Frank Richter

Kurzbiografie

Frank Richter war 1989 Kaplan an der Dresdner Hofkirche und vermittelte am Abend des 8. Oktober zwischen der Polizei und den Demonstranten.

Im Jahr 2006 legte er seine kirchlichen Ämter nieder und heiratete. Frank Richter war u.a. Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, arbeitete als Geschäftsführer für die Dresdner Frauenkirche und ist SPD Landtagsabgeordneter in Dresden. Das Interview führte Thomas Eichberg.

Frank Richter, geb. 1960

Interview

Wir kommen auf die Zeit vor 20 Jahren zurück. Es ist Oktober. Es war, glaube ich, ein sehr warmer Oktober, es war sehr sonnig. Spätsommer. Können Sie sich an die Situation auf der Prager Straße erinnern? An diesem Abend, als zehntausende Dresdner zusammen­kamen, um da zu demonstrieren und sich an einer massiven Polizeikette stauten?

Meines Wissens war zumindest der 8. Oktober ein regnerischer Tag. Ich glaube am 7. Oktober hat es auch schon geregnet. Es war nicht kalt, aber es war nicht freundlich. Am 8. Oktober, in den Abendstunden, hat es in der Innenstadt von Dresden eine große Demonstration gegeben, an der ich mich beteiligt habe. Ich war in Richtung Hauptbahnhof gegangen, war aber gar nicht weit gekommen, sondern bereits auf der Prager Straße stehen geblieben, weil das Ganze stockte. Dort habe ich, also ich schätze es war so gegen 19 Uhr, das erste Mal persönlich erlebt, wie eine Demonstration sich in Bewegung setzt. Weil an irgendeiner Ecke die Leute begannen, sich mit Sprechchören bemerkbar zu machen und dann loszulaufen. Ich kann mich sehr gut erinnern an diesen Ruf „Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann.“ In diesen Tagen hat es ja auch eine eigene Revolutionslyrik gegeben. Der Zug ging durch die ganze Innenstadt, von der Prager Straße Richtung Ernst-Thälmann-Straße, heute Wilsdrufferstraße, dann Postplatz, dann zur Semperoper an der Hofkirche vorbei. Und da ich ja damals noch an der Hofkirche beschäftigt war, bin ich dann ausgeschert und in die Kirche gegangen. Ich weiß, ich hatte dort noch irgendetwas zu tun, ich hatte ja den Schlüssel. Als ich wieder rauskam, war der Zug längst weitergezogen. Da bin ich dann dem Instinkt gefolgt, habe gesagt, die werden bestimmt eine Runde drehen und dann wieder auf der Prager Straße ankommen. Ich hab dann sozusagen den kürzeren Weg genommen, in Richtung Prager Straße. Und es war auch genau so. Der Demonstrationszug kam mir auf der Ernst-Thälmann- Straße entgegen, was dann dazu führte, dass ich einfach an die Spitze geriet, oder relativ an die Spitze dieses Zuges, sonst wäre ich wahrscheinlich mittendrin gewesen, und bin dann mit der Spitze dieses Zuges wieder Richtung Hauptbahnhof gegangen.

In mir wuchs die Angst und auch die Sorge, hier wird jetzt wohl bald eine Konfrontation mit der Polizei eintreten. In der Nähe des Hauptbahnhofes hatte ich an den Vortagen immer die stärksten Auseinandersetzungen mit den Polizisten erlebt. Ich vermutete richtig. Schon am damaligen Centrum-Warenhaus begegneten uns die ersten Polizeitrupps, die auf uns zu  rannten, Stöcke schlagend auf die Schilde, die sie vor sich trugen. Ich möchte schon auch gelegentlich immer mal wieder diese Bilder wachrufen, die es gab. Ich kann mich erinnern, dass ich dort das erste Mal gerannt bin wie ein Hase. Einmal um das Centrum-Warenhaus rundherum, sozusagen auf der Flucht, dann aber wieder sofort mich einreihend in den Demonstrationszug, das heißt der Polizei gelang nicht, was sie wollte. Sie wollte und sollte die Demonstrationszüge auseinandertreiben. Dazu war sie nicht in der Lage. Das spricht für den Mut und auch für die Entschlossenheit der Demonstranten, nicht zu weichen. Das bezeugen übrigens auch die Massen, die damals auf den Straßen waren. Einmal um das Centrum-Warenhaus herum und dann wieder in den Demonstrationszug, der dann weiter vorrückte. Auf der Höhe des damaligen Hotels Newa1 stand eine Polizeikette und die verhinderte den Weitermarsch der Demonstration. Ich habe es so in Erinnerung, dass einige sich dann schon auf die Erde gesetzt hatten. Ich sah also vor mir die Polizisten, ich sah links von mir die Polizisten, ich sah rechts von mir die Polizisten und hinter mir konnte ich nicht sehen, was da los ist. Ich sah nur sehr viele Menschen. Ich musste vermuten, dass ich jetzt eingekesselt war. Also genau in einer solchen Situation, wie ich sie an den Vorabenden immer beobachtet habe und beobachten musste. Also jetzt wirst du wahrscheinlich verhaftet werden und du wirst dann wahrscheinlich nach Bautzen gebracht werden. Ich hatte ja schon Kenntnis davon, zu diesem Zeitpunkt, dass es diese Gefängnisse gab und auch eine Teilkenntnis davon, was sich in diesen Gefängnissen abspielte. Für diesen Fall war mir im Hinterkopf so was wie ein kleiner Plan entstanden: Ich werde das nicht einfach über mich ergehen lassen, ich werde wenigstens den naiven Versuch unternehmen, mit den Polizisten zu sprechen. Ich hatte den Andreas Leuschner in meiner Nähe, ein guter Freund von mir und den habe ich kurz gefragt: „Kommst du mit? Wir gehen mal zu den Polizisten.“ Er ist sofort mitgegangen. Ich habe noch gut in Erinnerung, dass ich die Polizisten, denen ich da begegnete, angesprochen habe mit der Bitte: „Sagen sie mir, wer der Einsatzleiter ist, ich möchte mit ihm sprechen.“ Ich habe auch in Erinnerung, dass hat sich mir tief eingebrannt, dass ich mindestens 20 Polizisten gefragt habe und kein einziger antwortete mir. Ich habe in Erinnerung, dass die verschämt auf den Erdboden schauten, kaum einer hat den Blickkontakt ausgehalten. Was in mir ja auch was ausgelöst hat, nicht? Die Frage, wer ist denn hier der Mächtige oder wer ist hier der Ohnmächtige, wer hat hier Angst? Vielleicht ist alles ganz anders, als man so meint oder denkt. Im letzten Moment, bevor wir schon aufgeben wollten, kam aus dem Hintergrund ein junger Mann auf mich zu, mit einem ganz offenen, ja fast fröhlichen Gesicht. So habe ich es in Erinnerung. Er stellte sich mir nicht vor, aber er sagte: „Was wollen sie?“ und da gab es diesen vielleicht entscheidenden Wortwechsel. Ich sagte ihm: „Ich glaube, sie wollen keine Gewalt und ich glaube, die Menschen, die sich hier versammelt haben, wollen auch keine Gewalt anwenden. Lassen sie uns miteinander reden, rufen Sie den Oberbürgermeister an, der ist zuständig für das, was in dieser Stadt geschieht und ich rede in der Zwischenzeit mit den Leuten hier. Wir wollen den Versuch unternehmen, einen Dialog zu beginnen.“ Da sagte dieser junge Mann: „Ja, ich gehe jetzt den Oberbürgermeister anrufen.“ Das war, wenn Sie so wollen, einer der entscheidenden Momente. Heute erscheint uns das das Normalste auf der Welt zu sein, dass man, wenn man ein Problem, einen Konflikt hat, miteinander redet. Damals war es eben nicht das Normalste, sondern das Ungewöhnliche. Ich hatte nun quasi den mir selbst gegebenen Auftrag, mit den Leuten zu sprechen. Es gab so ein kleines Niemandsland zwischen den Demonstranten und den Polizisten. Das war vielleicht 50 Meter. Und da war dieser Springbrunnen, am Ende der Prager Straße. Als ich da die paar Sekunden rüber ging, dachte ich, du könntest dich auf die Einfassung dieses Springbrunnens stellen. Aber es ist furchtbar blöd, der rauscht so laut, dich wird kein Mensch verstehen können. Ich erzähle ihnen keine Märchen aus 1001 Nacht, ich stellte mich da oben auf diese Einfassung des Springbrunnens und war in dem Moment für viele Leute sichtbar und in demselben Moment schaltete sich dieser Springbrunnen ab und es war still. Es gab den ersten Applaus dieses Abends, jeder soll sich selbst beantworten, wem dieser Applaus galt. Ich weiß auch bis heute nicht, ob dieser Springbrunnen sich immer zu diesem bestimmten Zeitpunkt abschaltet oder ob ihn jemand abgeschaltet hat. Lassen wir es mal offen. Ich konnte also relativ frei und hörbar sprechen, obwohl ich natürlich trotzdem laut rufen musste. Ich habe einfach nur gesagt: „Lassen Sie uns eine Gruppe bilden, vielleicht ist der Oberbürgermeister ja bereit, mit uns zu sprechen. Zehn Leute könnten sinnvoll sein.“ Es sind dann sofort viele nach vorn gekommen. Wir, der Andreas und ich sagen immer, es sind bestimmt 50 nach vorn gekommen und wir haben aus diesen 50 oder aus dieser Gruppe, die da vorn strömte, 23 Personen gewählt. Es ging uns nicht um die Zahl 23, sondern es ging uns um etwas anderes. Ich habe es so in Erinnerung, dass ich dem Andreas gesagt habe: „Du, pass auf, es müssen ein paar Akademiker dabei sein, es müssen ein paar Arbeiter dabei sein, ein paar Studenten, Frauen und Männer, wir wollen die Gruppe so zusammenstellen, dass sie sichtbar eine repräsentative Gruppe für die Stadt Dresden ist. Es geht darum, dass nicht der Eindruck entsteht, hier würde zwischen Kirche und Staat ein Problem sein. Es geht doch nicht darum, dass hier lauter Pfarrer drin sind. Im Gegenteil, weniger wären besser, denn das Problem besteht nicht zwischen Kirche und Staat, das Problem besteht zwischen Volk und Staat. Also muss es eine Gruppe sein, die das Volk, also die Bevölkerung der Stadt Dresden repräsentativ darstellt.“

So sind diese 23 Personen zusammengestellt worden. Man nannte sie später die „Gruppe der 20“, die historische Wahrheit gebietet zu sagen, es waren an diesem Abend 23. Von dieser Gruppe gibt es ein Foto, das ist nicht vom Staatssicherheitsdienst fotografiert worden, sondern von einem jungen Mann, von dem Herrn Pohl, der damals zufällig gerade im Hotel Königstein übernachtete und von oben das betrachtete, was unten geschah und das fotografiert hat. Ist ja eine bemerkenswerte Angelegenheit. Freu mich natürlich sehr, dass das auch festgehalten worden ist. Der zweite Akt, wenn ich das so sagen darf, bestand dann für mich darin, der Menschenmenge, die ich da vor mir sah, zu zu rufen: „Jetzt müssen wir noch die Themen festlegen, über die geredet werden soll, wenn der Oberbürgermeister bereit ist, mit uns zu reden.“ Da kamen acht Forderungen auf Zuruf: Reisefreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Wahlfreiheit, Zulassung des Neuen Forums, Freilassung der politischen Gefangenen, friedlicher Dialog in der Gesellschaft und die Errichtung eines zivilen Ersatzdienstes. Das habe ich bis heute im Ohr. Wenn sie so wollen, ein kleiner Katalog bürgerlicher Freiheitsrechte. Das heißt, die Menschen haben dort auf der Straße, für mich ein höchst bemerkenswerter Akt, eine hohe politische und demokratische Kompetenz unter Beweis gestellt und das waren die Ostdeutschen, die das 1989 nicht nur dort an dieser Stelle in Dresden, sondern an vielen anderen Stellen aus eigener Kraft und mit eigener Überlegung taten. Das macht das Bemerkenswerte und vielleicht auch das Einzigartige dieser friedlichen Revolution von 1989 in der DDR aus. Das haben wir so auf deutschem Boden vorher nicht gehabt und wir müssen es hoffentlich auch nicht wiederhaben. Die Revolution hat ja gerade stattgefunden, um sich selbst abzuschaffen, das heißt um demokratische Vorgänge in die Wege zu leiten. Wir wussten in dem Moment auf der Straße nicht, dass nahezu zeitgleich Christof Ziemer, der Superintendent der Kreuzkirche, Johannes Hempel, der evangelische Landesbischof und Oberlandeskirchenrat Fritz sich bei Berghofer im Büro befanden. Heute weiß ich aus der Aktenlage, dass sie etwas verspätet zu dem, was auf der Straße geschah, dort Gehör gefunden haben. Ich wusste das nicht auf der Straße, dass da oben gerade verhandelt wurde und die, die da oben im Büro Berghofer verhandelten, wussten nichts von dem, was da auf der Straße geschah. Meine Wahrnehmung ist, dass diese Dinge nahezu zeitgleich zusammenkamen. Ob es ein Telefonat gegeben hat, das tatsächlich von dem Polizisten bis ins Büro von Oberbürgermeister Berghofer durchdrang, das weiß ich bis heute nicht. Ich habe Unterschiedlichstes dazu gehört. Für mich ist in der Bewertung etwas anderes entscheidend. In der Stadt Dresden haben nahezu zeitgleich an mehreren Stellen Veränderungen begonnen, weil Menschen in verschiedenen Funktionen und an verschiedenen Stellen sagten, so kann es nicht weitergehen. Wir müssen etwas Neues machen. Wir müssen auch neu denken. Wir müssen miteinander reden. Die Dresdner Ereignisse erfüllen das, was ich mit dem Begriff Fügung verbinden möchte. Keiner der einzeln Handelnden hätte für sich alleine etwas verändern können. Wir nicht auf der Straße, der Polizist alleine auch nicht. Herr Berghofer auch nicht. Auch die evangelischen Kirchenleute nicht. Sondern hier fügte sich plötzlich in wenigen Minuten etwas zusammen, auf eine so wunderbare Weise, dass genau dadurch etwas Neues entstehen konnte, etwas gewaltig Neues. Die Demonstrationen liefen von jetzt an ohne Verhaftungen ab, man begann strukturiert, auf demokratische, humane Weise miteinander zu reden. Man erlernte Demokratie neu. Man hatte auch die Themen sofort da. Das darf die Stadt Dresden sich zu Gute halten, dass sie an diesem 8. Oktober 1989 etwas ganz Wunderbares erlebt hat, weil die Bürger so mutig waren. Ich mag die selbsternannten Helden nicht. Wenn es Helden gab, dann sind es die tausenden, einfachen Menschen auf der Straße gewesen, die da mutig vorangingen. Ohne diese Mengen und Massen von Menschen auf den Straßen hätte kein einziger Herausgehobener etwas tun können. Natürlich, die Geistesgegenwart von politisch Handelnden, gerade auch der 23 Leute, das ist ein Verdienst, aber der wäre nicht zustande gekommen, wenn es die Menschenmengen auf den Straßen nicht gegeben hätte.

In welcher Person oder Funktion sahen Sie sich denn, als Sie zu der Demonstration gingen? Waren Sie eher der Privatmann Herr Richter, der an diesem Abend losging? Oder haben Sie gesagt: Ich muss auch die Rolle der Kirche bewusst machen und Verantwortung zeigen und mich auch als Kirchenmann an die vorderste Linie bringen?

Also der Mensch Frank Richter war christlich und kirchlich hoch aufgeladen. Der konnte auch in diesem Moment das Eine vom Anderen nicht richtig unterscheiden. Der Mensch Frank Richter hatte den Eindruck damals gehabt, es müsse doch möglich sein, diese blinde Gewalt, die es da auf der Straße jeden Abend gab, zu beenden. Natürlich hat dieser Mensch Frank Richter in dem Moment auch als ein Amtsträger der Kirche, der katholischen Kirche, in dem Fall, gehandelt. Auch deswegen gehandelt, weil er als dieser Amtsträger relativ geschützt war. Ich habe als Person und als Amtsträger viel weniger riskiert, als die allermeisten Menschen, die da mit mir auf der Straße waren. Ich habe mich schwarz gekleidet, wie ich das ansonsten selten tat, aber wenn ich da abends auf die Straße ging, habe ich mein klerikales Gewand angezogen, weil ich annehmen konnte, dass mich das schützt. Darüber hinaus habe ich es auch als eine Aufgabe von Kirche, zu der ich ja gehörte, begriffen, da politisch zu handeln. Die Kirche hat kein politisches Mandat im engeren Sinne, aber in solchen besonderen Situationen muss sie ihre Eigenständigkeit in die Waagschale werfen, um politische Veränderungen in einem friedlichen Sinne voranzubringen. In dieser Mischung hat das stattgefunden. Aber ich habe an dem Abend wenig darüber nachgedacht. Wichtig war für mich: Als es zu dieser Entscheidung kam, wir treffen uns morgen Abend wieder und dann in kirchlichen Räumen, da konnte ich ja als einer, der zu dieser Kirche gehörte, relativ frei entscheiden und sagen, morgen Abend alle wieder da. Zusammen mit Christof Ziemer wurde das kurz ausgehandelt in vier großen Dresdner Kirchen.

War es mit ihren Mitstreitern innerhalb der Kirche abgesprochen, dass Sie da hingehen und diese Rolle übernehmen oder war das Ihr eigener Entschluss?

Ich habe an dem Abend aus vollständigem eigenen Entschluss gehandelt.

Als Sie sich der Polizei vorstellten bzw. diesem Führungsoffizier in Zivil, haben Sie da als Kirchenmann zu ihm gesprochen, haben Sie zu ihm gesagt: „Ich komme aus der Hofkirche“ oder haben Sie gesagt: „Ich bin der Herr Richter“?

Die Erinnerung ist eine schwierige Angelegenheit nach 20 Jahren. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich mich nicht vorgestellt. Es könnte sein, dass ich vielleicht kurz gesagt habe Kaplan Richter oder so. Ich habe mich vielleicht auch vorgestellt gefühlt, gerade auch durch meine Kleidung. Ich konnte annehmen, so meine Erinnerung von heute, dass er mich als Geistlichen erkennt und damit auch etwas in Verbindung bringt. Aber die Momente unseres Gespräches waren viel zu kurz, als dass da lange Vorstellungen möglich gewesen wären.

Wie war das, als Sie sich vorstellten? Wie lange hat es denn gedauert, bis Sie eine Antwort bekommen haben? Oder wie kam überhaupt die Antwort zu Ihnen?

Es war ein kurzes Gespräch, das vielleicht eine halbe Minute dauerte. Heute weiß ich, wie der Einsatzleiter dieses Abends hieß: Detlef Pappermann. Damals wusste ich es nicht, er hat sich mir nicht vorgestellt, das war mir auch nicht wichtig. Die Antwort von ihm kam postwendend. Ich hab das Gesicht noch vor mir, einen jungen Mann, der kurz nachdenkt und der sagt: „Ja, ich geh jetzt telefonieren.“ Ich hab im Nachhinein oft mit ihm darüber gesprochen. Meiner Einschätzung nach, entschuldigen Sie diesen Ausdruck, hatte er an diesem Abend dann auch wirklich endgültig die Schnauze voll, weil er schon viele Tage, ich glaube vier oder fünf Tage, ununterbrochen im Dienst gewesen war. Den Eindruck hatte auch die Einsatzleitung, die Befehlslage ist unklar oder sie führt auf keinen Fall dazu, dass das gelingen kann, was da gewollt ist, nämlich die Demonstranten auseinander zu treiben. Das werden ja jeden Abend mehr. Das sind doch friedliche Leute, das sind doch keine Rowdys. Der war in dem Moment auch so weit zu sagen: „Stop! Jetzt fange ich etwas ganz Neues an“ und das war aus seiner Sicht auch mutig.

Sie sagten, Sie haben die Gruppe der 20 oder die Gruppe der 23, um korrekt zu sein, nach sozialen Aspekten ausgewählt, wollten so verschiedene Menschen wie möglich drin haben, wenig Kircheneinfluss. Standen die Leute Ihnen eher nahe, in diesem Moment, an diesem Brunnen, ich meine räumlich sehr nahe, waren sie wenige Meter von Ihnen entfernt oder wie kamen die auf Sie zu? Gab es Handzeichen? Sind sie einfach nach vorn gekommen?

Ich erinnere mich daran, dass zwischen mir und der Menge, zu der ich sprach, von diesem besagten Springbrunnen aus, zehn oder 15 Meter Zwischenraum waren. Nachdem ich gesagt hatte: „Wir wollen eine Gruppe bilden, wer mitmachen will, komme bitte vor“, erinnere ich mich daran, dass wirklich 40, 50 Leute nach vorn stürmten. Das heißt, sie rannten auf uns zu. Andreas stand ja in meiner Nähe. Es blieben also nur wenige Momente zu überlegen, wie kommt diese Gruppe zustande. Heute noch staune ich darüber, dass diese besagten Personen sich von uns beiden auch auswählen ließen. Das heißt, einige haben wir ja dezidiert zurückgeschickt. Es ist fast etwas schmeichelhaft, die ließen sich von uns zurückschicken und die anderen ließen sich von uns auswählen. Nach diesem Vorgang der Auswahl wollte ich das relativ schnell auch auf diese Gruppe zurückgeben. Es war ja nicht meine Absicht, an der Spitze dieser Gruppe zu bleiben. Nach dieser Auswahl habe ich dann darum gebeten, dass die Menschenmenge, die ich vor mir sah, auch noch durch einen Beifall diese Gruppe mandatiert. Durch Applaus. Das geschah. Wir standen natürlich sehr nah beieinander und es ging auch eng zu. Wir waren uns nicht nur körperlich sehr nah in dem Moment, sondern auch geistig und emotional. Der riese Vorteil dieser Gruppe bestand darin, dass sie keinen einzigen inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes in ihren Reihen hatte.

So schnell waren die Damen und Herren vom IM nicht. Das unterschied die Gruppe der 20 lange Zeit ganz maßgeblich von allen anderen oppositionellen Gruppen, die ja langsam entstanden waren und sich so strukturiert hatten. Die Gruppe hatte natürlich auch einen riesen Nachteil, sie war nicht wirklich kompetent für die Fragen, die dann zu behandeln waren, aber da hat sie sich dann später kompetent gemacht.

Es schieden ja Leute aus, es kamen später andere dazu. Hatten Sie darauf noch Einfluss? Geschah das aus einem gruppendynamischen Prozess? Oder können Sie sich daran erinnern, warum das passiert ist?

Der personelle Wechsel innerhalb der Gruppe in den Tagen und Wochen danach, hatte verschiedene Ursachen. Eine Ursache bestand meines Wissens darin, dass einige Gruppenmitglieder sich relativ schnell zurückzogen, weil sie selbst merkten, dass ist jetzt für mich eine Nummer zu groß oder es ist vielleicht auch zu gefährlich. Ich erinnere mich schwach an einen jungen Mann, der dann fern blieb, weil die Eltern wohl Einfluss auf ihn nahmen. Ich bin kein Historiker, aber ich erinnere mich, dass es bei einem, glaube ich, so war. Andere, wie ich zum Beispiel selbst, haben sich dann aus bestimmten Gründen, die dann auch kommuniziert wurden, zurückgezogen, weil sie sagten, ich habe jetzt etwas Entscheidendes getan, aber jetzt mögen andere bitte die Sache fortsetzten. Das geschah dann aber sehr überlegt. Die Personen, die dann rein kamen, während andere raus gingen, wurden natürlich auf Treu und Glauben genau angeschaut. Genießen die wirklich unser Vertrauen? So habe ich es jedenfalls getan, als ich Herbert Wagner ansprach, und sagte: “Kommen Sie für mich in die Gruppe, ich glaube Sie sind dafür kompetent.“ Es gab wohl noch einen dritten Grund, den ich nicht so deutlich belegen kann, wie ich es tun müsste, aber ich will ihn trotzdem mal nennen: Ich hatte den Eindruck, dass einige auch deswegen fern blieben, weil sie unter Druck gesetzt wurden oder sich unter Druck gesetzt fühlten. Denn diese wenigen Personen, das weiß ich ja auch, waren innerhalb kürzester Zeit, es hat keinen halben Tag gedauert, namentlich mit Adresse beim Staatssicherheitsdienst bekannt. Sie mussten also davon ausgehen, dass sie observiert werden, dass sie vielleicht auch mit Repressalien zu rechnen haben würden. Das heißt also, einige zogen sich wohl auch aus Angst zurück.

Können Sie sich noch erinnern, wer diese Liste weitergeben hat?

Die namentliche Liste, also, wir selbst haben eine Liste angefertigt, die ist noch an dem Abend auf der Straße angefertigt worden. Das habe ich nicht selbst getan, das geschah in der Gruppe. Ich war ja zwischendurch auch immer wieder mit Verhandlungen beschäftigt. Wie der Staatssicherheitsdienst in kürzester Zeit zu genauen Namen und Adressen kam, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, dass er es innerhalb kürzester Zeit wusste.

Versuchte in dieser Zeit jemand auf Sie Einfluss zu nehmen?

Die für mich persönlich entscheidende Phase, diese Zeit würde ich bemessen vom vierten Oktober bis zum neunten Oktober und dann noch mal bis zum 17. Oktober, als dann schon das zweite Rathausgespräch mit Berghofer stattfand. In dieser entscheidenden Phase hat niemand für mich erkennbar auf mich Einfluss genommen, also der Staatssicherheitsdienst nicht. Ich wurde observiert, das weiß ich. Es gibt eine ganze Reihe von interessanten Aktenvorgängen, die belegen, dass ich speziell in dieser Phase intensiv observiert wurde. Aber es wurde auf mich kein Druck ausgeübt und ich wurde auch nicht direkt kontaktiert. Innerhalb der Kirche gab es natürlich viele Gespräche. Ein ganz intensives mit Bischof Reinelt. Ich habe ihm angedeutet, dass ich nicht die Absicht hätte, jetzt lange in dieser Gruppe zu bleiben. Es gibt viele Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir, aber ich muss einem Gerücht entgegentreten, das da lautet, er hätte verlangt von mir, dass ich aus dieser Gruppe ausscheide. Das hat er nicht verlangt. Das hab ich mit ihm besprochen und er hat mir da relativ freie Hand gegeben. Er hat mich darauf hingewiesen, dass es in der Regel nicht die Aufgabe von katholischen Geistlichen ist, so direkt in die Politik einzusteigen, aber er hat auch nicht von mir verlangt, bald auszusteigen.

Das war wahrscheinlich auch das Ungewöhnliche an dieser Situation, dass die Ereignisse in Dresden auf so breiten Schultern ruhten. Was war denn für Sie in diesen Tagen, um die Entstehung der Gruppe der 20 herum, das Erstaunlichste im ganzen Prozess?

Das Erstaunlichste war für mich die Friedfertigkeit, mit der die Menschen handelten. Die war auf einem höheren Niveau angesiedelt, als das, was wir heute oft in der Gesellschaft erleben. Ich neige dazu davon zu sprechen, dass der Geist der Bergpredigt wirksam wurde, im Sinne einer Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit – nicht nur deswegen, weil da viele engagierte Christen oder Kirchenleute dabei waren. Dieser Geist wurde wirksam auch in den Herzen und in den Gedanken und in den Taten vieler, die sich selbst überhaupt nicht als Christen bezeichneten. Die brachten, um das mit dieser säkularen Terminologie zu beschreiben, ein ganz hohes Maß an politischer Kultur auf die Straßen. Ich habe keine Hassausbrüche erlebt. Es wird von solchen gesprochen mit Blick auf den dritten und vierten Oktober, in Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem Hauptbahnhof. Das muss konzediert werden, aber das hat auch eine eigenen Bedeutung. In den nachfolgenden Tagen habe ich das nicht erlebt. Ich habe keine Aufrufe zu Racheakten erlebt, ich habe eine ganze Reihe von beeindruckenden Protokollen gelesen, Gedächtnisprotokollen von denen, die in den Gefängnissen inhaftiert gewesen sind. Die waren nicht getragen von Hass oder von Wut oder Rache. Die zeugten von einem beachtlichen politischen Reflektionsniveau: „Wir können das Problem in diesem Land nur lösen, wenn wir es mit friedlichen Mitteln lösen.“, „Wir müssen konsequent sein und wir müssen unsere Selbstbehauptung vorantreiben, indem wir immer wieder auf die Straßen gehen, aber das, was da geschieht auf den Straßen, muss unbedingt gewaltlos geschehen.“ Einfache, auch ältere Menschen mit einer Kerze in der Hand, Arm in Arm auf der Straße demonstrierend, das ist für mich zu einem Inbegriff, zu einem Bild für diese friedlichen Revolution geworden. Die brennende Kerze in der Hand, die man dem Polizisten entgegenträgt – das ist das Symbol dieser friedlichen Revolution. Und wenn ich richtig informiert bin, hat wohl Günther Mittag, ein hoher SED-Funktionär formuliert: „Wir waren auf alles vorbereitet, aber auf Menschen mit Kerzen in den Händen waren wir nicht vorbereitet. Damit konnten wir nicht wirklich umgehen.“

Hatten Sie selber mit diesem Erfolg gerechnet, an diesem Abend, auf dieser Prager Straße so viel zu bewirken? Oder anders gefragt, hat Sie es erstaunt, dass dann plötzlich der Widerstand der Polizei, der Sicherheitskräfte, doch so gering war?

Sie können mich für verrückt halten und auf die Gefahr hin, dass ich mich lächerlich mache, sage ich es trotzdem: Das, was ich an diesem Abend gedacht habe, das habe ich bestens in Erinnerung. Ich bin an dem Abend des achten Oktobers auf die Straße gegangen mit der festen Gewissheit, heute Abend gelingt es. Schauen Sie, es gibt Situationen im menschlichen Leben, die kennt jeder von uns, dass er sagt, ich hab eine Ahnung. Diese Ahnung widerspricht zwar dem gesunden Menschenverstand, die kann ich argumentativ nicht unterlegen, die Fakten sprechen eine andere Sprache, aber ich habe eine Ahnung, dass das so gut gehen wird. Ich hatte an diesem Abend diese Ahnung. Gewusst habe ich es nicht, aber ich wollte ihre Frage ehrlich beantworten.

Kann es sein, dass es so eine Art kollektive Erwartung gab, auf beiden Seiten?

In dieser Stadt Dresden gab es einen geistigen Austausch. Wenn man es etwas einfacher sagen wollte: Es lag was in der Luft. Sie kennen diesen Schlager, es liegt was in der Luft, dass heißt, alle spüren es, alle, die man anspricht, sagen es: „Hier muss was Neues anfangen.“ Am Theaterplatz die Künstler, in den Kirchen, vor allem in den evangelischen Kirchen, die Gefangenen, die Menschen auf der Straße, die Ausreisewilligen, diejenigen, die in den Vortagen die Kirche besetzt hatten. Auch in den Betrieben, da war ich nicht so zu Hause, aber auch da, wurde mir gesagt, lag etwas in der Luft. Es gab eine kollektive Erwartungshaltung. Es war nicht nur eine Erwartungshaltung, es war auch eine Handlungshaltung: Wir gehen jeden Abend wieder auf die Straße, bis etwas Neues beginnt. Wir lassen uns dieses jetzt nicht mehr länger nehmen. Die Menschen haben sich dieses Land zurückerobert, in dem sie die Straße zurückerobert haben.

Glauben Sie, dass da auch die Sicherheitskräfte eine Rolle gespielt haben?

Die Sicherheitskräfte haben zu einem großen Teil – da steht der Herr Pappermannfür viele – höchst besonnen gehandelt. Und dass das Ganze so friedfertig ausging, geht auch auf das Konto von besonnen handelnden Polizisten, die bestimmte Befehle zurückgehalten oder mit Klugheit umgesetzt haben. Ob es jetzt auch so eine Erwartungshaltung innerhalb der Polizei oder der Staatssicherheit gab, wir müssen jetzt etwas ganz Neues anfangen, das wage ich nicht zu beurteilen.

Was hat Sie in den letzten zwanzig Jahren umgetrieben? Was ist Ihnen persönlich widerfahren? Was gab es für Ereignisse, die Sie als prägend für diese zwanzig Jahre bezeichnen würden?

In meinem persönlichen Leben ist unglaublich viel geschehen in den vergangenen zwanzig Jahren. Es gab so eine Phase des euphorischen Aufbruchs, hinein in die Gesellschaft. Plötzlich standen viele Türen offen, die lange verschlossen waren, das heißt, ich habe sehr viel Jugendarbeit und auch Jugendsozialarbeit betrieben, im kirchlichen Bereich. Nicht mehr nur hinter den Kirchenmauern, sondern in die Gesellschaft hinein. Das ganze Feld der Medien, die andauernd etwas von mir wollten und mit denen ich sehr gerne zusammengearbeitet habe, erschloss sich plötzlich für mich. 1994 gab es den deutschen Katholikentag in Dresden, da war ich für das Jugendprogramm federführend verantwortlich. Das war eine gewaltige Aufgabe, eine Veranstaltung für 40.000 junge Leute über vier Tage hinweg zu organisieren. Dann war ich auch Pfarrer in Aue, fünf Jahre im Erzgebirge und hab dort ein Stück Realität des Freistaates Sachsen mit historischen Belastungen ganz anderer Art kennengelernt. Ich habe mit sehr vielen Menschen zu tun gehabt, die in der Wismut gearbeitet haben und habe auch eine andere Mentalität in diesem Sachsenland kennengelernt. Es hat in der ganzen Zeit einen inneren Entfremdungsprozess von meiner eigenen Kirche gegeben, weil sie plötzlich zum sozialen, gesellschaftlichen Establishment gehörte. Ich hatte in der DDR eine ganz andere Kirche kennengelernt, die sozusagen zu den Nobodys gehörte. Das habe ich ganz schlecht nachvollziehen können. Eine sehr schöne Zeit für mich waren die fünf Jahre von 2001 bis 2005, da konnte ich am Comenius-Institut arbeiten. Ich wollte unbedingt noch einmal geistig für meine Theologie, für meine Philosophie etwas tun, also für die Fächer, die ich studiert hatte. Ich hatte dann, damals noch mit Erlaubnis des Bischofs, mich an das Institut gewendet und habe die sächsischen Lehrpläne für evangelische Theologie, für katholische Theologie und Ethik mit geschrieben. Ich habe sehr viele interessante Menschen kennengelernt. Ja und dann auch meine Frau, meine heutige Frau, kennen und lieben gelernt und habe dann geheiratet. Damit war auch klar, jetzt kann ich mein Amt nicht mehr ausüben. Ich war damit nicht glücklich, weiß Gott nicht. Das ganze Thema habe ich immer sehr kontrovers diskutiert – priesterliches Zölibat, Verpflichtungen in der katholischen Kirche, aber ich kannte die Spielregeln, und deswegen will ich da auch nicht nachhaken. Nur hieß das jetzt schlicht Arbeitslosigkeit und sich neu orientieren. Ich habe dann mit viel Glück die altkatholische Kirche kennengelernt, eine sehr kleine Kirche, die mir theologisch aber sehr nahe steht und ich bekam dann relativ schnell eine Pfarrerstelle angeboten. In der altkatholischen Kirche dürfen die Pfarrer verheiratet sein, das heißt, das war wirklich wie ein Lottogewinn. Plötzlich konnte ich wieder in meinem alten Beruf arbeiten, war nach Offenbach mit der ganzen Familie gezogen, in der Nähe von Frankfurt am Main und hab dort die altkatholische Gemeinde übernommen. Etwas naiv, weil ich die Verhältnisse vorher nicht gut genug angeschaut hatte. Das waren zum Teil sehr schwierige Verhältnisse, auch in der Stadt Offenbach. Die hatten mich dort nicht vertrieben, vertrieben hat mich die Tatsache, dass das Haus, in dem die Familie wohnte, überfallen worden ist. Das heißt, meine Frau und ich waren gar nicht zu Hause, aber Simon, der Sohn, kam alleine nach Hause und ist dort Opfer eines Raubüberfalls geworden. Die Täter haben ihn gefesselt, Tüte über den Kopf gezogen und haben dann unser ganzes Haus auf den Kopf gestellt. Das war furchtbar. Vor allen Dingen auch deswegen, weil es das Kind traf und nicht mich. Das schwächste Glied in der Kette wurde getroffen und der Junge hat gesagt: „Ich mag hier nicht mehr leben, ich hab Angst.“ Mit der Vorstellung, es könnte in dieser Stadt und in diesem Haus dem Kind noch mal etwas Vergleichbares passieren, wollten wir nicht leben. Also sind wir wieder weggezogen, was auch dazu führte, dass ich meinen Pfarrerberuf wiederum verlor, weil die Kirche darauf bestand, dass der Pfarrer mit Familie im Pfarrhaus wohnt. Ich bin dann als Lehrer tätig gewesen in Langen, in Hessen, Lehrer, für Ethik und Latein – also mein Latein war noch nicht ganz am Ende. Es hat mir geholfen, dort nochmal einen Job zu finden. Ich bin dort sehr gern Lehrer gewesen, an dem Gymnasium in Hessen. Hab diese Sache auch sehr ungern aufgegeben. Aber als ich dann von der Ausschreibung für die Stelle des Direktors der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen erfuhr, habe ich mir einige Chancen ausgerechnet und bin dann natürlich sehr gern hierher gekommen.

War der Ruf nach Heimat sehr stark oder war es der Ruf des Postens und der Stadt Dresdens oder war es von allem etwas?

Es war von allem etwas. Also, ich hatte den Eindruck, das Haus, Landeszentrale für politische Bildung, das könnte mir aber gefallen. Ich kenne es ja, ich kannte es ja schon von früher, ich war mal im Kuratorium. Dieses Haus soll politische Bildungsarbeit leisten, nicht parteipolitische, nicht staatspolitische – nur im engeren Sinne – sondern politische Bildungsarbeit. Das ist ein sehr weites Feld. Wir sind in unserer Aufgabe zu Überparteilichkeit verpflichtet. Das heißt, ich habe ein relativ hohes Maß an Autonomie, Bildungsarbeit auch zu strukturieren. Ich wusste, es gibt hier eine ganze Reihe von Referenten, von Mitarbeitern, die bereits eine gute Arbeit leisten, mit denen kann ich zusammenarbeiten und das Ganze findet in Sachsen statt und das Haus steht auch noch in Dresden und da sind auch noch die ganzen alten Freunde und Bekannten und da kann ich ja von einer sehr privilegierten Position her auch politische Entwicklung in Sachsen mit beeinflussen. Also das war alles so überzeugend, da musste man mal versuchen ranzukommen.

Da sind wir schon mittendrin im Kapitel drei. Visionen, gegenwärtige Visionen, zukünftige Visionen. Wie möchten Sie sich einbringen in den gesellschaftlichen Prozess, wie können Sie sich hier politisch tätig in Dresden wieder einbringen. Was sind also Ihre Vorstellungen und Ihre Hoffnungen?

Ich habe in den vergangenen 20 Jahren gelernt, dass bei aller Begeisterung des Aufbruchs von 1989, Demokratie bei Gott kein Selbstläufer ist. Demokratische Kultur, demokratisches Miteinander und die Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie es heißt, die bedürfen der ständigen Erneuerung. Das heißt, ein sich Zurücklehnen darf es in dieser Hinsicht nicht geben. Demokratie wird jeden Tag irgendwie auch neu erfunden, zwar nur im übertragenden Sinne des Wortes. Was die Institutionalisierungen betrifft, was die formalisierten Abläufe betrifft, was die verschiedenen politisch handelnden Ebenen betrifft – da sind wir natürlich demokratisch bestens aufgestellt, da hat dieses Land eine Kultur entwickelt, aber das ist überhaupt kein Selbstläufer. Demokratie in den Köpfen muss immer wieder neu beginnen und das ist für mich, wenn ich es etwas allgemein sagen darf, der Erneuerungsprozess der Kultur, der Selbstbestimmung und der wechselseitigen Wertschätz­ung. Das ist die Aufgabe, mit der wir nie fertig werden. Da gab es auch Enttäuschungen in den letzten 20 Jahren und es gab auch positive Überraschungen. Also ich habe in den letzten 20 Jahren auf der Skala der Charaktereigenschaften von Menschen in diesen demokratischen Gemeinwesen alles erlebt, von ganz tief schwarz bis ganz hell, blendend, strahlend weiß und zwar in Ost und West. Da gibt es aus meiner Sicht überhaupt gar keine besseren oder schlechteren Zeitgenossen, im Gegenteil. Ich sehe dieses demokratische Bewusstsein speziell auch hier bei den Menschen in Sachsen noch lange nicht so richtig gut angekommen, wie es wünschenswert wäre. Es gibt immer wieder die Neigung – zwar auch nicht nur in Sachsen, auch anderswo, aber wenn wir diese besondere Perspektive hier mal aufmachen, dann würde ich es auch gerne so sagen – es gibt immer wieder die Neigung, die Dinge dann doch autoritär oder vielleicht sogar totalitär zu lösen. Es gibt immer wieder die Neigung, es dann doch dem Staat zuzuschieben oder die Neigung innerhalb des Staates, es dann doch dirigistisch zu lösen. Da gibt es auch eine ganz fatale Entwicklung im Bereich des Ökumenischen oder im Bereich des Finanziellen. Das, was wir jetzt gerade erleben, also Dinge, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Das heißt, die Demokratie braucht auch ihre eigene Ethik und sie braucht auch moralisch handelnde Persönlichkeiten, die das auch auf ihre Kappe nehmen. 1989 haben wir gesagt: „Das ist unser Land.“ Natürlich wählen wir Regierungen, wir wählen dies und jenes und wir beteiligen uns immer, aber letztlich ist es natürlich auch unsere bürgerliche Verantwortung, dieses Land mitzugestalten.

Also Demokratie findet nicht alle vier Jahre in der Wahlkabine statt, sondern sie muss täglich stattfinden. Das sehe ich als eine wirkliche große Aufgabe, die um Gottes Willen weder ein Land, noch eine Landeszentrale lösen könnte. Aber sie ist ja in der privilegierten Situation hier, Mittel an die Hand gegeben zu bekommen, das zu bewirken und sie hat auch die besonders privilegierte Situation, das besonders scharf auch wahrnehmen zu können, was da im Land geschieht.

Es gibt in Leipzig eine andere Erinnerungskultur, eine andere Dimensionswahrnehmung als in Dresden. Bedauern Sie das teilweise?

Ich halte nichts davon, die Erinnerungskultur von Leipzig mit der Erinnerungskultur von Dresden so akribisch zu vergleichen, weil in meiner Wahrnehmung in allen Städten der ehemaligen DDR dieselben Aufgaben vor der Türe standen. Wie diese Aufgaben gelöst wurden, das heißt, wie die revolutionären Vorgänge in den einzelnen Städten der ehemaligen DDR – „ehemalige DDR“ ist Unsinn, weil es gibt keine jetzige DDR – also in der DDR stattfanden, das war höchst unterschiedlich. Das heißt, diese Revolution fand sehr, sehr sehr kommunal statt. Die oppositionellen Gruppen waren erst sehr spät über die Kommunen hinaus vernetzt, folglich muss jede Stadt heute für sich selbst den richtigen Weg finden, wie sie an das, was vor zwanzig Jahren stattfand, erinnert. Leipzig hat diesbezüglich seinen Weg gefunden, das beeindruckt mich. Das hängt meines Wissens auch sehr damit zusammen, dass es in Leipzig eine große Kontinuität in der Gruppe der handelnden Personen gibt. Da brauche ich nur an Christian Führer denken, aber nicht nur an ihn. Gut, ich nenne ihn mal pars pro toto, dass er eben schon viele Jahre vor 1989 dort vor der Nikolaikirche mit den Montags- und Friedensgebeten eine Kultur entwickelt hat, dass er 1989 aktiv war und dass er lange Zeit nach 1989 als ein bekannter Name dort aktiv war. Damit hängt die Erinnerungskultur Leipzig zusammen und all das, was mit Leipzig da gedacht wird, hängt auch damit zusammen, dass Leipzig zu DDR-Zeiten immer eine Stadt der westlichen Medien war. Das heißt, die Erinnerungskultur wird ja auch maßgeblich vom medialen Umgang mit Erinnerung geprägt und da liegen den Medien einfach sehr viele Berichte, auch Bildberichte, Leipzig vor. Die westlichen Medien waren auch schon vor ’89 in Leipzig präsent, etwa durch die Leipziger Messe. Das ist ganz anders als in Dresden. Dresden hat es an dieser Stelle irgendwie schwer oder die Dresdner tun sich an dieser Stelle irgendwie schwer. Wie bescheiden, wie fast zurückhaltend hier mit der Erinnerung und mit einem Gedenktag umgegangen wird, aber jetzt ist er ja in Dresden zu meiner Freude beschlossen worden. Oder ein Denkmal oder ein Mahnmal – das spricht für diese Zurückhaltung, diese Bescheidenheit oder diese Schwierigkeit, welche die Stadt Dresden damit hat. Ich weiß nicht, womit das zusammen hängt. Vielleicht damit, dass viele Personen das einfach nicht so kontinuierlich weitertragen konnten, wie das vielleicht in Leipzig der Fall war. Vielleicht auch damit, dass in der Stadt Dresden eben die Staatsregierung auch immer gegenwärtig ist. Das heißt, alles, was man in Dresden tut, macht man auch immer irgendwie mit Rücksicht darauf, dass ja um die Ecke die sächsische Staatsregierung und der sächsische Landtag stehen. Das denkt man vielleicht immer gleich mit, das ist so meine Vermutung. Deswegen geht es manchmal auch gar nicht so schnell und so forsch voran, wie das in Leipzig den Eindruck erweckt. Es mag damit zusammenhängen, dass das Ganze ja auch ein emotionaler und ein psychologisch zu betrachtender Vorgang ist. Dresden hat bereits mit dem 13. Februar einen Tag im Jahr, mit dem sich die sächsische Bevölkerung verbunden fühlt. Auch diejenigen, die den 13. Februar ’45 nicht erlebt haben, fühlen sich durch diesen Tag mit Dresden und den Opfern verbunden. Vielleicht ist ein solcher Tag für eine Stadt genug, so dass die Erinnerung um den Oktober ’89 gar nicht so viel Platz in der städtischen Seele finden kann, wie vielleicht in Leipzig. Sie sehen, ich ringe selber mit dem Phänomen. Ich sehe die Schwierigkeiten, ich vermute einige Ursachen, aber so eine vollständig schlüssige Antwort habe ich darauf nicht. Die muss es auch nicht geben, denn Erinnerung ist ja für die Gegenwart und für die Zukunft da und wenn eine Stadt sich immer wieder damit beschäftigt, dann wird sie den Weg finden. Die heranwachsende Generation, die heute im Blick auf das, was damals geschah, ganz andere Fragen stellt, die wird wieder ihren Weg finden, mit der Erinnerung umzugehen und möglicherweise wird sie den viel unbefangener finden und ganz andere Perspektiven haben, als wir denken.

Vielen Dank

Ja, gern geschehen.


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