Olaf Freund

Kurzbiografie

Olaf Freund gehörte der Initiative Demokratische Erneuerung (IDeE) an. Er ist Gründungsmitglied der Bürgerbewegung „Neues Forum“ und gehört zu den Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs „Aufbruch ’89 – Neues Forum“.

Heute arbeitet er als Direktionsassistent für Marketing, Organisation und Controlling in Dresden. Das Interview führt Thomas Eichberg.

Olaf Freund, geb. 1963

Interview

Der Sommer 1989, sagen wir mal vielleicht der August, wo waren Sie da? Wie haben Sie die Dinge wahrgenommnen, was haben Sie gehört?

Also ich habe in Dresden gelebt, schon seit ungefähr 1983. Ich war gerade Vater geworden im Jahr 1989 und da war das Leben eigentlich normal. Also es war nichts Einschneidendes passiert, außer, dass so Veränderungen drumherum stattgefunden haben, wie zum Beispiel in Ungarn die Grenzöffnung, dann auch in den anderen Ostblockländern. Natürlich waren vorher Prozesse im Gange, gerade 1977, dann die Prozesse in Polen, dann Gorbatschow. Da hat man alles wahrgenommen, registriert. Man hat sich gefragt: Wo geht die Reise hin? Warum ziehen wir da nicht mit? Wo bleiben die Leute hier? Warum geht hier niemand mit auf diese Fahrt? Warum gehen die Leute einfach nur in den Westen? Viele, auch von mir viele Freunde, sind gegangen. Das stand für mich nicht zur Disposition. Es war ja nie ein Thema für mich, sondern ich wollte hier leben. Ich habe gerne hier gelebt und habe hier meine Familie, meinen Freundeskreis und meine Arbeit gehabt. Ich habe nie wirklich ernsthaft darüber nachgedacht, eventuell in den Westen auszureisen. Das war noch nie eine Option.

Und wo waren Sie im Sommer? Können Sie sich noch daran erinnern, konkret im August? Wie haben Sie gehört von diesen Sachen?

Der Buschfunk funktionierte – über das Radio, über Telefonate mit Leuten, die Westfreunde hatten. Man ist ja selber viel rumgereist, hat viele Freunde besucht. Ich habe ja, ich komme ursprünglich aus Berlin, oft telefoniert, da hat man das so erfahren. Dann war ich ja Mitglied von der Gruppe IDeE, schon 1988 und davor hat man sich ja recht intensiv mit den gesellschaftlich-politischen Themen auseinandergesetzt und viel diskutiert. Sonst wäre man ja nicht dahin gekommen, dass man sich mit irgendeiner Gruppe arrangiert oder sich irgendwo anschließt. Ja, da war viel Mund zu Mund Propaganda. Da waren auch illegal gedruckte Zeitschriften und Dokumente, die herumgereicht wurden. Da waren schon Informationen da.

Und waren Sie zu der Zeit in der Lehre oder haben Sie studiert?

Nein, ich bin 1963 geboren. Also Lehre ist so eine offene Wunde, immer noch. Das hat etwas mit meiner Jugend zu tun, mit meiner Kindheit. Studiert habe ich nichts. Ich bin 1963 geboren und hatte eigentlich eine sehr glückliche Kindheit. Ich habe zwei Brüder und wir haben in Berlin Treptow gewohnt, das ist so ca. Wiener Brücke, das war wie so eine kleine Insel in Westberlin. Es gab bloß zwei Straßen und da öffnete sich so eine Blase. Da drin haben wir inmitten in Westberlin, das kann man so sagen, gewohnt. Dadurch war natürlich alles Grenzgebiet, das war auch spannend. Dort bin ich groß geworden. Ich habe da keine Erinnerungen an irgendwelche Repressalien, außer, dass immer viel Polizei präsent war und auch Armee. Die Gegend war Kreuzberg/Neuköln, also dort – wie heißt das? Auf Kreuzberg die U-Bahnstation? – Schlesisches Tor. Dort auf der anderen Seite und dann, wenn man  Richtung Kreuzberg guckt, nach links rein, dort an der Brücke, da bin ich groß geworden. Wir haben die Häuser auf der anderen Seite gesehen, genauso, wie das gegenüber. Da bin ich auch in die Schule gegangen. Ich bin dann das erste Mal, sagen wir mal mit 14 in der 8.Klasse, so richtig mit dem Staat aneinandergerasselt, so richtig fett. Das endete dann gleich in einem Verfahren mit Androhung von sechs Monaten Jugendhaft, 18 Monaten Bewährung und unbezahlter Arbeit in der Produktion wegen Angriff einer sozialistischen Persönlichkeit und Zerstörung von sozialistischem Eigentum. Dann habe ich meinem Direktor ins Direktorenzimmer einen Pflasterstein reingeschmissen, nachts um zehn. Die Ursache dafür war, dass ich in eine andere Schule strafversetzt wurde. Als Sündenbock, wegen einem, den man nicht verurteilen wollte, den man nicht bestrafen wollte, weil er der Sohn von einem Polizeisekretär von einem großen Berliner Kombinat war. Meine Mutter war alleinerziehend und wir waren drei Jungs. Der Sohn vom Parteisekretär ging in meine Klasse, der hat ordentlich hingelangt mit anderen Leuten in der Klasse und ich bin dafür gegangen worden, damit man jemanden köpfen kann. Es gab in meiner Klasse, da habe ich dann auch gestaunt, eine ausgesprochene Einstimmigkeit im Protest dagegen, aber das hat nichts mehr genützt. Das lief recht kurios ab. Also da war das Ereignis halt, was passiert ist und daraufhin gab es eine Untersuchung, wie ich sie noch nie erlebt habe. So richtig mit Stasi und allem drumherum. Wir wurden abgeholt und stundenlang verhört. Es war danach praktisch ein halbes Jahr Ruhe und dann war Jugendweihe. Zwei Tage nach der Jugendweihe kam auf einmal der Direktor ins Zimmer und hat für die Geschichte die Urteile verlesen. Das war auch sehr komisch. Es war damals eigentlich nichts mehr passiert und plötzlich kommt da jemand, stellt sich vor die Klasse und sagt: “Tadel, Schulverweis.“ Ich musste sofort meinen Ranzen packen, bin auch gleich an die andere  Schule gefahren. Ich war darüber frustriert, dass ich noch am gleichen Abend meinem Direktor die Scheibe eingeschmissen habe – ich hätte für ein paar Tage warten sollen. Gleich am nächsten Morgen standen die Langbemäntelten in der Klasse in der Neuen und haben mich gefragt: „Kennen Sie diesen Stein?“ Ich war so perplex und habe gleich „Ja“ gesagt. „Kommen Sie mit!“ und daraufhin gab es halt dieses Verfahren. Ab da hatte ich in Betragen eine Fünf, da konnte ich machen was ich wollte. Ich habe dann auch ziemlich lange Zeit die Schule geschwänzt und war einfach fertig mit allem. Ich habe gedacht: Das kann nicht wahr sein. Ich habe dann aufgrund dieser Fünf in Betragen  keine Lehrstelle bekommen. Das heißt, das Amt für Jugend, so hieß das in der DDR, hatte mir eine Lehrstelle vermittelt, zufälligerweise bei Dresden in einem Dorf, das Lichtenberg heißt. Das wäre eine Internatsausbildung gewesen zum Zootechniker, also Kühe melken und so, das hätte mir direkt gelegen. Ich wollte sogar weg aus Berlin, aber da gab es die Bedingung, dass die Fünf in Betragen weg muss und die war festgemeißelt. So wurde der Ausbildungsvertrag wieder aufgelöst und ich stand dann nach der 10. Klasse ohne Lehrstelle da und habe auch keine mehr bekommen. Ich bin aufs Amt für Arbeit und habe gesagt: “Hier bin ich, habe die 10. Klasse abgeschlossen und habe keine Lehrstelle.“ Da haben die gesagt: “Gibt es nicht“ und ich: „Gibt es doch.“ Da haben die mir dann was vermittelt in Berlin Schönewalde in den Berliner Metallhütten und Halbzeugwerken und da bin ich arbeiten gegangen als Transportarbeiter, also so richtig Knochenarbeit. Ich habe dort ja bis zum Frühstück 13-14 Tonnen Metall mit der Hand bewegt, je 40 Kilo-Blöcke verpackt und versandfertig gemacht. Ich habe da körperlich sehr zugelegt, ich war vorher ein ganz schmales Hemd. Ich hab dann dort die Erwachsenenqualifizierung gemacht als Facharbeiter im Lager, also nichts Spektakuläres. Ich weiß gar nicht, ob es das heute gibt, wahrscheinlich ja. Ich bin dann aber relativ schnell nach Dresden gezogen, weg aus Berlin, habe eine Frau kennen gelernt in Dresden, bin ihr hinterher gereist und dann in Dresden gelandet. Ich habe an der Semperoper angefangen zu arbeiten. Ich hab gar nicht gewusst, dass das funktionieren würde, weil es ja ein Staatsbetrieb war. Die damalige Personalchefin dort, ich weiß gar nicht mehr, wie sie hieß, war eine ausgesprochen nette Person. Die war schon ein bisschen älter, ein bisschen korpulent, so ein Mutti-Typ, mit ihr habe ich mich eigentlich gut verstanden. Die hat gesagt: “Na? Haben Sie denn hier eine Wohnung in Dresden?“ Ich hab gesagt: „Ne, weil ich ja keine Arbeit habe.“ Das war also der Kreislauf und da hat sie gesagt: “Kennen sie jemanden in Dresden?“, ich sagte: „Ja.“ –  „Na da melden Sie sich dort doch zur Untermiete an, da gucken wir mal weiter.“ Dann habe ich das gemacht. Da habe ich den Job bekommen und dann irgendwann über den Betrieb auch eine Wohnung. So bin ich in Dresden gelandet, habe die Frau gekriegt, die ich wollte und war dann im Sommer 1989 hier in Dresden fest integriert mit Arbeit, Freundeskreis und mit allem drumherum.

Das heißt, das war so ein künstlerisch-kulturelles Umfeld? Da wurde viel und offener diskutiert?

Ich wusste, dass damals unser Abteilungsleiter – ich habe an der Semperoper an der Probebühne gearbeitet –  eigentlich solche Gespräche weitermelden musste. Wir wussten, wer dazu gehört, aber das war recht offen. Der ist dann, wenn die Jungs angefangen haben zu reden und zu schimpfen, eher gegangen, damit er nichts aufschreiben musste. Das war klar, aber das war alles recht entspannt.

Das war wahrscheinlich auch die Zeit 1988, als sich IDeE herauskristallisierte. Wie kam es denn nun dazu?

Ich hatte im Freundeskreis Bekannte. Wir haben viel und gerne Rotwein getrunken und wir haben viel zusammengesessen, da hat man solche Themen halt beackert, die einem auf dem Nagel brannten. Wenn zum Beispiel mal wieder einer ausgereist ist, dann haben wir natürlich über die Ursachen gesprochen oder was man ändern müsste, damit das nicht so ist. So hat man auch andere Leute mit gleichen Motiven kennen gelernt, die auch nicht weg wollten und die gesagt haben: „Wir wollen eigentlich hier was verändern, wir wollen hier Kritik üben, konstruktive Kritik“ und „Wir wollen an unserem Lebensmittelpunkt die Welt verändern und nicht vor den Problemen weglaufen.“ Wir haben uns dann sicherlich auch an anderen Gruppen orientiert und was die machen und haben uns dann „IDeE“ genannt, Initiative Demokratische Erneuerung und haben halt im Untergrund, ganz konspirativ und zum Teil bestimmt auch sehr naiv, versucht, dort die Welt zu verändern. Aber es war eine ausgesprochen schöne Zeit. Es gibt viele, die zurückblicken und sagen: „Alles war ganz grau und alles war angsterfüllt, die Staatsmacht war überall“, das kann ich überhaupt nicht sagen, weil ich in der Richtung nichts erlebt habe. Klar, wenn wir auf eine Demo gegangen sind und „staatsfeindliche“ Transparente hochgehalten haben, dann haben wir aber auch gewusst und damit gerechnet, dass es jetzt gleich unter Umständen eine auf die Mütze gibt. Das ist mir auch passiert, ich bin verhaftet worden. Dann ging es auf die Schießgasse, da wurde man nicht sanft behandelt, sondern da wurde man hin und her geschubst. Das war aber nicht so, dass ich lebensbedrohliche Empfindungen gehabt hätte oder wo ich gesagt hätte: Um Gottes Willen, was ist das für eine Diktatur hier?

Das war aber noch vorher, also 1988? Hat das was mit „Schwerter zu Pflugscharen“ zu tun?

Ja, so in dieser Zeit.

Was waren das denn für Demonstrationen?

Das waren Mai-Demonstration, wo wir so ein Transparent von Rosa Luxemburg hoch­gehalten haben. Also nicht ich, sondern Freunde. Ich stand mit in der Nähe. „Die Freiheit des anders Denkenden“ stand darauf oder so ähnlich. Dann kamen sie angerannt von allen Seiten, wollten das Transparent einkassieren und die Leute, die das Transparent gehalten haben. Dann hat man sich dort mit dazwischen geworfen und versucht, das Transparent zu retten. Die Leute, die es gehalten haben, wurden nun halt weggeführt und sind dann befragt worden. Es gab ein Ordnungsgeld und dann sind sie wieder nach Hause geschickt worden. Andere sind durchaus nicht so schnell wieder nach Hause gekommen, dort sind wir jedenfalls gelandet. Das ist mir zwei Mal passiert, eben halt auf einer Mai-Demonstration und einmal, wo ich in Gittersee gegen das Reinstsiliziumwerk demonstriert habe. Da war es dann eine repressive Verhaftung, also mit Knebelketten und allem drumherum. Da waren auch viele Kräfte in zivil dort, aber auch uniformierte Polizei. Man hat uns auf einen W50 geladen und da war dann schon auf dem W-50 die Stimmung: „Oh Gott, wo geht es jetzt hin? Wo fahren die uns jetzt hin?“ Ich habe aber, das muss ich ehrlich sagen, vielleicht naiv darauf vertraut, dass der Staat trotzdem staatsbürgerliche Rechte einigermaßen respektiert – vielleicht noch nicht heute, aber dann morgen oder übermorgen. Ich habe kein Angst gehabt, dass es nach Bautzen geht. Dann ging es auf die Schießgasse. Dort wurde wieder ein bisschen hin und her geschupst. So war es, alles unfreundlich und alles bedrohlich. Die hatten es sich vorgenommen, uns einzuschüchtern. Aber es war nicht so, dass ich das Gefühl gehabt hätte, ich sehe meine Frau und mein Kind die nächsten Wochen nicht wieder. Nach geschätzten sieben/acht Stunden waren wir wieder draußen. Es gab noch ein Bußgeld, das musste man ja konsequenterweise noch vergeben.

Gab es da Drohungen und so nach dem Motto: Es könnte mal auch für längere Zeit sein? Oder dass es mal zur Armee geht für anderthalb Jahre?

Wer will denn so einen wie mich bei der Armee haben? Aber Drohungen gab es natürlich bei dem Gespräch auf der Schießgasse. Da hat man dann Akten gewälzt: „Sie sind ja auch nicht das erste Mal hier“, aber das war für mich nicht bedrohlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich ohne Gerichtsurteil irgendwo einfahre, das muss ich ehrlich sagen. Das mag naiv sein, aber es war mehr Abenteuer dabei, als heute noch zugestanden wird. Auch Freunde von mir, mit denen ich heute über damals spreche, die haben es auch so erlebt. Also die haben auch gesagt: „Klar, war schon fett damals, aber im Grunde war es doch auch viel Spaß.“ Was haben wir viel bei Rotwein abends gesessen und uns überlegt, wie wir den Staat ärgern wollen. Da war auch viel Abenteuer, Spannung und Kreativität dabei, da war nicht nur Repression und Angst.

Was war denn so die Antriebskraft? Was war so die Motivation?

Die Antriebskraft lag sicherlich in den vielen Einschränkungen, die man hatte. Also die Freunde, die weggehen, die gingen ja auch nicht ohne Grund, die haben ihre Unzufriedenheit natürlich geäußert: „Alles nicht mehr auszuhalten hier“, „diese Enge“ und was weiß ich nicht alles. Viele  hatten auch Verwandtschaft im Westen, die sie nicht sehen konnten oder Freunde die schon weggezogen waren, die sie dann nicht wieder gesehen haben. Die haben gesagt: „Ich will weg hier, ich halte es hier nicht mehr aus.“ Ich hatte auch Freunde im Bekanntenkreis, die in ihrer beruflichen Entwicklung gehindert wurden. Diese Konsumeinschränkung habe ich nicht so wahrgenommen, also ich habe nie gehungert. Es gab nicht immer alles, es war ja auch nicht alles gegen Geld erhältlich. Also ich hatte nie einen Anspruch, ein Auto zu fahren, sondern ich hatte mich mehr oder weniger damit abgefunden, dass ich auch ohne Auto klar komme. Ich bin nie dem Konsum hinterhergerannt, deshalb hatte ich dort auch nichts großartig vermisst. Ich habe an der Staatsoper gearbeitet, dort war viel Kultur, dort hat man sich mit Leuten unterhalten, die relativ frei gedacht haben. Meine Mutter hat in einem Verlag gearbeitet. Ich habe jedes Buch zu Hause gehabt, das ich lesen wollte. Die Motivation, trotzdem etwas zu unternehmen, lag sicherlich im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis in der DDR. Das habe ich schon in sehr frühen Jahren gespürt. Wir haben zu viert in einer ziemlich kleinen Zweiraumwohnungen gewohnt, die war im Winter kalt und nass und überall war Schimmel. Es war alles nicht so hübsch, der Altbau war seit dem Krieg nicht saniert worden. Wir hatten zwar fließend warmes Wasser, aber es war halt alles relativ verschlissen und es war auch sehr eng. Drei Jungs in einer kleinen Zweiraumwohnung mit der Mutter. Wir hatten seit zehn oder 12 Jahren einen Dringlichkeitsantrag auf Zuweisung eines größeren Wohnraumes und der wurde ja zugewiesen. Zehn oder 12 Jahre Dringlichkeit und nie ist was passiert. Immer wieder rausgeschoben, immer wieder: „Nein, wir haben keine Wohnung“ und dann haben sie aber im Staatsbürgerkundeunterrichtet gesagt: „Jeder, der eine Wohnung braucht, der kriegt eine.“ Dann hat jemand irgendwann mal gesagt: „Habe da mal ne Frage.“ und dann hat sie die Frage gestellt und dann wurde der Staatsbürgerkundelehrer aggressiv und hat sich einem anderen Thema zugewendet. Die Kinder oder Jugendlichen fingen an, das zu hinterfragen. Dann fragten sie sich auch, warum die Schule direkt an der Mauer steht. Eine Giebelwand von der Schule grenzte an die Mauer, die Grenzmauer war direkt an die Schule angeschlossen. Drüben fuhren Coca-Cola Autos rum. Dann haben auch die Menschen, ich kann mich noch erinnern, bei der Honecker Wahl, drüben Podeste aufgebaut und hinübergebrüllt mit Megaphonen: „Honecker bedeutet Krieg“ und sowas . Da haben wir uns gefragt: „Warum können die das? Wie können die so frei sein, sich da drüben auf das Podest stellen und ihre Meinung sagen und wir nicht?“ Wenn wir das versucht hätten – aber hallo. Das waren so die kleinen Repressalien, die großen habe ich nicht hinterfragt.

Das heißt, da bekam man schon so eine gewisse eigene praktische Lebenserfahrung, die auch so eine gewisse Trotzreaktion hervorgerufen hat?

Das war ja im Prinzip ab dem Moment so, als ich von der Schule geflogen bin. Da habe ich schon die Konfrontation gespürt zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, weil ich das als Unrecht empfunden habe. Das hab ich schon. Aber das hat mich irgendwie im späteren Leben dann, also bis 1989, auch nicht weiter eingeschränkt. Ja, ich war zwar nicht mit allem einverstanden, aber ich war nicht so unzufrieden und ich habe mich nicht blockiert und behindert gefühlt, so dass ich gesagt hätte: Ich will hier weg. Ich hatte die Frau, die ich geliebt habe, die hier gelebt und studiert hat, mein Kind ist hier geboren, meine liebsten und engsten Freunde waren hier in der DDR im unmittelbaren Lebensumfeld und ich habe keinen Zwang gehabt jetzt wegzulaufen, sondern halt viel mehr das Motiv, hier etwas zu verändern. Ich wollte hier mit den Menschen, die hier leben und die auch hier leben wollen, etwas zum Positiven verändern.

Wie weit war denn da so eine Vernetzung zu anderen Gruppen in Dresden, Wolfspelz beispielsweise? Kannte man sich? Wie tauschte man sich denn aus?

Wir kannten uns flüchtig. Es gab zum Beispiel die Catrin Ulbricht, die ja auch in der IdeE war, die war sehr eng befreundet mit Leuten vom Wolfspelz. Es spielte auch mal so eine große Rolle, wo sie sich getroffen haben. Wir haben uns fast ausschließlich bei der Familie Ulbricht getroffen und dort haben wir auch Leute vom Wolfspelz kennen gelernt. Dort bekamen wir von anderen Gruppen Dokumentationen, unter anderem auch sehr viele lyrische Sachen. Dort fand halt eben auch ein Austausch statt, aber jetzt nicht so, dass wir gemeinsam Aktionen geplant haben, so war das nicht. Jede Gruppe hat sehr für sich – ich will nicht „gewirtschaftet“ sagen, ein böses Wort – gelebt und eigene Sachen gemacht. Vielleicht einerseits zum Schutz, weil je größer und breiter ich mich mit meinen Ideen gesträubt habe, umso größer war die Gefahr, dass da Leute dabei sind, die ich nicht mehr dabei haben will. Ich wollte beispielsweise nichts mit der Kirche zu tun haben, also ich hatte direkt eine Abneigung gegen Religion und Kirche gehabt. Die habe ich zum Teil auch heute noch, ich habe da keine Beziehung zu. Ich finde es auch zum Teil gefährlich, was damit getrieben wird und was da für Motive verfolgt werden, wie Menschen damit manipuliert werden, so dass mir der Zugang dazu gefehlt hat. Ich habe allerdings auch sehr enge Freunde gehabt, die Pfarrer waren, die habe ich auch menschlich gemocht, gern getroffen und habe mit denen gerne und spannend diskutiert.

War denn diese Zeit aus der Erinnerung heraus bedrohlich in dem Sinne, dass man vielleicht entdeckt wurde? Oder dass die Staatssicherheit mittendrin sein könnte in der Gruppe und man nicht weiß, wieviel die wissen?

Das ist ja halt der Punkt, über den sich rückblickend viele Gedanken machen. Das war alles so grau und bedrohlich und beängstigend und man wurde ewig verfolgt und ewigen Repressionen ausgesetzt. Wir haben damals auf dem Sonnenblumenweg in einem Neubau gelebt, ich und meine Frau. Da war unter uns eine Einraumwohnung und die war angeblich leer. Der Bewohner ist angeblich eingefahren, trotzdem war immer jemand in der Wohnung, man hat aber nie jemanden getroffen. Man hat jedoch gesehen, dass sich die Gardinen bewegen, manchmal war Licht und da war man schon fast sicher, dass jemand damit beauftragt ist, uns vielleicht abzuhören. Das war in der Neubauwohnung relativ einfach. Ich war mir bewusst, dass die da sind, aber ich habe nicht zu einem einzigen Zeitpunkt das Gefühl gehabt, dass die gleich die Wohnungstür hereinstürmen, alles auseinander nehmen oder mich mitnehmen. Da würde ich lügen, wenn ich das sagen würde.

Hat sich das irgendwie mal bewahrheitet? Also haben Sie mal in Ihre Stasiakte geschaut? War das überraschend?

Ich habe meine Stasiakten bis heute noch nicht angeschaut, die liegen aber hoffentlich noch gut verschlossen irgendwo rum. Ich glaube, die Frau Ulbricht hat in meiner Akte gelesen, weil sie dort war. Man darf ja die Akten anderer lesen, wenn man Andacht dazu hat, aber ich selbst habe das nie getan. Ich habe den Antrag mehrmals schon zu Hause auf dem Tisch liegen gehabt und gedacht: So, jetzt füllst du ihn mal aus. Ich habe es nie gemacht, ich kann nicht sagen, warum. Ich habe keine Angst vor Überraschungen, weil ich das Menschen heute nicht mehr übel nehmen würde. Ich glaube, da könnte keine Enttäuschung mehr sein. Ich bin auch keiner, der sagt: „Ich bin aus Überzeugung Oppositioneller geworden“ oder so, sondern ich sage genauso: „Hätten sie mich nicht von der Schule geschmissen, dann wüsste ich nicht, ob ich nicht auf der anderen Seite gestanden hätte.“ Ich war ein interessierter Schüler, gesellschaftlich und politisch engagiert, das kann man sagen. Ich weiß nicht, ob ich widerstanden hätte, wenn jemand gekommen wäre und gesagt hätte: „Wollen Sie nicht für uns dies und jenes tun“ und „der Sozialismus eine gute Sache.“ Ich kann das nicht mit einhundert prozentiger Sicherheit sagen, weil mein großer Bruder hatte sich vor 25 Jahren für die Armee verpflichtet, der wollte studieren, der hatte in allen Fächern eine Eins, der war echt so was von gut in der Schule. Der hatte dann einen blöden Unfall mit der Munition gehabt, weil er viel gebastelt hat zu Hause. Das hat alles beendet. Aber der hat einhundert prozentig mit seiner Verpflichtungserklärung für 25 Jahre auch sowas unterschrieben wie „Rotfront“. Ich weiß nicht, ob ich es nicht auch gemacht hätte, das hat sich aber einfach nicht ergeben. Aufgrund des Vorfalls in der 8. Klasse war ich automatisch auf der anderen Seite. Ich bin keiner, der sich hinstellt und sagt: „Ich verurteile jeden, der schwach geworden ist.“ Ich meine das, weil man durchaus sagen könnte, dass es Lebenssituationen und auch Leute gibt, die das für eine gute Sache gehalten haben, die mit guten Glauben und ruhigem Gewissen in der Partei waren. Die sagen: „Mensch, ich habe mir nie was zu schulden kommen lassen. Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet.“ Ich kenne in der Familie solche Fälle, die sagen: „Ich war in der Partei“ und die stehen auch dazu: „aber ich bin früher arbeiten gegangen, habe mein Ding gemacht, habe Familie gehabt, habe meine Kinder großgezogen, war immer redlich. Ich habe nie jemanden angegriffen“ und den kann ich nicht verurteilen, wofür auch? Ich bin durchaus auch so, dass ich heute nicht mit allen Dingen einverstanden bin, die hier passieren und die hier laufen. Ich habe mir viele Fragen gestellt, ob das alles gut und richtig so ist, was hier – auch zur Wende – passiert ist und wie es passiert ist. Die Wiedervereinigung, die kann man durchaus in Frage stellen: Hätte es da nicht andere Wege geben können? Hätte man nicht das deutsche Volk z.b. auch einer gemeinsamen Verfassung mal befragen können? Warum ist das eigentlich bis heute so, dass wir die nicht haben? Da gibt es viele Dinge, die man durchaus kritisch sehen kann.

Das heißt, die Stasiunterlagen haben für Sie gar keine Bedeutung?

Genau. Heute früh war etwas, das ist vielleicht ganz witzig. Ich habe mit Kirchen nichts am Hut, sage ich, also ich kann mit dem Glauben überhaupt nicht umgehen. Ich will da jetzt nicht zitieren: „Ich will wissen und nicht glauben“, aber ich kann damit nichts anfangen, dass man an etwas glaubt, was nicht real erfassbar/erfahrbar ist. Unterhalten Sie sich mal mit Christen darüber, die erzählen das ganz anders. Ich höre jeden Morgen Deutschlandfunk und wie es der Teufel will, hielt heute früh ein Pfarrer aus Berlin im Deutschlandfunk die Morgenpredigt. Der hat im Bezug auf die Vorfälle vom letzten Jahr auf dem Wiener Platz in einem Nebensatz gesagt: „anders als damals 1989, wollen die Menschen im Iran, die alle auf die Strasse gehen, das System nicht abschaffen.“ Mein Gott, was für eine schwachsinnige Wahrnehmung der Ereignisse 1989, das war nämlich durchaus nicht so. Schon allein der Gedanke, wir könnten das System abschaffen, der war doch gar nicht da. Als am Anfang in Leipzig die Demos losgingen und als es dann überschwappte auf andere Städte, da hat doch weiß Gott kein Mensch geglaubt, wir könnten das System abschaffen. Ich bin mir sicher, dass es viele von denen – ich will mich nicht auf Prozentzahlen festnageln – auch nicht wollten. Erst als das in Sack und Tüten war, als es dann auf die Wahlen zuging, als die Zimmer offen waren, da rannten die Leute auf die Straße und brüllten: „Helmut Kohl“ und „D-Mark“, davor hieß es: „Wir sind das Volk“, „Wir bleiben hier“, „Keine Gewalt.“ Das waren die Motive. Unter denen waren es bestimmt die Wenigsten, die nun mit Gewalt das System abschaffen wollten. Ich bin nicht sicher, ob die das haben wollten, ob das zur Diskussion stand, deshalb dachte ich heute früh: Was für eine komische Wahrnehmung. Es war wichtig, dass man darüber spricht, wegen der Leute, die damals dabei waren und alle denen, die deshalb auf der Strasse demonstriert und vielleicht zugeschaut haben. Was war denn bei dem los? Was haben die gedacht?

Kommen wir nochmal kurz zurück. Das heißt, die Unterlagen oder was dann in der Akte steht, das würde Sie nicht so interessieren? Also würden Sie dem gar nicht so eine Bedeutung beimessen?

Das interessiert mich einerseits schon, andererseits interessiert mich das auch wieder nicht. Ich messe dem trotzdem keine große Bedeutung bei. Das würde jetzt auch heute auf mein Leben keinen Einfluss mehr nehmen. Das würde vielleicht die ein oder andere Vermutung oder das ein oder andere Gefühl bestätigen, andere vielleicht entkräften, aber ich fühle mich nicht manipuliert. Ich habe nicht das Gefühl, dass mich da irgendjemand manipuliert hätte, da ich weiß, dass wir überwacht worden sind. Die Akten werden ziemlich dick sein, sie sind eröffnet worden, als ich 14 war, aber ich habe nicht das Gefühl, dass mich das zu neuen Erkenntnissen führen oder dass mein Leben eine andere Bedeutung bekommen würde. Deshalb ist es eine Zeitfrage, also wieviel Zeit investiere ich jetzt da rein? Wenn ich jetzt arbeitslos wäre oder Rentner und ich hätte viel Zeit, dann würde ich vielleicht sagen: Ich guck mir das mal an, ich acker das mal durch, ich ziehe da mal Bilanz, aber im Moment gehe ich arbeiten. Ich habe kleine Kinder, ich hab eine Frau, eine Wohnung und ich habe eine Katze. Das heißt, jeder Tag ist spannend und lang. Was soll ich mich da jetzt mit Sachen belasten, von denen ich sage, das hat auf mein Leben keinen Einfluss?

Kommen wir auf den Sommer 1989 zurück. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dem Sommer?

Ich glaube, das war ein schöner Sommer mit schönem, warmen Sommerwetter. Es war eine Aufbruchstimmung, irgendwie haben alle gedacht: Mensch, das kann so nicht weitergehen, wir müssen uns jetzt endlich den schon vorhandenen Protesten in Leipzig anschließen, wir müssen was machen. In diese Zeit fiel dann Gittersee. Da war dann auch viel Spannung drin, da war auch sehr viel Explosives dabei. Die Atmosphäre war explosiv, als wir in Gittersee waren. Das war ziemlich kritisch, ziemlich grenzwertig, wie da die Ordnungskräfte mit den Bürgern umgegangen sind. Dann hieß es aus anderen Gruppen, da wollen sich welche in Berlin treffen, da soll es was geben, da will man sich zusammensetzen, da wollen sich Vertreter aus der ganzen Republik aus den Oppositions- und Friedensgruppen und aus der Bürgerinitiative treffen. Es hieß, da könnte ein Vertreter aus unserer Gruppe mitfahren und spontan habe ich gesagt: „Wenn ich da frei habe und nicht arbeiten muss, dann fahre ich da hin.“ Dann gab es noch andere, die gesagt haben: „Ja, wir fahren auch gern“, aber dann war es so, dass ich der Einzige war, der mitfahren konnte. Da habe ich gesagt: „Okay, da fahre ich hin.“ Ich glaube, das war dann das Treffen bei Grunheide. Wir haben uns dort hingesetzt, haben viel diskutiert, viel gesprochen und natürlich, wie das immer so ist, versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Die einzelnen Formulierungen wurden zum Teil ziemlich heftig diskutiert. Da gab es Leute, die wollten wesentlich radikaler und  viel konstruktiver sein, dem Staat mehr die Hand reichen. Man hat dann letzen Endes einen Grundsatz gefunden und dann ging es darum, wie wir das jetzt ans Volk bringen. Wie machen wir das jetzt? Die effektivste Methode ist aber, wenn man da einer Meinung einen Namen gibt, also eine Persönlichkeit hat, die dahinter steht. Man braucht eine Person, die sich damit identifiziert, die dann dafür gerade steht und die sagt: „Das ist meine Meinung, die lasse ich mir nicht abnehmen und zu der stehe ich. Für die bin ich bereit zu kämpfen.“ Dann haben wir beschlossen, dass wir alle diesen Aufruf „Aufbruch ’89“ unterschreiben mit Namen und Adressen. Namen, damit eben für das Volk Kontaktmöglichkeiten, Anlaufpunkte gegeben sind. Das Ganze sollte als Verein angemeldet werden, um eben so schnell wie möglich die Menschen zu bewegen und die Probleme, die in diesem Erstanlauf angesprochen waren. Es war ja kein allgemeingültiger Anspruch. Das war eigentlich nur: Darüber müssten wir mal reden, darüber sollten  wir uns mal unterhalten, das sind die Dinge, die die Menschen bewegen. Ab da war der Sommer eigentlich vorbei. Also da habe ich jeden Abend die Bude voll mit den Leuten gehabt, die das in die Hand bekommen haben. Für mich ist unerklärlich, wie schnell sich das im Land verbreitet hat. Das war unglaublich. Jeden Tag kamen Leute an und es klingelte an der Tür. Ich weiß nicht, wieviel davon von der Stasi waren. Die gesagt haben: „Wir haben das gelesen, da steht Ihr Name drunter. Wer sind Sie denn? Was bedeutet das? Wie können wir da mitmachen? Wie können wir uns da anmelden?“ Das war quasi ab da jeden Abend und auch tagsüber. Ja, die Bude war jeden Tag voll.

Das war in Dresden?

Ja, das war dann in Dresden ganz normal in meiner Wohnung. Da stand von jedem Einzelnen die Adresse von der Wohnung drunter. Die Menschen waren auf einmal da und die wollten wissen: „Wie können wir hier mitmachen? Was können wir tun? Das sind die genau die Sachen, über die wir jeden Tag nachdenken, die wir besprechen wollen.“ Das war extrem aufregend, weil da haben sie jeden Abend mit Menschen zusammengesessen, die Fragen gestellt haben, die sie interessierten, die sie diskutieren wollten. Einige Frustrierte waren dabei und auch sehr viele Leute, deren erwachsene Kinder in Bautzen waren oder die irgendwo in den letzten Jahren alles Mögliche erfahren haben oder ausgereist waren. Menschen, deren Familien zerrissen waren. Die haben dann gesagt: „Mensch, wir haben auch schon seit Jahren den Ausreiseantrag gestellt, wo nichts passiert. Können Sie da nicht helfen?“ Da war alles dabei. Ich muss auch sagen, ich stand dann mit denen in meiner Wohnung und wir haben viel gesprochen. Wir haben immer nur sagen können: „Organisiert Euch! Schließt Euch zusammen! Engagiert Euch! Tretet dem Verein bei, verbreitetet das und geht auf die Demos!“, die dann so langsam aufkamen. Mehr konnten wir nicht machen, weil sie ja keine Möglichkeiten hatten, keine Räumlichkeiten, wo sie irgendwas aufziehen konnten. Sie hatten auch keine Möglichkeit, eine öffentliche Demo anzumelden, dazu aufzurufen, wo dann alle hinkommen. Das gab es alles nicht, sondern die haben mehr oder weniger den Leuten nur sagen können: „Unterhaltet Euch im Betrieb! Unterhaltet Euch mit Euren Nachbarn! Habt endlich Mut, nicht nur in der Stube, wenn die Gardinen zugezogen sind, sondern tragt das nach draußen, dass Ihr darüber reden wollt! Redet mit jedem!“ So hat sich das dann ergeben.

Wie wichtig war die Struktur? Wie weit wurde darüber mit dem ganzen Formalien überlegt: Müssen wir einen Verein hier in Dresden gründen? Oder ging das mit dem großen Verein in Berlin? Wie wichtig waren solche Strukturen?

Die Menschen wollten natürlich vordergründig wissen, was man hier machen kann: „Wo kann man hier eintreten?“ Die Struktur spielt da eine ganz große Rolle. Ich weiß nicht, ob es in der Natur des Menschen liegt, dass er so eine Struktur braucht, vielleicht gibt das auch Sicherheit. Vielleicht bekommen auch Organisationen, die eine Struktur haben, eine gewisse Macht und das Gefühl, dass ich bei etwas dabei bin, was mir auch Sicherheit bietet. Aber das konnten wir nicht anbieten, das wussten wir zum Teil selber nicht. Die Vereins­anmeldung hat nie stattgefunden, also ist nie durchgegangen. Den Versuch, das als Verein anzumelden, gab es ja mehrmals, aber das hat nicht geklappt. Wir konnten ja gar nichts anbieten, wir konnten nur sagen: „Wir können uns immer wieder treffen, wir können immer wieder darüber reden, wir können die Themen immer wieder ansprechen.“ Dann waren Leute dabei, die waren in der Partei, das war schon spannend. Die kamen an und die wollten reden, die haben gesagt: „Das bewegt uns schon so lange, wir kommen da bei den Parteisitzungen nicht weiter, weil man das ja gar nicht ansprechen darf.“ Da habe ich gesagt: „Sprich das an, sprich das bei der Partei an! Bring die Themen auf den Tisch, hau mit der Faust auf den Tisch, wenn keiner zuhört! Darüber müssen wir reden. Das ist das, was unser Land kaputt macht. Das sind die Themen, über die wir endlich reden müssen. Wenn wir das nicht tun, dann rennen uns die Leute hier weg.“ Das war also spannend. Da waren Menschen dabei, die gerade dann, wenn sie in der Partei waren, interessierter, kritischer und engagierter waren als andere. Wirklich viele haben gesagt: „Ich bin in der Partei, ich lebe hier gerne und ich will das mit ansprechen, was Sie da formuliert haben. Was Sie da auf das Papier gebracht haben, das finden wir mutig. Wir sind so froh, dass das mal endlich einer angesprochen hat.“ Da hat man mal richtig gemerkt, dass in dem Land ist das Bedürfnis ganz stark ist, miteinander zu reden. Die Menschen wollten endlich reden dürfen und das auch öffentlich, es ging gar nicht so viel darum, wegzulaufen oder auszureisen.

Hat das in der Zeit Ihre eigene Sicht auf die eigene Biographie geändert, also diese Erfahrung zu verschiedenen Leuten, auch Leuten aus dem System, in Kontakt zu kommen? Hat das Ihre eigene Erfahrung zum Beispiel in der Schule beeinflusst oder war dafür keine Zeit?

Ich glaube nicht. Ich habe ja in der Semperoper und vorher im Berliner Sägewerk gearbeitet. In der Transportarbeiterabteilung dort habe ich auch mit Menschen zu tun gehabt, die in der Partei waren, die aber ganz normale Menschen waren. Das waren liebenswerte Menschen, die nicht deswegen in der Partei waren, weil sie sich dadurch einen persönlichen Teil erhofften. Die gab es natürlich auch, die sogenannten Karrieren in der Partei, aber da waren ganz normale Menschen wie ich, die in der Partei waren. Die haben sich irgendwann entschieden in diese Partei zu gehen, weil da gab es auch welche, die waren in der CDU oder LDPD oder was auch immer es da gab. Die waren jetzt nicht irgendwie anders oder dass sie mir das Gefühl vermittelt hätten, dass sie die Machthaber in diesem Land wären, das waren ganz normale Menschen. Ich habe diese einzelnen Personen natürlich nicht mit dem Apparat in Verbindung gebracht, der dahinter stand. Die waren genauso weit weg von diesem Apparat wie ich. Das hat man auch gespürt. Wenn man nicht Parteisekretär war, wenn man kein Amt bekleidet hat, sondern ein ganz normales Mitglied war, dann war man genauso weit weg vom Apparat, wie alle anderen auch. Mein Gott und wie viele von denen man da kennen gelernt hat, die gesagt haben: „Ich bin in der Partei.“ Die haben genauso Westfernsehen geschaut, sich genauso verhalten, wie jeder andere auch, die haben genau dieselben Nöte gehabt, genau dieselben Bedürfnisse, dieselben Themen diskutiert, dieselben Bücher gelesen. Ich kann nicht sagen, dass die Wendezeit da irgendwie einen anderen Blick zu mir selbst oder zu meiner Vergangenheit damals vermittelt hätte. Die gespürte Ungewissheit und Ungerechtigkeit, die war damals schon da. Das Wissen, dass das System daran schuld ist und nicht der einzelne Mensch, das hatte ich auch bereits. Ich wusste damals, als ich ein Kind war, dass mein Direktor daran schuld war, dass ich da in unmittelbarer Folge der Ereignisse gleich zur Stasi zitiert wurde,. Der hat mich dort hinzitiert, der hat den Tipp gegeben, der hat das alles an die große Glocke gehangen. Dem habe ich das menschlich übel genommen, aber das hätte ich auch gemacht, wenn er nicht in der Partei gewesen wäre oder wenn es nicht die Stasi gewesen wäre, sondern die Kripo. Dann hätte ich das genauso gesehen. Das war also aus heutiger Sicht so billig, so dumm. Es waren Nazi-Schmierereien. Es waren mehrere Kinder beteiligt. Der eine war Hitler, der andere war Himmler. Da war auch ein Mädchen dabei, die war braun und die haben sich so Zettel geschrieben: „Soviel Panzer.“  Ich würde mal sagen, aus heutiger Sicht, das war ein Jugendstreich oder das war einfach dem merkwürdigem Umgang mit diesem Thema verschuldet. Es war nicht so, dass die ideologisch dahinter standen, überhaupt nicht. Gar nicht. Sondern das waren meine Mitschüler, das waren ganz normale Menschen, die da einfach ein Thema aufgegriffen und durchgekaut haben, deswegen wäre es zwei Wochen später eigentlich wieder erledigt gewesen. Das war wie eine Mode, eine Modeerscheinung, so kann man es vielleicht wirklich sagen. Das Dämliche an der ganzen Sache ist: Ich bin aus einer Familie, wo mein Nachname „Freund“ ein jüdischer Nachname ist. Der Vater meiner Oma ist nach Theresienstadt verschleppt worden und später dann im Konzentrationslager umgekommen. Das war in unserer Familie durchaus ein Thema, da war ich politisch sehr bewusst erzogen oder vielleicht auch nicht erzogen. Aber das war einfach Thema, wir haben darüber gesprochen. Man wusste, das war derjenige, der die Judenverfolgung inszeniert hat. Dadurch wurde man automatisch zum Antifaschisten erzogen. Also ich wäre nie im Leben auf solche Ideen gekommen, auch wenn ich heute anders aussehe, eine Glatze habe und im Kapuzen-T-Shirt rum renne. Mir weichen zum Teil auf der Strasse Menschen aus, die sympathisch sind. Ich krieg Sympathien von Leuten, die ich gar nicht haben will. Die sehen bloß den rasierten Kopf und das T-Shirt und dann denken die, die haben es mit einem Gesinnungsgenossen zu tun. Genau das Gegenteil ist der Fall, ich bin da weit weg davon. Aber damals war das halt so, das war in der Klasse und ich habe da nicht mal Stellung dazu genommen. Also ich habe das gewusst, dass die das machen. Ich war natürlich politisch noch nicht so gefestigt oder mutig, ich habe keine Notwendigkeit gesehen, zu sagen: „He, Leute! Was macht Ihr da? Habt Ihr einen Knall? Das geht auf gar keinen Fall!“ Das hat man halt zur Kenntnis genommen und dann war es auch wieder gut. Wie das so ist, wenn Kinder Zettel hin und her reichen, habe ich auch mal einen hin und her gereicht. Arglos, dämlich und blöde habe ich den Zettel weitergereicht, auf dem eben so etwas drauf stand. Unser damaliger Physiklehrer war es, der den Zettel einkassierte. Hätte ich gewusst, was dort drauf stand, hätte ich gewusst, was das für Konsequenzen hat, ich hätte den Zettel gefressen, aber ich hab ihn arglos abgegeben und nicht großartig versucht, das zu verheimlichen. Mein Gott, wie viele Zettel haben die schon einkassiert und der macht den Zettel auf. Da standen halt Nationalsozialistische Symbole drauf und was weiß ich. „Ich brauch jetzt 20000 Panzer“, oder irgendwie so etwas. Zehn Minuten später waren wir beim Direktor und ungefähr zwei Minuten später war die Stasi da. Wir wurden direkt nach Berlin Johannisheim mitgenommen und dort auch schärfstens verhört. Meine Mutter musste mich dann abholen. Ich glaube, ich war dort insgesamt drei oder vier Stunden zum Verhör. Die haben einen schon so befragt, wer das alles mitgemacht hat und was man so alles weiß. Ich konnte nun nicht so viel dazu sagen. Ich konnte sagen, vom wem ich den Zettel bekommen habe und wo ich ihn hingeben wollte, ansonsten habe ich auch nicht viel erzählt. Es war aber halt so, dass einer aus dieser Gruppe – ich weiß nicht, ob man „Initiator“ sagen kann – ein Sohn von einem Parteisekretär von einem großen Berliner Kombinat war. Das war schwierig für die Staatstragenden, das war auf einmal komisch. Also: Wie kommen wir aus der Nummer wieder raus? Der Plan war dann wahrscheinlich: So, wir hatten jetzt erstmal ein bisschen Ruhe und lassen Gras drüber wachsen und dann schlagen wir zu. Dann schlagen wir mehrere Fliegen mit einer Klappe. Ich habe da einen Freund dafür, der sowieso immer die große Klappe hat und der in der Klasse so ein Aufrührer ist mit seinen blöden Fragen im Staatsbürgerkundeunterricht. Dann kicken wir ihn bei der Gelegenheit gleich mal raus. Dann haben sie erstmal ein viertel/halbes Jahr Gras drüber wachsen lassen. Zur Jugendweihe, zwei Tage später, kam dann das Urteil, da wurde ich direkt vom Direktor ins Auto verfrachtet. Ohne dass meine Mutter bescheid wusste und ohne dass irgendjemand informiert war, wurde ich an die neue Schule gefahren – die im Übrigen ein ganzes Stück weg war. Ich musste von da an mit dem Bus fahren und die Direktorin dort hat mich auch gleich dementsprechend begrüßt. Ja, die war auch Parteimitglied und hat mir gleich ganz klar gesagt, dass ich an dieser Schule nicht viel Freude haben werde. Das war dann der Anlass für den Steinwurf.

Wie haben Sie denn nun den Spätsommer, also sagen wir mal den September, Oktober, hier in Dresden erlebt? Also wir waren ja vorhin schon im Thema drin, dass viele zu Ihnen nach Hause kamen und Rat suchten. Es wurde viel gesprochen. Nun kam die Sache mit den Botschaften in Ungarn und Prag, die Sache mit den Zügen. Wie haben Sie das erlebt oder vielleicht auch live miterlebt?

Nein, live miterlebt habe ich das nicht. Ich war damals, wie gesagt, an der Semperoper und dann später im Leiterplattenwerk FUBA in Dresden. Dort habe ich in Schichten gearbeitet, das habe ich ja schon an der Semperoper, da haben sie fast immer nur Spätschichten gemacht. Das war auch im Probebetrieb so, wo ich hauptsächlich gearbeitet hab. Dann gab es eben halt in der FUBA Schichten und jeden Abend war die Bude voll. Ich hatte ein kleines Kind, also ein halbes Jahr alt und meine Frau hat ganz klar zu mir gesagt: „Olaf, hör auf! Also bitte, wenn hier abends die Leute klingeln und ich habe den Sohn hier, dann muss ich mich darum kümmern.“ Sie war ja nicht unpolitisch, aber sie hat halt immer gesagt: „Du musst das machen. Du musst zu Hause sein, wenn die Leute hier an der Tür klingeln.“ Das war zum Teil so, dass meine Frau sie abgewiesen hat: „Er ist 19 Uhr wieder zu Hause“ oder „Er kommt um 8 Uhr.“ So war ich also extrem eingebunden, weil die Leute zu Hause geklingelt haben. Ansonsten verbrachte ich jede freie Minute mit der Familie. Da hat man mal versucht, sich um die Frau und Kinder zu kümmern, was dann auch zum Teil nicht mehr geklappt hat. Leider ist unsere Ehe in dieser Zeit kaputtgegangen. Wir sind 1999 auseinander gerannt. Aus heutiger Sicht ist das einfach schade und bedauerlich. Damals haben wir uns echt auseinander gelebt, weil ich meiner Frau gesagt habe: „Ich habe keine Zeit, ich habe keine Zeit für Familie und so.“ – „Du hast doch eine Familie. Du hast doch einen kleinen Sohn. Du musst Dich hier kümmern.“, ich hab darauf geantwortet: „Ja, ist doch alles richtig. Es stimmt auch, aber das Andere ist auch wichtig.“ und  dann haben wir uns viel gestritten. Darüber ist echt unsere Beziehung kaputtgegangen.

Um noch mal auf die Wahrheit zurückzukommen. Ich hab das zum Teil aus dem DDR-Fernsehen. Da kamen ja durchaus auch Berichte darüber, natürlich mit einem ganz anderen Tenor. Man konnte sich ja anhand der Bilder und Buschtrommeln das Bild zusammen­schrauben. Ich wusste, da kommen dann die Züge in Dresden an, aber da war ich halt arbeiten. Ich habe auch mitbekommen, dass es Unruhen am Hauptbahnhof gab und dass es auch Demos gab. Dann gab es die Gruppe der 20, aber das war dann alles weit weg, weil ich zu Hause gehockt habe mit Leuten, die uns die Bude eingerannt haben. Das ist vielleicht der Unterschied. Das war halt dem geschuldet, dass mein Name drunter stand. Also ich  habe zu Hause die Bude voll gehabt, jeden Tag und im Verlauf der Woche mit hunderten, vielleicht tausenden von Menschen. Die anderen aus der Gruppe, die sind demonstrieren gegangen und haben da alles live erlebt. Ich nicht.

Bedauern Sie das?

Ja. Das ist aber auch so ein ambivalentes Gefühl. Auf der einen Seite bedaure ich das, weil das muss ja ganz heiß gewesen sein. Sicherlich, vielleicht auch ein unglaublicher Ausdruck von Freiheitswillen und Gewalt im positiven Sinn. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Eben halt zu spüren, wie Menschen allem entgegensetzen und sagen: „Wir wollen das nicht mehr und wir lassen uns auch vom Wasserwerfer nicht beeindrucken.“, wie es am Hauptbahnhof war. „Wir lassen uns auch nicht von schwerst-uniformierter Bereitschaftspolizei nach Hause jagen. Wir sind das Volk. Wir stehen hier. Wir wollen nicht mehr. Wir wollen reden.“, das hätte ich gerne miterlebt. Das wären Momente gewesen, da hätte ich auch einen Fotoapparat mitgenommen und das hätte ich auch gern dokumentiert. Das habe ich zum Teil bedauert. Andererseits bin ich auch froh, dass ich keinen Gummiknüppel übergekriegt habe. Ich weiß auch nicht, ob ich in solchen Situationen nicht derjenige gewesen wäre, der dann im entscheidenden Moment doch zurückgewichen wäre oder ob ich mich da hinein gestürzt hätte. Wie so etwas ausgeht, das weiß man ja nicht. Ich bin so ein Typ, der dann dabei sein will. In Gittersee war es so, da habe ich ganz klar gesagt: „Nö, ich gehe hier nicht weg. Macht doch was Ihr wollt.“ Dann kamen die halt mit ihren Knebelketten und Tritten. Das ist so, ich wäre gern dabei gewesen, aber ich bin auch froh, dass ich nicht mit dabei war.

Zu der Zeit, als die Demonstration in Dresden in Gang war, die Sachen am Bahnhof passierten und dann später daraus die Gruppe der 20 entstand, gab es da in diesem Kreis bei Ihnen zu Hause den Gedanken, wie es jetzt eigentlich weitergeht? Oder war das erstmal quasi nur eine Sammelstelle?

Diese Diskussion gab es ja schon ein halbes/dreiviertel Jahr davor. Pläne, was müssten wir denn eigentlich machen, wie könnten wir sie eigentlich verändern, das gab es schon. Das ging ja zum Teil so weit, dass ich und auch Freunde überlegt haben, dass wir eigentlich in die Partei eintreten müssten. Solche Überlegungen gab es auch. Wie kann man das System hier verändern? Am besten doch von innen. Also, an welcher Stelle, an welcher Schraube müssen wir drehen, wenn man was verändern will? Da gab es durchaus die Überlegungen: Lasst uns doch einfach mal in die Partei eintreten. Lass uns mal gucken, was wir da drin machen können. Da gab es wieder Erfahrungen, da gab es Leute, da kenne ich welche, die haben das probiert. Aber hallo, die haben sich aber gefreut. Da gab es ganz ganz viele Überlegungen, wie es weitergehen soll, aber auch viel Ratlosigkeit und viel Ohnmacht. Das kann ich mir heute noch bildlich vor Augen führen, wie ohnmächtig wir oft dagesessen und überlegt haben: Was machen die denn jetzt? Was sollen wir denn machen? Man hat immer so Aufhänger gehabt, wie Gittersee halt. Beim Reinstsiliziumwerk in Gittersee, da gab es einen konkreten Anlass, ein konkretes Objekt, ein konkretes Motiv, zu sagen: „An dieser Stelle können wir dem Staat sagen: ‚Da sind wir dagegen‘, ‚Das wollen wir nicht aus dem und dem Grund.’“ Da gab es ja gute Gründe, das war etwas Greifbares. Hier hatte man jetzt ein ganz bestimmtes Thema, das man sich raussuchen kann, wo man dem Staat zeigen kann: Mit uns nicht. Es gab Umweltgründe, humanitäre Gründe und Standortgründe und es war nicht zu verstehen, warum man es dem Staat nicht vermitteln konnte, obwohl so viel dagegen spricht. Da konnte man dann sagen, auf dem Weg wäre vielleicht im Einzelfall immer viel zu bewegen gewesen, aber damit ändert sich nichts am System. Eben halt die Systemfrage, das ist die Schuld gewesen von jemand anderem, dass wir einfach so als weitere Bundesländer eingegliedert wurden, weil sie gar nicht wissen, wie sie das System von innen heraus brauchbar machen und dauerhaft verändern können, so dass es auch Bestand hat.

Würden Sie sagen, dass die Herbstereignisse im September/Oktober ihre Persönliche Bio­graphie maßgeblich und nachhaltig verändert haben?

Nein, gar nicht. In meinem Leben hat sich nichts verändert. Also ich war vor der Wende durch die Ereignisse in der Schule benachteiligt und durch die Fünf in Betragen. Ich will nicht sagen, dass ich die schulischen Leistungen hatte, dass ich mal hätte studieren können, das gar nicht. Ab der 8. Klasse war das Thema durch. Vor der 8. Klasse war ich nicht der Leistungsschüler. Ich war aufmüpfig, frech, durchaus nicht bereit, mich unterzuordnen. Das schlug sich in den Beurteilungen nieder, als „Störenfried“ zum Teil und „Klassenkasper“. Die Beurteilung des Abschlusszeugnisses der 10. Klasse mit meiner damaligen Lehrerin, die war noch beeindruckend. Die hat ja noch geschrieben: „Olaf wäre in der Lage, das Klassenziel mit einer Bestnote zu erreichen“ und dann kam es: Ich war eben „aufmüpfig“ und „faul“. Ich war damals gehindert in meiner persönlichen Entwicklung, weil vielleicht hätte ich ja studieren wollen oder irgendwie Interesse gehabt. Ich habe mich sehr viele Jahre damit rumgeschlagen, eigentlich hätte ich gerne so in die Richtung Theologie oder sowas studiert. Das hätte mich sehr interessiert, aber darüber zu diskutieren, darüber zu streiten, das hieß nicht Theologie. Die Theologie hat es im Namen eines anderen Studiums gegeben. Fällt mir gar nicht ein, irgendwas so in gesellschaftlich/politischer Richtung. Das hätte mich sehr interessiert, da hätte ich gerne was in der Richtung gemacht, bloß war das ja abgeblockt. Dann ist man mehr oder weniger seinem Lebensunterhalt nachgerannt, da ist man halt knuffen gegangen in Berlin. Da hab ich den Facharbeiterabschluss für Erwachsenen-Qualifizierung noch gemacht, was mir ja gar nichts gebracht hat. Ich war viele Jahre dann Kranführer dort in den Berliner Metallhütten und Halbzeugwerken. Drei Jahre war ich insgesamt dort. Das war zum Teil technologisch im Mittelalter. Dann bin ich an die Semperoper gegangen, da war ich auch nur Kulissenschieber. Dann hab ich umgelernt und bin in das Leiterplattenwerk FUBA gegangen. Danach kam die Wende. Direkt 1989 im Sommer bin ich an die FUBA gegangen und von der Semperoper weg. Nach der Wende habe ich dann probiert, mich selbständig zu machen, aber geändert hat sich nicht viel. Im Jahr 2000 gab es den Deutschen Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung für die Gründungsmitglieder des Neuen Forums. Dort wurde gefragt: „Was würden Sie aus heutiger Sicht sagen?“, das habe ich damals beantwortet mit: „Das ist so ein bisschen wie das Gefühl vom Regen in die Traufe zu kommen. Die Diktatur des Kapitals. Also wenn ich keine Kohle habe, bin ich genauso unfrei, wie ich damals unfrei war, weil irgendwelche Leute gesagt haben, ich darf das Staatsgebiet nicht verlassen. Das war eine Unfreiheit.“ Sicherlich in manchen Beziehungen ziemlich böse, aber heute, mein Gott, wie viele Menschen sagen heute: „Wir sind so was von extrem unfrei. Zum Teil unfreier als in der DDR.“ Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in der DDR Hunger hatten. Ich sage es noch mal, wir waren drei Söhne und eine alleinerziehende Mutter. Meine Mutter hat 460 oder 470 DDR-Mark verdient, aber wir haben nie an Hunger gelitten. Nie. Wir hatten ja nicht mal das neueste Fahrrad, das wurde durchgereicht vom Großen bis zum Kleinen. Das war nicht toll. Aber wenn ich mir heute anschaue, wieviele Kinder in Suppenküchen essen gehen, damit sie überhaupt was zu essen haben, da frage ich mich: Was ist das denn für eine Freiheit? Was ist das für ein System, wo wir doch heute die Macht haben, das zu ändern? In der DDR hatten wir nicht die Macht, da waren wir in einer Diktatur. Uns wurden damals Dinge vorgeschrieben, aber heute haben wir die Macht. Wir sind doch frei, wir könnten das doch alles selbst bestimmen. Wir können doch heute sagen: „Wir machen das anders, es muss niemand Hunger haben. Wir sind ein Land, was so reich ist, dass wir jedem, aber wirklich jedem, beste Bildung zukommen lassen könnten. Hier muss niemand dumm von der Schule gehen, hier muss niemand einfach im Elend verenden.“ Ich meine, es wird immer Fälle geben, wo Menschen aus irgendwelchen Gründen lebensunfähig und lebensuntüchtig sind, so dass sie ihr Leben lang Begleitung und Unterstützung bekommen müssen. Das wird es immer geben, das hat es in der DDR auch gegeben, aber es gab in der DDR kein Kind, das gehungert hat, abends den Kühlschrank aufgemacht hat und da war nichts drin, weil die Mutter Hartz IV erhält. Das gab es nicht. Ich weiß, was Hartz IV bedeutet, da bin ich schon sehr zerrissen und hab gefragt: „Wo bin ich eigentlich gelandet?“ Klar es hat viele Vorteile, zum Beispiel ein schöneres Auto als den Trabi. Toll, was man sich alles leisten kann. Aber die Grundbedürfnisse finde ich heute wesentlich schlechter befriedigt als damals. Das Grundbedürfnis nach Kultur zum Beispiel: Ich kann den Fernseher anmachen und da sehe ich den ganzen Nachmittag irgendwelchen Mist und Dreck, wo ich mich frage, warum so etwas gesendet werden muss. Es gibt auch ARTE, schaue ich regelmäßig. Wenn bei uns zu Hause der Fernseher an ist, dann laufen andere Sachen. Man will ja mal ins Kino oder mal ins Theater. Ich erinnere mich, in der DDR konnten wir ins Kino gehen, obwohl wir arm waren. Wir waren regelmäßig als Kinder im Kino. Regelmäßig. Wir hatten solche Bons vom Amt, da konnten wir hin, weil wir kinderreich waren. Heute, wenn ich mit meinen Kindern ins Kino gehe, da sind 40 Euro weg. Das ist für mich ziemlich heftig. Wenn ich mir überlege, ich bekomme Hartz IV oder ich bin Aufstocker und ich habe Kinder, was erleben die denn eigentlich noch? Die sind so abgeschnitten von allem, weil alles, was ich denen anbieten will, einen Haufen Geld kostet. Die können in keinen Sportverein gehen, weil ihnen das niemand bezahlt, die können nicht ins Kino gehen, weil das niemand bezahlt, die können keine Klavierstunden nehmen, weil das niemand bezahlt. Da sind Hunderte und Tausende abgeschnitten. Unfreiwillig, aufgrund ihrer ökonomischen Situation. Kinder sind sowieso unschuldig. Ich meine, ich könnte vielleicht noch der Mutter vorwerfen, dass sie nicht arbeiten will, was ja oft gemacht wird. Hartz IV Empfänger sind ja so was von stigmatisiert in diesem Land, da frag ich mich, was das für Züge hat. Ich kann das die Mutter fragen, aber nicht dem Kind vorhalten. Ich nehme das Kind nicht in die Verantwortung, vielleicht ist dies das Versagen der Mutter. Was sind wir denn für eine Gesellschaft, wenn wir in dem Staat so etwas zulassen? Was sind wir für ein Staat, wenn wir zulassen, dass das Schulsystem anhand der Einkommenssituation der Eltern selektiert? Lauter solche Sachen. Da frag ich mich: Bin ich nicht doch vom Regen in die Traufe gekommen? Ist dieses System, was wir bekommen haben, wirklich so viel besser? Ist es uns so viel wert, dass wir damals unseren Arsch riskiert hätten? Das frag ich mich ernsthaft.

Ich bin übrigens dann so 1990 kurz vor der Wahl aktiv ausgestiegen. Ich habe aktiv gesagt: „Ich engagiere mich nicht mehr politisch.“, weil ich habe noch ein schlimmeres Erlebnis gehabt. Ich war bei einer Demo und jetzt muss man sich das mal verinnerlichen: Wofür sind wir auf die Strasse gegangen? Dafür, dass wir miteinander reden können, worüber auch immer wir reden wollen. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, vielleicht für Reisefreiheit, doch vor allem für Meinungsfreiheit. Dafür, dass wir endlich miteinander reden dürfen, ohne dass wir Angst haben, dass wir dafür Repressalien erleiden müssen. Da gingen wir auf die  Strasse zu einer Demonstration und dann sahen wir dort ein paar Studenten, zumindest sahen sie so aus wie Studenten, mit einem Transparent, vier Meter breit und da steht ganz groß drauf „Wider Vereinigung“, ohne „e“, also gegen Vereinigung. Da gibt es Leute, die sind intelligent genug, das zu verstehen, aber dumm genug, die zu verkloppen. Wir stehen daneben und sagen uns halt: „Das mag mir nicht gefallen, was die da drauf stehen haben, das ist ja Müll, aber wir sind grade hier alle auf der Straße, weil wir dafür kämpfen, dass wir das dürfen. Auch dafür, dass wir andere Meinungen haben dürfen. Sie tun ja nichts mit Gewalt, sie tragen ja Transparente, so wie wir.“ Dann kriegen die aufs Maul, dann laufen sie Gefahr, an der Straße an der Laterne aufgeknüpft zu werden. Sie haben mehr Angst als jemals vor einem Stasimenschen. Sie fühlen sich mehr bedroht und mehr ausgeliefert als sie sich jemals ausgeliefert gefühlt haben, wenn sie auf einem W-50 gelandet sind. Dann kommen sie ins Grübeln und sagen: „Wofür habe ich das alles gemacht? Was soll denn das hier alles? Wohin driftet das denn ab?“ Da bin ich nach Hause gekommen und habe relativ schnell beschlossen, dass ich mich da raus nehme.

Also keine politische Betätigungen mehr?

Danach nicht mehr, davor her schon noch. Also wir haben uns auch in Dresden noch getroffen, als sich die Politiker auf einmal für die Bürgerbewegung interessiert haben. Da wurde uns auch gesagt: „Macht Euch mal keinen Kopf, die Chinesische Lösung findet hier nicht statt, die DDR ist einfach wirtschaftlich am Boden. Das kann sowieso nicht mehr weitergehen“, aber ich habe dort nichts erfahren, wo ich gesagt hätte: „Toll, dass wir uns getroffen haben.“

Würden Sie sich, wenn es die Möglichkeit gäbe, wieder stärker gesellschaftspolitisch engagieren?

Ich bin gesellschaftspolitisch aktiv als Vater von Kindern. Ich bin in der Situation, dass ich Elternteil bin und da kann man sich an Schule engagieren. Ich bin Elternsprecher, Elternratsvorsitzender und war drei Monate lang Kreisvorsitzender. Da gab es dann aber einen Konflikt, wo ich gesagt habe: „Das trage ich nicht mehr mit, da steig ich aus“ und bin zurückgetreten. Aber an der Schule, da kann ich mich engagieren, da habe ich mich auch schon viel engagiert, da kann man viel tun. Nur ist das dann ökonomischen Zwängen unterworfen. Da findet auch ganz viel Ideologie statt. Wenn sie dann auf Ämter geladen werden, dann sitzen sie ja irgendwelchen Parteisoldaten gegenüber, weil die da auf den Ämtern in den Positionen sitzen. Die sind fast immer oder zum Teil in irgendeiner Partei, die machen dann Parteipolitik mit ihnen. Am Ende steht überall der ökonomische Hammer. Selbst wenn die in der Position wären, die sie wollten, die könnten nichts tun, weil sie die Kohle nicht haben. Die ökonomischen Zwänge, die stelle ich eben in Frage: Ist das alles so? Muss das alles so sein? Das frage ich mich gerade, wenn ich mir mal von den letzten 20 Jahren, also von der Zeit nach der Wende, bestimmte Statistiken anschaue und feststelle, dass die Unternehmensgewinne dramatisch gestiegen sind. Oder die Managergehälter: Wenn da einer vor 20 Jahren 100.000 bekommen hat, da war das super. Heute verdienen die Millionen und aber Millionen. Unten bricht es immer mehr weg, immer mehr Menschen haben ein immer geringeres Einkommen. Seit der Schaffung der Zeitarbeit sind fast neun Millionen Vollzeitarbeitsplätze verloren gegangen. Es gibt dreieinhalb Millionen Teilzeitjobs, aber es sind neun Millionen Vollzeitarbeitsplätze verloren gegangen, sozialversicherungs­pflichtige Arbeitsplätze. Und wir wundern uns, warum wir die Rente nicht bezahlen können, warum unser Gesundheitssystem so leidet. So jetzt die Frage: Würde ich mich gern politisch engagieren? Ja, aber wo und wie? Wo will ich mich denn politisch zu Hause fühlen und das Gefühl haben, ich kann daran was ändern? In welcher Partei? Sagen Sie mir bitte eine.

Vielleicht in der Partei von Gabriele Pauli?

(lacht) Ich glaube nicht, dass die das Ziel verfolgt, das ich verfolge. Ich glaube, die ist auf so einem Egotrip. Es gab ja schon Versuche, wo Studenten gesagt haben: „Kommt, lass uns die FDP übernehmen, wir treten alle ein.“ Die haben den Braten ziemlich schnell gerochen. So gesehen wäre eine Diktatur besser – wenn es meine wäre. (lacht) Ne, natürlich nicht, war nur Spaß. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass der Aufwand, den man da hat, das wert wäre. Ich müsste auf alles verzichten: Familie, Frau, Kinder. Klar, irgendwie hat man die noch, aber wann denn? Ich habe nicht das Gefühl, dass ich da so viel erreichen könnte, dass mich das befriedigen würde und dass ich mich dafür so sehr engagieren könnte, wie es notwendig wäre. Ich habe mehr das Gefühl, ich wäre da so vielen Kompromissen unterlegen, dass ich sagen würde: „Nein, das ist ganz und gar unbefriedigend.“ Ich finde Demokratie gut, durchaus, aber ich finde, die hat auch Schwächen. Das sehen wir vielleicht eben an der Politikverdrossenheit. Schauen wir uns die Wahlbeteiligung bei der Europawahl an. Weil man so wenig machen kann als Einzelperson.

Vielen Dank für das Gespräch!