis an die Grundfesten gehen würde, das hab ich zu dem Zeitpunkt im Oktober überhaupt nicht gedacht. Wer das vorausgesehen haben will, dem hätte ich gesagt: „Okay, du bist ein Hellseher.“ Das behaupten manche, dass sie das schon vorher geahnt haben. Ich sage es mal so: die haben es gehofft. Aber schön, dass es so gekommen ist.

Aber Sie bereuen das nicht?

Nein. Ich kann ja sagen, dass ich Wendegewinner bin. Für mich hat sich das eigentlich nach vorne entwickelt. Manches ist nicht einfacher geworden, mit Sicherheit nicht, also da hat man in der DDR wesentlich ruhiger, abgesicherter gelebt – klar, mit viel weniger Komfort und Unmengen von Einschränkungen. Viele sagen: „Okay, ich war politisch unfrei“, das ist den meisten sicherlich gar nicht bewusst gewesen, dass sie politisch unfrei waren, also zumindest ist es nicht ins Bewusstsein gelangt. Das waren mit Sicherheit nur wenige, die sich da kritisch mit solchen Dingen auseinandergesetzt haben. Da fordert mir die Zeit heute wesentlich mehr ab, aber das finde ich irgendwo angenehm. Man kann ja nicht immer alles schön und rosa malen, das Leben schlägt manchmal unbarmherzig zu. Trotzdem: Insgesamt gesehen ist das für mich schön nach vorn gegangen, für mich und meine Familie, auch für eine ganze Menge von Bekannten und Verwandten. Es hat auch viele hart getroffen, für die es nicht einfach ist, die sich aber irgendwie in diesem Statt hier arrangieren. Wenn man so halbwegs bei Verstand ist und auch will, dann geht hier eigentlich keiner unter.


1: Volkspolizeikreisamt

2: am 8. Oktober

3: Hotel Newa ist heute Hotel Pullmann

4: Heute Straßburger Platz

5: Kaplan Frank Richter und Kaplan Andreas Leuschner