Frank Türkowsky

Kurzbiografie

Frank Türkowsky war seit August 1989 erster Sekretär der Bezirksleitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der staatlichen Jugendorganisation der DDR. Er stellte sich der Diskussion, redete mit Demonstranten und vertrat den Standpunkt, dass es einen umfassenden Umgestaltungsprozess in der DDR geben könne.

Heute lebt er in Görlitz und ist selbständiger Versicherungsunternehmer.

Das Interview führte Thomas Eichberg

Frank Türkowsky, geb. 1959

Interview

Begeben wir uns auf Zeitreise ins Jahr ’89, in den Sommer, Mai/Juni/Juli, also richtig Hochsommer und Ferienzeit, etwa zur gleichen Zeit wie heutzutage, nur vor 20 Jahren. Wo waren Sie zu dieser Zeit und was haben Sie zu dieser Zeit gemacht?

Vor 20 Jahren im Sommer war ich, auch wie heute, im Urlaub für zwei Wochen. Ich glaube, ich war in Wiesenbad mit meiner Familie. Es war am Anfang des Sommers und im Juli bin ich dann zurückgekommen. Da waren natürlich nach den Ereignissen in Ungarn alle schon in Aufruhr, das Neue Forum hatte sich gegründet und erste Zettel kursierten. Man wusste da noch gar nicht, was man damit anfangen sollte und es wurde einfach unruhig. Man merkte, dass eine völlig neue Situation entstanden war, auf die man überhaupt nicht vorbereitet war, mit der man auch nur sehr schwer umgehen konnte. Man musste in der Diskussion mit den Anderen, mit denen man zusammengearbeitet hat, überhaupt sich erstmal einen Standpunkt bilden.

Das war eine unruhige Zeit, wie war die Stimmung bei Ihnen und Ihren Arbeitskollegen?

Man kann das aus heutiger Sicht schwer beschreiben. Man darf es ja nicht mit Heute vergleichen. Die Information über die Medien war eine ganz andere als heute. Was hatten wir? Wir hatten die „Junge Welt“, „Das Neue Deutschland“, „Die Sächsische Zeitung“ und DDR-Fernsehen 1 und 2. Denn wir sprechen ja über Dresden und sie werden sich erinnern, es gab damals diese Nachrichten, ich kann mich noch erinnern, mit dem Keller-K.O.-Tropfen im Zug und was weiß ich nicht alles. Diese Räuberpistolen, die groß aufgemacht waren und keiner wusste: „Was war wirklich dran?“ Gleichzeitig war es eben so, ich kann mich noch erinnern, es war ein Mitarbeiter aus Meißen, der als Erster dieses Faksimile, diesen Druck mitbrachte, den Gründungsaufruf vom Neuen Forum und alles, was da drin steht, war ja vernünftig. Man kann ja nicht sagen, dass das in irgendeiner Form gegen die DDR gerichtet war, sondern das war gerichtet gegen Bürokratie, gegen Verkrustung, gegen vieles, was uns ja auch nicht gefallen hat. Gleichzeitig passierten aber eben die Dinge in Ungarn und die Dinge in der CSSR. Dann kam dazu, dass die Grenzen wieder geschlossen wurden. Also es war insofern eine völlig neue Situation und keiner wusste, was jetzt als Nächstes passiert. Die Verunsicherung war natürlich bei uns groß und gleichzeitig fehlte, wie wir heute sagen würden, die Anleitung. Also sprich, es kamen mal aus dem großen Haus auch keine klaren Worte mehr. Man musste also auch völlig neue Schritte gehen, man musste selber denken – ich sage und nenne mal einfach so. Und dann gingen ja die Ereignisse weiter.

Weil Sie gerade sagten, es kamen keine Anweisungen aus dem großen Haus, also von oben. Wie kommunizierten Sie in diesem Chaos und mit wem?

Nein, ich meine das in einer anderen Art und Weise. Es war ja für die FDJ, es war ja bekannt, war es ja immer so, dass natürlich auch immer Beschlüsse von der SED gefasst wurden, wir haben dann unsere eigenen Beschlüsse gefasst. So war ja das Prozedere. Und auf einmal wurde zu diesen Dingen kaum was gesagt. Die FDJ in Berlin, die hat sich schon Gedanken darüber gemacht, weil die FDJ in Berlin ja auch den Forschungsbericht des Instituts für Jugendfragen ausgewertet hatte, der ja schon deutlich macht, dass es da ein paar Erscheinungen gibt, die in andere Richtungen gehen. Es kam, wie wir vorher gesagt haben, aus dem großen Haus wenig. Außer, wenn mit Hans Modrow Beratungen waren, dann wurde dann schon darüber geredet, dass wir es mit einer neuen Situation zu tun haben und dass wir viel stärker, auch wir als FDJ, viel stärker in die Grundorganisation gehen müssen, auf die Leute hören müssen, mit den Leuten reden müssen. Aber im Kern gab es damals schon erste Stimmen, die gesagt haben: “So viel Zeit haben wir gar nicht mehr.“

Wie waren die Positionen zwischen Hans Modrow und Ihnen? 

Also die Position zwischen uns, Modrow und mir…

…oder das Verhältnis? 

Also wir hatten ein gutes Verhältnis, ich war ja noch nicht lange im Amt. Ich bin ins Amt gekommen, im August 1989, also nach meinem Urlaub. Und Hans Modrow hatte immer, immer ein offenes Ohr für die FDJ und ist, ich kenne es aus anderen Bezirken nicht, kann es nicht sagen, aber es war mit ihm immer ein sehr gutes Zusammenarbeiten. Er hat uns nie, sagen wir mal, nur als verlängerten Arm betrachtet. Er hat hohe Erwartungen an die FDJ gehabt, aber er hat auch hohe Erwartungen an unsere Selbständigkeit und unsere vernünftige Arbeit gehabt. Ich habe es an manchen anderen Stellen auch anders kennengelernt, aber es gab ein sehr ordentliches, offenes Verhältnis.

Wieviel haben Sie in diesen Beratungen über diese neue Situation gesprochen? War das für Sie möglicherweise eine vorübergehende, kurzzeitige Erscheinung oder dachten Sie, hier kommt was Längeres auf uns zu? Wie wurde das denn eingeschätzt in diesem Sommer? 

Also im Sommer wurde es so eingeschätzt, dass es eine sehr komplizierte Situation ist. Wie lange das dauert, dazu hat damals überhaupt keiner eine Meinung abgegeben, wenn ich mich recht erinnere. Was aufgefallen ist, das in dem Sommer, insbesondere aus den Betrieben, aus den Schulen und vor allen Dingen aus den Hochschulen, aber das war nicht allzu neu, immer kritischere Stimmen kamen und auch immer offener kritisch angefragt wurde, ohne Rücksicht auf Personen, ohne Rücksicht auf Institutionen, also insofern muss man schon sagen: „Das war neu.“

Zwar haben wir in der FDJ schon immer einen etwas offeneren Ton gepflegt, als vielleicht in anderen Organisationen, aber das nahm ja nun überhand, weil es sich einfach nicht mehr totschweigen ließ, was da passiert war. Zweifelsohne gab es Leute, die dachten, es handelt sich um eine vorübergehende Erscheinung und wenn ich an mich persönlich denke, also im Sommer des Jahres 1989, hätte ich keine Prognose abgegeben, dass so schnell so drastische Veränderungen eintreten.

Wie oft wurden Sie und wie wurden Sie informiert über das, was in den Botschaften in Budapest und in Prag passierte? Gab es da Rundschreiben oder wurde das in diesen Sitzungen ausgewertet? Also wie erreichte Sie das und auf welchem Weg? 

Einmal auf dem Weg, der zugänglich war: über die Medien. Natürlich auch in der entsprechenden Form und zum anderen natürlich über die Beratung, ganz klar, weil da wurden auch zum Teil Westmedien zitiert. Das ZDF, der Stern, der Spiegel waren ja durchaus dann da zugänglich. Und im Sommer war es aber noch so, dass es wirklich benannt wurde als „von außen hereingetragen“. Da ging man noch nicht so weit, zu sagen, dass der größere Anteil von innen eigentlich aus dem Willen nach Veränderung selber kommt.

Also man nahm an, dass das vom Westen gesteuert ist, also von dieser K.O. Tropfen-Geschichte an, das kam also von außen?  

Also ich habe es nicht geglaubt. Es wurde dargestellt, als ob es alles nur von außen kam, weil wir wussten ja, dass die Welt nicht in Ordnung war, das hat man ja durchaus gemerkt. Gerade in der Jugendorganisation, wenn wir in Jugendclubs unterwegs waren, wenn wir in Hochschulen unterwegs waren, in Schulen, auch in Arbeitskollektiven, da wurde kein Blatt vor den Mund genommen, also für uns wurden keine Schauveranstaltungen organisiert, sondern da wurde schon offen darüber geredet, was nicht in Ordnung ist.

Nun kommen wir so langsam vom Sommer in Richtung Herbst. Die Ereignisse am Bahnhof, wie haben Sie denn erfahren oder wie haben Sie das selber miterlebt, die Situation im Dresdner Hauptbahnhof?

Die Situation am Dresdner Hauptbahnhof, also das war zweifelsohne, denke ich mal, für Dresden einer der kritischen Momente überhaupt im Herbst. Wir erfuhren, dass natürlich dann beschlossen und vereinbart wurde, dass die Züge aus der tschechischen Botschaft über Dresden fahren. Gleichzeitig erfuhren wir natürlich, dass in westlichen Medien darüber ausführlich berichtet wurde und direkt auch aufgerufen wurde, zum Hauptbahnhof  zu gehen, überhaupt an die Strecke zu gehen, um damit eben zu protestieren, die Züge aufzuhalten und den Staat zu zwingen, sich anders zu verhalten. Das war natürlich bekannt. Dem zufolge sind im Vorfeld so viel wie möglich Maßnahmen getroffen worden, damit es dort zu keiner Eskalation kommt. Was natürlich auch den Einsatz von, wie man damals sagte: „Schutz und Sicherheit“ beinhaltete. Dabei weiß ich eines genau: Das oberste Kredo war, das es zu keiner Eskalation und zu keiner Gewaltanwendung kommen durfte. Das war erklärtes Ziel von Hans Modrow, dem damaligen Hauptverantwortlichen und das ist auch nie, in keiner Weise anders kommuniziert worden.

Und Ihre eigenen Erfahrungen in dieser Zeit, wie waren die? Haben Sie was gesehen am Hauptbahnhof? Sind Sie mal hingegangen? In der Innenstadt, auf der Prager Straße, haben Sie was gesehen oder gehört, persönlich?  

Also ich war unterwegs, als die Demonstrationen waren. Ich war nicht am Bahnhof, das wollte ich damals bewusst nicht und das war ja nur ein Teil. Es war ja dann auch die Zeit, so wie das damals war, dass die Studienjahre begannen. Die Schuljahre hatten begonnen und das heißt, die FDJ-Wahlen hatten begonnen. Es war also für uns damals auch wichtig, in unterschiedlichste Grundorganisationen zu gehen, dort mit den Leuten darüber zu reden, was passiert ist, wie sie das sehen, um auch für uns das Gefühl zu bekommen, wie das wirklich gesehen wird. Also ich persönlich bin damals keiner Diskussion ausgewichen. Und wir waren auch mit den Leuten aus unserem Haus auf der Prager Straße und auch mit den erklärten Zielen, dort mit den Leuten zu reden, mit den Leuten zu diskutieren. Und auch dort immer mit dem Ziel, es an keiner Stelle zu irgendeiner Eskalation kommen zu lassen, weil wir natürlich damals auch davon ausgegangen sind, dass das von Einigen gewollt war. Dass natürlich Mancher auch wollte, dass es zu einer Eskalation kommt, damit dadurch auch noch mal ein anderes Bild dargestellt werden kann.

In welcher Zeit glaubten Sie, dass also gewaltbewusst…  

Nein, ich will gar nicht sagen „gewaltbewusst“, aber auf die Eskalation der Dinge, dass man vielleicht den Anderen provoziert zur Gewalt. Man muss ja sehen, es hat ja auch eine andere Entwicklung gegeben: das Neue Forum. Wenn ich daran denke, was das Neue Forum in seinen ersten Verlautbarungen wollte, da ging es immer um eine Veränderung innerhalb der DDR. Es ging um das Aufbrechen der Verkrustung, es ging um Änderung in der SED, es ging um Änderung der alleinigen Parteiherrschaft, es ging Änderung des Kraftverhältnisses in den Betrieben, in den Massenorganisationen, es ging immer um Veränderung innerhalb des Landes. Und langsam, sukzessive zum Herbst zu, veränderte sich ja die Stimmung. Es wurden immer mehr Leute und es waren immer mehr Leute. Es manifestierte sich ja auch, wie man es aus Leipzig und auch aus Dresden kennt, am Anfang: „Wir sind das Volk“ und später waren wir ein Volk. Und dann waren ja auch diese Schritte zu sehen. Es ging ja dann mit zunehmendem Maße um ganz andere Sachen, es ging dann nicht mehr um eine Veränderung innerhalb des Landes, sondern es ging dann eigentlich in die Richtung, sag ich mal, der Überwindung der bestehenden Strukturen. Damit auch Notfalls um die Abschaffung des Landes. Es ging um die Grenzöffnung, es ging um Reisefreiheit. Natürlich ging es auch um Redefreiheit, Demonstrationsfreiheit, aber es ging auch um die anderen Dinge. Und da sind wir natürlich damals auch davon ausgegangen, dass wir schauen müssen, dass es nicht irgendwo zur Gewalt kommt, weil man stand sich ja nun mal auf der Prager Straße gegenüber und im Hauptbahnhof war es ja passiert, da kam es zur Gewalt. Das war natürlich eine Extremsituation, die niemand von uns kannte, in der niemand vorher gesteckt hatte und mit der man irgendwie umgehen musste.

War das Ihr eigener Entschluß, also im Hause der FDJ: „Wir gehen auf die Prager Straße“ oder hat Sie jemand dazu angehalten und gesagt: „Geht mal gucken, was dort passiert, vielleicht braucht man Euch dort noch“? Oder wie kam es dazu?

Das war ein Ergebnis unseres Diskussionsprozesses, weil es war doch für uns genauso, wie für die anderen. Auch wir als FDJ hatten einen Vertrauensverlust und einen Glaubensverlust, es verlagerte sich doch alles, die Debatten haben doch nicht in der FDJ stattgefunden, die Debatten haben in der Kirche stattgefunden. Es waren ja auch die Leute, die wir tagtäglich gesehen haben. Es waren die Leute, die in der FDJ waren, es waren ja unsere Leute, also mussten wir auch hingehen und mit denen reden. Das eindeutige Ziel war, das haben wir bei uns im Sekretariat, wie es damals hieß, diskutiert: „Wir gehen da hin, wir reden mit den Leuten und wenn es irgendwo zu Auseinandersetzungen kommt, die die Gefahr in sich bergen, dass sie eventuell auch gewalttätig werden könnten, dann gehen diejenigen dazwischen, die sich trauen.“ Und es war auch damals so, das habe ich auch gesagt: „Es gehen nur diejenigen, die sich trauen.“ Es haben sich nicht alle getraut.

Können Sie sich da noch an Diskussionen erinnern? Gab es diese Diskussion auf der Straße?

Also es gab Diskussionen, aber es gab relativ wenige Diskussionen, wenn man jetzt von inhaltlicher Tiefe spricht. Die Diskussion ging teilweise um die Anerkennung, dass wir uns der Diskussion stellten. Gleichzeitig hat man aber auch immer wieder gesagt: „Jetzt kommt Ihr, jetzt ist es zu spät.“ Und mancher hat uns auch, so wie das heute genauso passieren könnte, mancher hat einfach gesagt: „Lasst uns in Ruhe, was wollt Ihr noch von uns, wir wollen mit Euch nichts zu tun haben.“ Also es war die ganze Skala.

Sind Sie da im Blauhemd hingegangen oder wie war das? 

Anfangs ja. Später nicht mehr.

Vor diesen Ereignissen am Hauptbahnhof und den anschließenden Prozessen, gab es in Dresden die Ereignisse um dieses Reinstsiliziumwerk in Gittersee und im Sommer kamen dann noch die „Trommeln für Peking“-Aktion der evangelischen Kirche hinzu. Haben Sie davon etwas mitbekommen, hat das bei Ihnen in der FDJ eine Rolle gespielt? Wurde darüber geredet?

Also Gittersee spielte schon lange eine Rolle, das Problem war nicht neu, überhaupt nicht. Und ich denke, man kann es auch nicht auf Gittersee schieben. Natürlich kannten wir das, weil wir hatten ja dort auch eine FDJ-Grundorganisation und wir hatten dort eine Kreisorganisation und das spielte immer eine Rolle. Ich denke mal, es war mehr die Summe aller Dinge, weil es war ja nicht nur Gittersee, es waren ja viele andere Sachen, die dort auch eine Rolle spielten. Es war die Unzufriedenheit in den Betrieben, weil man einfach, selbst wenn man wollte, vieles nicht mehr machen konnte. Ich denke, was brauchten wir Gittersee? Wir hatten die Hochschule für bildende Künste und da haben die Debatten nicht im Sommer 1989 angefangen. Also die Zeichen der Unzufriedenheit waren lange da, das ist gar nicht die Frage. Und es waren sicherlich dann bestimmte Momente, die das ausgelöst haben. Also für uns war, sag ich mal, wichtiger, als die Auseinandersetzungen losgingen, dann die inhaltlichen mit dem neuen Forum.

Welche Antworten glaubten Sie geben zu können oder geben zu müssen, um diesen aktuellen Anforderungen gerecht zu werden, um diesen, wie Sie sagten, Unzufrieden­heiten gegenübertreten und darauf reagieren zu können?

Wir sind damals davon ausgegangen und das war auch die Überschrift, unter der wir in die FDJ-Wahlen gegangen sind, dass es in aller erster Linie für uns um zwei Dinge geht. Das eine ist, dass jeder von uns, egal ob Mitarbeiter oder erster Sekretär, ob im Kreis oder im Bezirk, dass jeder von uns die Aufgabe hat, bei den Wahlen in die Grundorganisationen zu gehen, den Leuten zu zu hören und gemeinsam mit ihnen darüber zu sprechen, was kann jeder einzelne tun, will er was tun und was kann er tun. Also für uns ging es damals darum, darüber waren wir uns im Sommer im Zentralrat einig, dass man endlich mal das Prinzip umkehren muss. Dass also das gemacht werden muss, was heute die Basis will und dass nicht oben beschlossen wird und nach unten durchgesetzt, das war das erklärte Ziel. Antworten, fertige Antworten, hatten wir damals nicht, überhaupt nicht.

Gab es in dieser Zeit des Dresdner Herbstes für Sie so eine Zeit, wo Sie sagen: „Hier muss sich wahrscheinlich eine ganze Menge ändern“ oder dachten Sie in diesen Sommer- und Herbstmonaten noch, das ist eine temporäre Entwicklung?

Also dass es eine temporäre Entwicklung war, dachte ich im Herbst nicht mehr. Ich bin davon ausgegangen, zum damaligen Zeitpunkt, dass es deutliche Änderungen geben muss im gesellschaftlichen Leben, dass die Partei sich ändern muss, dass auch wir als Jugendverband uns ändern müssen und dass wir ganz andere Ansprüche an uns stellen müssen. Wir hatten damals, es klingt aus heutiger Sicht verrückt, immer die Hoffnung, dass der 13. Parteitag der SED eine Zäsur bringen wird, eine neue Führung, neue Beschlüsse, ein völlig neues Herangehen an die Aufgaben. In die Richtung haben wir damals gedacht.

Eine andere Form des Sozialismus? Gab es in Ihren eigenen Reihen da Lösungsansätze oder erwartete man eher irgendetwas, also etwa im Zentralrat? Gab es da eigene Diskussionen und eigene Vorstellungen, was man wie anders machen müsste oder könnte? 

Natürlich gab es endlose Debatten. Es gab viele Ideen und wir waren einfach so weit, wir haben nicht mehr gewartet was Berlin sagt. Das war, sagte ich, in der FDJ ein bisschen anders. Natürlich gab es zentrale Beschlüsse, die wir umzusetzen hatten, aber wir haben auch vorher schon vieles gemacht und auch machen können, was nicht unbedingt nur an zentralen Richtlinien festhielt. Damals ging es für uns darum, dass wir neue Formen in der Verbandsarbeit brauchten. Das heißt, die Debatte ging darum: Grundorganisation in den Betrieben oder Grundorganisation im Wohngebiet? Wie ist die Struktur? Wie ist das Verhältnis zwischen ehrenamtlicher Arbeit und hauptamtlicher Arbeit? Wie wird künftig gewählt? Wir haben diskutiert, dass Kandidaten für eine bestimmte Funktion nicht mehr an die Parteimitgliedschaft gebunden sind. Wir haben sogar, damals schon den Gedanken, den manche heute noch nicht gut finden, der Direktwahl in bestimmten Funktionen. Also wir hatten da auch eigene Gedanken. Ich glaube, es gab damals keine Gruppe, die keine neue Idee und eigene Gedanken hatte. Es war ja beides, es war ein sehr ernste Situation für uns, aber zugleich war es auch eine Zeit, in der es möglich war, auch mal ganz offen was Neues zu probieren.

War das für Sie eher eine Herausforderung oder eher ein Enttäuschung in der damaligen Zeit, also jetzt nicht mit der Perspektive 20 Jahre später, sondern in der damaligen Zeit?

Es war eine ungeheure Herausforderung. Man hat auch ganz genau kennengelernt, auf wen man sich verlassen kann und auf wen nicht. Das war der Herbst. Später wurde es zur Enttäuschung, weil klar wurde, dass unsere Voraussetzungen falsch waren.

Vielleicht können Sie darauf nochmal ein Stück eingehen, welche Voraussetzungen waren falsch …?

Die Enttäuschung, dass einfach sichtbar wurde, dass es diese Möglichkeit der Veränderung nicht gibt. Nicht, dass uns von außen die Möglichkeit der Veränderung nicht gelassen wurde. Sicher könnte man jetzt eine Menge Faktoren da einführen und sagen, die haben dazu beigetragen, aber wir hatten einfach den Zug verpasst. Sicherlich haben wir im ehrlichen Bemühen neue Dinge machen wollen, aber das wollte schon keiner mehr mit uns machen. Das war eigentlich die Enttäuschung. Es gab ja ein Fenster von November bis März, in dem man was Neues hätte machen können, mit allen Konsequenzen. Aber das wissen wir ja heute, das hat die Mehrheit nicht gewollt, so muss man das ja sagen.

Also Sie glauben nicht, dass das von außen übergestülpt wurde, sondern dass es doch eine innere Entwicklung war und dem Willen der meisten Menschen in der DDR entsprach? 

Es gab äußere Einflüsse, aber entscheidend war die innere Entwicklung, nichts anderes.

Würden Sie sagen, für Sie selber, für sie persönlich, war diese Wende auch eine entscheidende Sache? Also ein persönliches Ereignis, welches Ihre persönliche Biografie nachhaltig beeinflusst hat? 

Ja, natürlich. Selbstverständlich. Bis zu dem Zeitpunkt 1989 habe ich, zwar mit ein paar Umwegen allerdings, eine relativ gerade Entwicklung genommen. Ich habe die Schule besucht, mein Abitur gemacht, hab meinen Dienst in der nationalen Volksarmee geleistet, habe anschließend bei der FDJ gearbeitet, habe dann studiert, habe wieder bei der FDJ gearbeitet in den unterschiedlichsten Funktionen, war zu dem Zeitpunkt, als alle Ereignisse losgingen, gerade seit dem Sommer 1988 nach meinem Studium in Dresden der 2. Bezirkssekretär der FDJ, im August 1989  dann der 1. Bezirkssekretär bei der FDJ und dann noch im November nach Berlin zum Zentralrat und dann kam der Bruch. Natürlich hat das Folgen, natürlich hat das Spuren hinterlassen. Das hieß ja auch für mich eine völlig neue Lebensplanung, völlig neu einstellen auf die Dinge. Ich hab dann 1992 nochmal völlig neu angefangen, einen völlig neuen Beruf gelernt. Das war schon eine heftige Zäsur, auf die man auch nicht vorbereitet war, mit der man schon lernen musste umzugehen.

Wie lange würden Sie sagen hat das bei Ihnen gedauert oder wie lange brauchten Sie, um mit dieser neuen Situation zurecht zu kommen, sich in dieser Situation zurecht zu finden?

Ich weiß nicht, ob man das zeitlich begrenzen kann. Man könnte sagen bis heute, man kann auch sagen bis 1992. Wenn ich einen Punkt setzen will, dann war das für mich der  Dezember 1992, als ich mich entschieden habe, der Politik endgültig ade zu sagen und zu sagen: „Schluß und Neustart bei Null!“ Daran könnte man es vielleicht festmachen, wenn man einen zeitlichen Punkt sucht, dort hatte ich mich endgültig aus der Politik verabschiedet.

 Aber Sie hätten auch die Chance gehabt, dort weiter zu machen oder welche Gründe führten dazu, das dann zu beenden?

Sicher hätte ich die Chance gehabt, weiter zu machen in irgendeiner Form, aber ich wollte nicht mehr. Ich war zu dem Zeitpunkt 33, Familienvater, Vater zweier Kinder und hatte ja nun von 1988 bis 1990 in der FDJ alles mitgemacht, an unterschiedlichsten Stationen und habe dann, als ich 1990 die Arbeit in der FDJ verließ, noch einmal bis 1992 in der, wie hieß das damals, ich glaube, es hieß „Bezirksleitung“, der SED-PDS gearbeitet, weil dort damals gewissermaßen die Partei neu aufgebaut wurde, weil es ja in Dresden ein paar andere Prozesse gab, als woanders. Dem Wolfgang Berghofer habe ich dort gesagt „Ich lege hier alles nieder“. Da habe ich bis 1992 gearbeitet und dann habe ich aber auch aus persönlichen Gründen entschieden: Punkt.

Haben Sie den Entschluß jemals bereut? 

Nein.

Wie würden Sie das in der Perspektive 17, 18 Jahre später beschreiben, diesen Schritt zu gehen? 

Es war ein langer Prozess, hing auch mit den Entscheidungen, wie sich das alles darstellte, zusammen. Es gab natürlich gerade in diesen Zeiten heftige Auseinandersetzungen und in Dresden habe ich die Auseinandersetzungen unmittelbar erlebt. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie dort heftiger waren als anderswo. Die waren auch mit den Namen Ostrowski/Weckesser verbunden und damals war ja ganz besonders, als es darum ging, die Rolle neu zu definieren, den Charakter neu zu finden. Da ging es ja auch viel um die Auseinandersetzungen mit dem und die Bewertung des Gewesenen und ja gut, da hatte ich eben an manchen Stellen eine andere Auffassung als viele andere. Mir war es so, ich habe das damals so empfunden, dass man zu schnell zur Tagesordnung übergegangen ist. Da dachte ich, so, jetzt ist das vorbei und jetzt müssen wir sehen, das wir unseren Platz finden, dann kamen die Landtagswahlen und das war mir alles nichts mehr.

Das hieß also, es gab Bewegung in der eigenen Partei und Auseinandersetzungen in Ihrer eigenen Partei, die Sie dazu führten, zu sagen: „Ich lege meine Ämter nieder und scheide aus der Politik aus“? 

Ich hatte ja in dem Sinne keine Ämter mehr. Ich war in keiner Wahlfunktion. Ich war Mitarbeiter und es passte einfach nicht mehr zu mir. Dann 1992, nachdem die Landtagswahlen vorbei waren, der Landesverband gegründet war, ging auch an uns nicht vorüber, dass abgespeckt werden musste. Und ja, als es dann darum ging, wer geht, habe ich mich nicht gewehrt, weil es war nicht mehr mein Platz.

In wieweit würden Sie denn sagen, haben ihnen diese Erfahrungen in der DDR, also erstes und zweites Kapitel, die Erfahrungen im Herbst 1989, für Ihr späteres Leben geholfen, Sie beeinflusst? 

Die Erfahrungen bis und im Jahr 1989 haben eigentlich eines gezeigt: Dass man, auch ganz persönlich, dass man viel genauer hingucken muss, dass man viel genauer sehen muss, was will der gegenüber eigentlich wirklich, dass man vieles wesentlich kritischer hinterfragen muss, von mehreren Seiten begucken muss und dass man das, was manchmal vordergründig daher kommt, nicht gleich als das nimmt , was es vorgibt zu sein.

Also sind Sie Mißtrauischer geworden? 

Nein. Mißtrauischer nicht, das nicht. Also ich hab schon immer noch Vertrauen zu den Menschen und manchmal vielleicht sogar zu viel dem mir gegenüber, aber mißtrauischer bin ich nicht geworden, nur illusionsloser.

Gab es auch positive Ansätze oder Erfahrungen aus dieser Zeit, die Sie für ihr späteres Leben bis zum heutigen Zeitpunkt nutzen konnten, auf die Sie zurückgreifen konnten, auf die Sie zurückgegriffen haben in verschiedenen Situationen? 

Ja, natürlich. Die wichtigste Erfahrung für mich war diejenige, die ich im Herbst ’89 gemacht habe, die ich auch in Berlin gemacht habe. Die wichtigste Erfahrung für mich war: Wenn man offener auf die Leute zugegangen ist, bis auf ganz wenige Ausnahmen, wenn man bereit war, mit den Leuten zu reden, über alles, ohne Tabu, dann haben die Leute auch mit einem geredet, dann haben sie einen auch als Gegenüber akzeptiert, der von ihnen was will und der mit ihnen was will. Das ist die wichtigste Erfahrung gewesen. Ich war in den Kirchen, also nicht hinten und hab vorn gesessen, ich war bei der Hochschule für bildende Künste, hab mich dort der Debatte gestellt – das war wirklich für mich die wichtigste Erfahrung. Das war die Zeit, da wollten die Leute reden und sie haben es. Sie haben das nicht gut gefunden, was ich dort gemacht habe und sie haben vielleicht auch nicht gut gefunden, was ich gesagt habe, aber sie haben es zumindest, das war deutlich zu sehen, akzeptiert und sie haben es auch honoriert, dass man sich der Debatte gestellt hat. Das ist eigentlich die wichtigste Erfahrung gewesen, die zugleich auch gezeigt hat, wo wir sicherlich vorher viele Fehler gemacht haben.

Würden Sie sich als Wende-Gewinner oder Wende-Verlierer bezeichnen? Gelten diese Begriffe überhaupt für Sie, oder würden Sie sagen: „Das sind Begriffe, die möchte ich mit mir gar nicht in Verbindung bringen“?

Also mit mir persönlich möchte ich sie nicht in Verbindung bringen, weil ich bin kein Wende-Gewinner, aber ich bin auch kein Wende-Verlierer. Wenn ich ein Verlierer wäre, müsste ich was verloren haben. Ja was denn? Eine Funktion, ein Amt? Nein. Wobei ich aber der Meinung bin, dass es nach wie vor sehr viele Verlierer gibt. Aber das sind zweifelsohne die Generationen, die noch ein bisschen älter sind als ich – die dann sehr schnell ernüchtert aus dem Arbeitsprozess rausgedrängt wurden, die zum Teil, man kann auch sagen seit 15-16 Jahren, zu Hause sind, jetzt endlich irgendwie den sicheren Hafen der Rente erreicht haben. Wende-Verlierer gab es, das glaube ich schon, genügend, aber für mich selber so? Ich habe nichts verloren. Ob ich was gewonnen hab, fragen sie mich in 20 Jahren noch mal.

Zum jetzigen Zeitpunkt, fühlen Sie sich in dieser Gesellschaft angekommen, ist das für Sie ein Gefühl der Heimat und des Zuhause-Seins ? Oder wie würden Sie 20 Jahre nach dem Herbst 1989 für sich diese Zeit beschreiben, jetzt, die wir heute haben? 

Also ich bin in dieser Gesellschaft nicht zu Hause. Ich lebe hier, ich lebe mit meiner Familie, ich lebe mit meinen Freunden, ich mache meine Arbeit, die mir zum großen Teil Spaß macht – das liegt daran, wie man an die Arbeit herangeht. Aber ich fühle mich… ja, ist schwer zu sagen… aber es ist nicht, es ist nicht mein Land. Dazu gibt es in diesem Land zu viele Dinge, die nicht in Ordnung sind, die man tagtäglich besichtigen kann, gerade in der heutigen Zeit. Ich hätte mir gewünscht, dass damals ein anderer Weg möglich gewesen wäre, wenigstens ein Versuch. Versuch und Irrtum. Scheitern wäre auch möglich gewesen, aber wir hatten die Möglichkeit gar nicht. Das ist eigentlich schade.

Sie meinten, Sie hatten die Möglichkeit nicht, damals was anderes zu machen in der DDR, oder? 

Ja. Nicht ich persönlich. Ich denke auch heute noch, dass diejenigen, die am Anfang standen, die wollten eine Veränderung des Landes. Eine Veränderung in der DDR, einen dritten Weg oder eine neue DDR oder was weiß ich. Neue Formen der Mitbestimmung, eine neue Ökonomie, das war am Anfang. Aber das war eben dann leider nicht möglich. Aber wie gesagt, die Mehrheit wollte einfach nicht mehr. Das muss man akzeptieren.

Gäbe es heute für Sie nochmal einen Grund, in die Politik zurückzugehen oder ist dieses Kapitel für Sie ein für alle Mal zu Ende?

Nein. Das geht überhaupt nicht. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass das herkömmliche Parteisystem, so wie wir es heute vorfinden, egal welche Partei, nicht in der Lage ist, Probleme zu lösen, überhaupt nicht. Was übrigens auch sehr viele Leute in der Bundesrepublik Deutschland schon vor der Wende wussten. Kurt Biedenkopf hat das schon 1988, glaube ich, oder 1987, in seinem Buch „Parteienlandschaft im Umbruch“ geschrieben, dass das herkömmliche Parteiensystem an sich selber scheitern wird und das sehen wir heute. Ich habe das Bedürfnis, nicht mehr in der Politik tätig zu sein.