Christof Ziemer

Kurzbiografie

Christof Ziemer war 1989 Superintendent des Kirchenbezirks Dresden-Mitte und Pfarrer an der Kreuzkirche. In den 80er Jahren unterstützte er oppositionelle Gruppen, die sich für Veränderungen in der DDR-Gesellschaft engagierten. Er initiierte und leitete den ökumenischen Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1988/89, der zu einem geistigen Vorlauf der friedlichen Revolution wurde. Am Abend des achten Oktober setzte er sich (zusammen mit Landesbischof Hempel und Oberlandeskirchenrat Fritz) im Dresdner Rathaus bei Oberbürgermeister Berghofer für gewaltfreie Lösungen ein und beriet in der Folgezeit die an diesem Abend auf der Prager Straße gebildete Gruppe der 20.

Da er mit der Art und Weise des politischen und kirchlichen Einigungsprozesses nicht einverstanden war, verließ er 1992 den kirchlichen Dienst und ging für mehrere Jahre in das Krisengebiet Ex-Jugoslawien, wo er sich in der interreligiösen Friedensarbeit engagierte. Danach lebt Christof Ziemer in Berlin, Riesa und Kassel.

Das Interview führte Thomas Eichberg

Christof Ziemer, geb. 1941

Interview

Bei mir ist die Zeit, die sozusagen die Zäsur macht, die Schlussveranstaltung der ökumenischen Versammlung. Das ist Ende April und dann kommt ja gleich die Wahl. Die Wahl, da habe ich ja dann auch damals dagegen einen Einspruch erhoben aufgrund der Auszählungen, die ja von den Gruppen in Dresden gemacht worden sind. Das haben wir hochgerechnet und damit eigentlich ziemlich deutlich beweisen können, dass das Ergebnis gefälscht ist. Dann fuhr ich ja schon zu Pfingsten, das war wieder eine Woche später nach der Wahl, zur Europäischen Ökumenischen Versammlung und hatte ein bisschen Angst, wenn ich jetzt diese Beschwerde gegen diese Wahl übergebe, dann lassen die mich hinterher vielleicht nicht wieder rein. Das war meine Angst. Nicht die Angst rauszukommen, sondern nicht wieder hineinzukommen. Das wäre für mich fürchterlich gewesen. Das ist, glaube ich, die andere Wahrnehmung, wenn man so drin ist und wenn man auch dauernd etwas zu tun hat. Ich habe ja nicht darunter gelitten, nichts tun zu können, sondern eher darunter, überfordert gewesen zu sein durch die verschiedenen Ansprüche und denen gerecht zu werden. Wir konnten ja nichts tun im Sinne von: Jetzt die Situation zu verändern, jetzt bis zum Herbst. Es war ja trotzdem eine ungeheure Aktivität in den Menschen und diese Aktivität konnte sich ja irgendwo durchaus realisieren in der ökumenischen Versammlung, dann auch in solchen Aktionen, wie in der Wahlbeobachtung. Juli/August, da war es dann das „Trommeln für Peking“. Das war ja am 4. Juni gewesen, dieses Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und einen Monat später war dann, Anfang Juli, diese Trommelaktion. Eine autonome Gruppe in Dresden machte das Trommeln an der Kreuzkirche. Wenn man einen Platz suchte, dann war ja die Kreuzkirche da in der Mitte sehr gut gelegen. Das führte dann zu einer umfänglichen Polizeiaktion. Da wurde die Kreuzkirche die ganze Zeit umzingelt und es gab dann auch hinterher Inhaftierungen. Nach zwei Stunden wurde die Veranstaltung aus dem Türbereich in die Kirche hinein verlagert, dann sind auch die Polizisten in die Kirche gefolgt. Ich bin gar nicht an dem Tag da gewesen und als ich das gehört habe, da bin ich dann zum Stadtkommandanten im Volkspolizeikreisamt gegangen, früher hieß das „Vorsitzender Kreispolizei/Volkspolizei“ und habe mich da beschwert: “Also das ist ja unverschämt, das ist tabu, das ist das Asylrecht der Kirchen, da darf die Polizei nicht reingehen!“ Das hat er akzeptiert und hat das hingenommen, diesen Raum zu schützen, so dass es auch innerhalb des eigentlich geschlossenen Systems noch Orte gab, wo auch klar war, da haben sie keine Macht. Darin lag ja auch eine Chance, das ist ja im Herbst nicht anders gewesen.

Bleiben wir im Sommer 89. Sie beschreiben die Zeit unter anderem mit dem „Trommeln für Peking“. Sie waren Hoffnungsträger für sehr, sehr viele Dresdner. Sie sagten schon, Sie waren fast überfordert mit den Ansprüchen der Leute, die sie auch an Sie richteten. Wie haben Sie selbst diese Zeit empfunden, diesen Sommer 1989?

Es war eine Situation, bei der man das Empfinden hatte, es muss jetzt irgendwo was passieren, aber es war noch nicht ganz reif. Heute können wir sozusagen unsere Erfahrungen nur noch deuten mithilfe dessen, was wir dann hinterher erlebt haben. Es ist schwierig, sich wirklich in die Situation zurückzuversetzen, in der wir ja noch nicht wussten, dass der Herbst sich so äußern wird. Aber es musste sich etwas ändern in dem ganzen politischen Stil, der war sozusagen reif, dass er verändert würde. Das Stichwort „Dialog“ spielt hier eine Rolle, aber dieser Dialog spielte bereits schon im Juni eine Rolle, als ich zum Beispiel das Gespräch mit dem Oberbürgermeister hatte,  bei dem ich ihm die Forderung der Gruppen übergeben habe. Sie wollten nicht mehr über die Kirchen, sondern selbst mit den Staatsfunktionären mit den entsprechenden Stellen reden und er hatte zugesagt, das für den September vorzusehen. Faktisch ist es dann im Oktober in einer anderen Weise realisiert worden und ich denke, das ist charakteristisch für diese Zeit. Im Sommer spielte in Dresden die Aktion um das Reinstsiliziumwerk Gittersee eine große Rolle. Der Protest dagegen, der hat von Anfang des Jahres an das ganze Jahr bestimmt. Das kulminierte im Sommer. Da gingen Gruppen von der Bittandacht, die wir einmal im Monat hatten und die immer größer wurde, zum Werk hoch. Dort gab es Inhaftierungen, dort gab es hohe Ordnungsstrafen, auch bei den „Trommeln für den Frieden“. Wir haben dann für die Ordnungsstrafen öffentlich gesammelt, das hat die wiederum furchtbar geärgert. Damit wollten wir auch deutlich machen, ganz bewusst als Superintendenten von Dresden: „Wir stehen hinter diesen Aktionen und wir lassen uns diese Möglichkeit, dazu jetzt Stellung zu nehmen, nicht aus der Hand nehmen.“ Wir drei haben dann dazu aufgerufen, für diese Ordnungsstrafen, sowohl für „Trommeln für den Frieden“, als auch für das Reinstsiliziumwerk zu sammeln. Dann im Sommer kamen ja diese neuen Parteien und Bewegungen. Da begannen die ersten Gespräche, die ersten Konsultationen, die ersten kleinen Geheimtreffen. Zum Beispiel mein Freund Friedrich, der wohnte auch bei uns und erzählte mir dann von dem Treffen der Gruppe, dem „Demokratischen Aufbruch“ dann in Dresden. Der hat mich auch später immer gefragt: “Warum hast du eigentlich nicht mitgemacht?“ Ich weiß es auch heute nicht ganz genau, warum ich nicht mitgemacht habe. Irgendwo hatte ich das Gefühl, das ist nicht meine Sache, das zu machen. Als ob ich auf etwas anderes gewartet habe. Im Grunde lag es natürlich in der Luft, das war genau der Punkt, jetzt herauszutreten. Die Schauspieler sagen: „Wir treten aus unseren Rollen heraus.“ Jetzt treten sie heraus. Die Gruppen traten aus dem kirchlichen Bereich, gingen an die Öffentlichkeit und organisierten sich als Gruppen im gesellschaftlichen Bereich. Insofern hat sich darin ja der Herbst sozusagen vorbereitet.

Wie haben Sie sich selbst verstanden in dieser Zeit? Wie war Ihre Position, war sie eine vermittelnde oder war es eine beratende oder war es von allem etwas?

Es war immer von allem etwas. Als Pfarrer hat man ja eine öffentliche Aufgabe als Prediger und die Kreuzkirche war ja nun nicht eine Kirche im Winkel, also es waren auch Menschen da und dies bedeutete immer, die Situation irgendwie zu deuten. Das ist eine Aufgabe, die man für andere mitleistet: „Was passiert mit uns jetzt?“ Also die Art zu deuten, das zu deuten, was mit uns passiert und das in unserer Tradition mit kirchlichen Texten, das ist eins.

Eine andere Seite ist auch diejenigen zu beraten, die jetzt meinetwegen solche Aktionen planten, wie vom Reinstsiliziumwerk. Ich bin ja auch selbst in den Gruppen gewesen. Für die Kirchenleitung war ich ja der Vertreter der Basis, aber für die Basis war ich auch ein Vertreter der Kirchenleitung, um dann auch natürlich zu vermitteln, wenn es Konflikte gab und möglicherweise mit den Staatsvertretern zu reden. Aber die Gespräche mit den Staatsvertretern wurden immer schwieriger. Ich habe mit dem Oberbürgermeister im Juni ein Gespräch gehabt und  wir haben uns erst im Oktober wieder getroffen, also erst, als es dann kritisch war. Da hatten wir auch den Eindruck, die Gespräche nützen jetzt nicht mehr viel, irgendwo bedarf es jetzt eines neuen Schubs.

Wie haben Sie denn den Erwartungsdruck an sich selbst empfunden? Also, wie Sie schon sagten, für die Basis waren Sie Vertreter der Kirche und für die Kirchenleitung Vertreter der Basis. Wie konnten Sie denn selber mit diesem Druck umgehen?

Das war meine natürliche Stellung, damit musste ich klarkommen. So eine mittlere Leitungsposition hat immer Vermittlungsaufgaben, das habe ich zehn Jahre lang in Dresden gemacht, das war für mich nicht so ungewöhnlich. Aber die Spannweite zwischen der Situation der Kirche, den politischen Institutionen und den engagierten Gruppen war natürlich schon eine erhebliche Herausforderung. Hinterher habe ich das schon gemerkt, dass das nicht spurlos an mir vorbeigegangen ist, also dass auch eine unerhörte Spannung in mir war.

Diese Spannung hat sich aufgebaut über das Frühjahr, über die Wahl, über die Ereignisse in  China. Jetzt kam also der Sommer. Es schien ja erstmal die Luft ein bisschen raus zu sein. Wie haben sie die Zeit bis Juli/August empfunden?

Das war wichtig. Für die Gruppen war es wichtig nach dieser Geschichte mit der Wahl, bei der ja nichts rausgekommen ist. Das war ja etwas, was wir im Grunde in den 80ern lernen mussten: Wir mussten lernen, dass wir Dinge propagieren oder uns für Dinge einsetzen, bei denen wir keinen Erfolg hatten. Wir hatten in den ganzen 80er Jahren die Friedensbewegung und die Umweltbewegung. Wir haben da ganz wenig Erfolge gehabt, aber wir waren davon überzeugt, wir müssen das machen. Das ist alternativlos, da dran zu bleiben und auch immer zu überlegen, welche Mittel richtig sind. Wir waren davon überzeugt, irgendwann und mit einem langen Atem wird das etwas geben, aber wir wussten nicht wann. Also insofern war es für mich keine andere Situation, als es davor war. Es war dramatischer deswegen, weil es jetzt Zeichen gab dafür, dass sich insgesamt auch etwas bewegt. Wir waren nun alle  überzeugt, dass Ende 1989 oder Mitte 1989 auf jeden Fall etwas passieren musste. Irgendwo war diese  Zeit reif. Für die engagierten Gruppen in Dresden war es wichtig, dass sie im Sommer diese Aktion des Reinstsiliziumwerks hatten. Jeden Monat gab es einen großen Gottesdienst und den musste man sozusagen dem nächsten immer vorbereiten. Der letzte hatte immernoch etwas, was man nacharbeiten musste. Am 1. Oktober war der letzte Gottesdienst dieser Art, ich habe da gepredigt und da waren wir in der Auferstehungskirche. Das war eine große Kirche und diese Kirche war so voll, dass wir den Gottesdienst nochmal wiederholen mussten. Da bin ich am Schluss dieses Gottesdienstes gefragt worden: „Herr Ziemer, wann machen wir die erste Demonstration?“ und dann hab ich so etwas flapsig gesagt: „Wenn wir uns drei bis vier Monate in Gewaltlosigkeit geübt haben.“ Drei Tage später ging es los.

Können Sie sich daran erinnern, wie es los ging? Wie Sie das erfahren haben?

Klar. Dieser Punkt ist ganz eindeutig, das ist am 4. Oktober gegen Mitternacht gewesen. Mitternacht oder um halb eins werde ich aus dem Bett gerufen. Ein Freund, der mit uns arbeitete, kam da aus der Kreuzkirche, der rief mich und bat mich, ich solle sofort zum Hauptbahnhof kommen und dort die Gewalt verhindern. Ich wusste nur, dass es kritisch war, aber nicht genau, was passiert war. Ich rief meinen Kollegen an, Pfarrer Doktor Müller und bat ihn, dass er mitkommt. Wir trafen uns dann und fuhren zum Hauptbahnhof. Im Hauptbahnhof war ja nun die Situation eskaliert und zwar dadurch, dass am Mittag des 3. Oktobers die Grenzen zur Tschechoslowakei gesperrt worden waren. Die ersten Züge waren ja bereits durchgefahren. Jetzt wurden wieder Züge erwartet und die Ausreisewilligen, die im Zug nach Prag saßen, um dort in die Botschaft zu kommen, waren an der Grenze gehindert worden und wurden sozusagen zurückgestoßen auf den Hauptbahnhof in Dresden. Dort hatten sie dann auch ein bisschen was demoliert, aber an sich ist das noch nicht sehr viel gewesen an dem Tag, lediglich lautstark. Sie waren dann gewissermaßen auf einem Bahnsteig zusammengetrieben als wir kamen. Ich kam auch noch hinein in den Bahnhof und ließ mir den leitenden Polizeibeamten da kommen. Wir hörten, wie sie über Lautsprecher sagten: „Bürger, gehen Sie zurück in ihre Heimatorte. Dort werden bei den zuständigen Stellen für Inneres Ihre Ausreiseanträge bearbeitet werden.“ Die johlten bloß dagegen und ließen sich davon nicht bestimmen. Als der Polizeibeamte kam, da fragte ich ihn, ob wir vielleicht mit der Gruppe der Ausreisewilligen dort reden können oder ob er mich an das Bahnhofsmikrofon lässt, um mit denen zu reden. Ich hatte dann so die Vorstellung: Vielleicht lade ich die einfach in die Kreuzkirche ein und dann reden wir miteinander darüber und suchen einen Weg. „Herr Ziemer, verlassen Sie im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit den Bahnhof.“ Da habe ich versucht, nochmal mit ihm zu reden und dann kam wieder das Gleiche, es war nichts zu machen. Wir waren dann außerhalb des Bahnhofes und dort erlebten wir, dass die Gruppe derer, die dann auf einem der Bahnsteige war, herausgetrieben wurde aus dem Bahnhof und zwar in Richtung Strehlen. Bis zum nächsten Haltepunkt. Die sind dann über das Gleis gelaufen, dann hinterher auch später zurückgekommen, das haben wir auch erlebt zum Teil. Wir haben uns dann ein bisschen um Leute gekümmert die da mit Kindern, mit Kleinkindern da waren. Mit dem Roten Kreuz haben wir versucht, uns ein bisschen um die zu kümmern, denn die waren aufgebrochen. Das war die Situation dieser Menschen. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Familie mit zwei Kindern, ein Kind davon im Kinderwagen, das war wirklich eine kritische Situation für die. Die hatten alles hinter sich gelassen. Was macht man, wenn man alles hinter sich gelassen hat und jetzt wird man auf einmal daran gehindert, weiter zu gehen? Also da baute sich auch natürlich Wut auf. Die hatten einfach Wut, die wollten nun raus, die hatten es satt, die wollten jetzt etwas anderes. Das hat sich dann ja gezeigt, es hat an dem Abend die erste Besetzung einer Kirche gegeben – in der Dreikönigskirche, so ca. 35 Leute. Am nächsten Tag waren es vormittags in der Kreuzkirche über 40 Leute. Abends, da hatten wir schon Erfahrung damit, in der Kathedrale, dort waren es über 50 Leute, die ausreisebedingt in die Kirche kamen und sagten: „Wir gehen nicht aus der Kirche, wenn wir nicht rauskommen.“ Die erste Gruppe in der Dreikönigskirche ging aus der Kirche mit dem Versprechen, dass sie, wenn sie zu ihrer zuständigen Stelle gehen beim Rat des Kreises für Inneres, herauskommen werden. Die haben sich dann damit nicht mehr zufrieden gegeben, die haben einen Termin gewollt. Die haben gesagt: „Bis Freitag wollen wir raus sein.“ und die haben die Zusage bekommen, dass sie alle bis Freitag draußen sind. In der Kathedrale haben sie sich damit nicht zufrieden gegeben, die haben gefordert, dass sie sofort rauskommen und sie haben es auch geschafft. Also innerhalb von einem Tag erodiert auch die Macht, das fand ich schon sehr eindeutig. Am nächsten Abend gab es die größte Gewalteskalation, das war die Gruppe der Ausreisewilligen und deren Wut über die Art, wie die Polizei mit ihnen umgegangen war, über diese abrupte Grenzsperrung. Sie kamen nicht raus, sie kamen nicht an die Züge, all das hat dann zu dieser Gewalteskalation geführt. Jedenfalls im Kern, denke ich, waren das Leute, die davon bestimmt waren. Aber an diesem Tag waren ja schon an der Prager Straße viele andere da. Das war schon eine große Gruppe. Es ging dann ja sozusagen in diesen nächsten Tagen, dem 4./5./6. Oktober weiter bis zum 7. Oktober. Also jeden Tag gab es eigentlich diese Ansammlungen auf der Prager Straße vor dem Bahnhof. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Donnerstag, da bin ich dabei gewesen. Am Mittwoch hatte ich irgendwie andere Dinge zu tun, da hatte ich mich um diese Ausreisegeschichten da gekümmert. Dann bekam man ungefähr mit was ablief, weil natürlich Leute da waren, die das dann miterlebt hatten. Das war ja für uns insofern völlig neu, da wir die Polizei so ja nie erlebt haben. Die Schilde, die Helme, die Langstöcke, die Wasserwerfer, die Sirenenautos, die mitten in die Menge fuhren, also das war alles so gespenstisch. Noch heute geht es mir so, wenn ich diese Sirenen höre, dann habe ich immer die Assoziation der ersten Oktobertage: Diese bedrohliche Art, wenn der Sirenenton kommt und mit der Gewalt eines Autos, das da in die Menschen wollte. Am Donnerstag, das war der 5. Oktober glaube ich, habe ich das erlebt, wie dieses Spiel ablief. Das war schon fast ein Ritus: Die Polizei bildete einen Cordon vor dem Bahnhof und gegenüber stand die Gruppe der Demonstranten. Die ging so langsam auf die Polizei zu. Dann sprang auf einmal aus der Polizei so eine kleine Gruppe raus und nahm sich willkürlich aus der Demonstrantengruppe ein paar Leute. Da gab es keinen Rädelsführer, das ist ja lachhaft. Da gab es keinen, der irgendwas organisiert hat. Aber die nahmen sie raus und brachten sie dann irgendwie, wie sich dann später gezeigt hat, in eine Haftanstalt. Die ganze Menschenmenge, während die Polizei kam, rannte weg, woraufhin sich die Polizei zurückzog und alles wieder von vorne begann. Es war im Grunde wie ein Spiel, das erst am Freitag Abend endete. Das habe ich dann auch als Aufbruch gedeutet. Da hat es sich von einem Gegenüberstehen von Polizei und Demonstranten, was etwas Steriles hatte, in etwas anderes gewandelt. Jetzt sind sie losgezogen. Das war wie ein Aufbruch, da brach etwas durch. In diesen Tagen ist noch einmal etwas passiert, was für mich dann wichtig war: Dass innerhalb von drei bis vier Tagen die Gewalt in Dresden ganz weg war. Dresden ist ja der einzige Ort gewesen, wo es richtig Gewalt gegeben hat. Bereits am nächsten Tag, am 5. Oktober, saßen genau dort Leute mit Kerzen, wo sie am Abend zuvor noch Pflastersteinen rausgeholt haben. Ich fand das unglaublich. Das hat mich so bewegt, denn das hat keiner organisiert. Das war irgendwo die Erfahrung der Jahre davor. Wir haben doch immer darüber nachgedacht, wie gehen wir damit um. Die Kerze war in den Jahren davor an der Kreuzkirche/Frauenkirche immer schon ein Symbol gewaltlosen Widerstandes gewesen. Das hatte dann auch dazu geführt, dass Leuten, die Gewalt  anwenden wollten, gesagt wurde: „Keine Gewalt! Lass das!“ Das war ja innerhalb der Demonstrantengruppe selbst. Wir als Kirchenleute haben das ja auch selbst in den Andachten gesagt. Die Kreuzkirche war natürlich offen. Am 6. Oktober haben wir angefangen, jeden Tag um 18 Uhr ein Gebet zu veranstalten. Da war also jeden Tag schon ein Anlaufpunkt gegeben und die Kreuzkirche war sowieso offen. Das Thema der ersten Tage war immer, dass man den Prozess mit kühlem Kopf gestalten und dabei auf Gewalt verzichten muss. Das war der Grundduktus. Die Menschen kamen in die Kirche, die dann auch voll war. Das war unglaublich in diesen Tagen. Anders als in Leipzig, wo die Montagsdemonstrationen schon eine Tradition hatten, mussten wir in Dresden erst einmal spontan mit den Dingen umgehen. Im Grunde war die Kirche auch spontan auf einmal voll. Da kam ein Demonstrationszug und die Kirche war voll. In diesen Tagen, so am 5./6./7. Oktober kamen auf einmal Leute in die Kirche und sagten, dass der Bruder, der Freund, der Ehemann oder die Tochter inhaftiert seien. Das war der nächste Punkt, der uns dann natürlich auch sehr bewegt hat. Am Sonntag habe ich dann das Jugendpfarramt gebeten, sich ganz und gar damit zu befassen. Da haben die dann auch noch Leute dazu geholt und haben rund um die Uhr nichts anderes mehr getan, als sich um die Inhaftierten zu kümmern, die Informationen zu protokollieren und sich hinterher mit den Erlebnisberichten auseinanderzusetzen. Das mündet dann in den 8. Oktober. Die Entwicklung am 7. Oktober ist ein Wendepunkt für mich. Es ist ja nicht so ganz zufällig, das kann man natürlich erst nachher sehen, dass am 7. Oktober offensichtlich auch bereits die Demonstrationszüge, die durch die Stadt gingen, so friedlich waren, dass selbst die Offiziellen davon überzeugt waren, sie sind friedlich. Das hat auch dazu geführt, dass die offizielle Politik, die von der Bezirksleitung verfolgt wurde, der Gewalt auch ihrerseits eine Absage erteilt hat. Noch am 8. Oktober gibt es ja Demonstrationszüge, die mit Gewalt enden und wo es Inhaftierungen gibt. Am 7. Oktober werden noch Demonstrationen mit Gewalt beendet, am 8. Oktober werden am Fetscherplatz Unmengen von Leuten verhaftet. Dann kam der Abend des 8. Oktober, der für uns dann in Dresden ganz eindeutig die Wende signalisiert. Wenn es für uns in Dresden einen solchen Punkt gibt, dann ist es dieser 8. Oktober. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Staatsmacht, die bisher den Demonstranten gegenüber nur repressiv aufgetreten ist, sich ihnen gegenüber nun kooperativ verhält und dann auch mit einem friedlichen Gestus reagiert. Das ist der eigentliche Gewinn dieses Vorgangs. Der 8. Oktober ist ja erstmal das Ereignis derer, die da auf der Prager Straße waren. Wir waren an dem Tag in der Kreuzkirche, den ganzen Nachmittag. Ich bin vielleicht mal zu dem ein oder anderen Zug hin und dann mitgegangen. Für mich, für meine eigene Wahrnehmung, war in diesen Tagen das Wichtigste, dass wir präsent sein müssen. Wir müssen da sein und ansprechbar. Ich wusste in diesen Tagen nicht, wo es hin geht. Das wusste ich erst am Abend des 8. Oktober, als wir von der Prager Straße weggingen. Vorher war völlig offen: Wie wird es gehen? Was wird passieren? Wo wird es hingehen? Wir waren also in der Kreuzkirche und verfolgten die Demonstrationszüge und merkten, wie die Demonstrationszüge nach vielen Wegen wieder in die Prager Straße rein gingen. Da wussten wir: Jetzt wird es kribbelig. Das war ein Schritt zurück, denn seit dem Tag davor waren sie das erste Mal wieder auf der Prager Straße. Das war ja von dort ausgegangen. Jetzt gingen sie zurück auf die Prager Straße, zurück in die Nähe des Hauptbahnhofs. Das war ein geschützter Bereich, jetzt wurde es kritisch. Meine Intention war zunächst einmal nichts anderes, als Gewalt zu verhindern. Als die dort in die Prager Straße einziehen, ruf ich im Rathaus an und will mit dem Oberbürgermeister reden. Ich habe eine Stunde gewartet. Die haben mich warten lassen. „Die wollen was“, haben sie mir später gesagt, „also lassen wir sie warten.“

Herr Berghofer war aber auch im Amt, also war in der Stadt?

Ja, er war auch da. Ich glaube, für ihn war es in einer ganz ähnlichen Weise eine offene Situation, also was daraus wird. Eine Stunde später ungefähr kommt dann Bischof Hempel in die Kreuzkirche und Oberkirchenrat Fritz und da sagte ich: „Ich dachte mir schon, dass Sie seit längerem schon ins Rathaus wollen“ und dann rief ich nochmal an und sagte: „Kommt mit.“ und „Gut, dann rufen wir nochmal an.“ Dann rief ich nochmal an und dann überlegten wir: Was machen wir denn dann? Was sagen wir? Wenn die Polizei zusicherte, keine Gewalt anzuwenden, dann würden wir mit den Demonstranten sprechen und sie dazu bewegen, nach Hause zu gehen. Wir hatten einen Zettel und notierten noch ein paar Dinge darauf. Kurze Zeit später sagten sie uns zu und wir kamen ins Rathaus. Das Rathaus war total finster. Jemand kam mit der Taschenlampe an die Tür und brachte uns mit der Taschenlampe durch das Rathaus, nach oben in ein Zimmer – die waren alle abgedunkelt. Wir brachten unser Anliegen vor, also die Gewaltlosigkeit. Ich weiß nur, dass bereits etwas passiert war und es war an ihn die Frage nach einem Gespräch mit den Demonstrantengruppen herangetragen worden. Da war natürlich für uns eine völlig neue Situation. Wir kamen in eine Phase, in der diese Frage für ihn offen war, also die Frage, wie reagiert ihr, wie wird das mit diesem Gespräch werden. Da haben wir drüber gesprochen. Er ist auch mal rausgegangen und dann hat er zugesagt, dass er das Gespräch führen wird. Dann haben wir darüber geredet, wo diese Information sein könnte. Er wollte das nicht im öffentlichen Bereich haben, also haben wir dafür zugesagt, dass wir dafür in die Kirchen gehen und dass wir das dann dort bereden. Wir haben mit ihm ausgemacht, dass die Polizei, wenn wir die Demonstranten auffordern, nach Hause zu gehen, die Kette dann öffnet und wirklich alle friedlich nach Hause gehen können. Das ist ja in der Tat dann auch genauso abgelaufen. Da gibt es übrigens auch Funk dazu, also Polizeifunk, wo das alles genau betont wird nochmal: „ Wenn der Ziemer geredet hat, dann macht die Ketten auf.“ Das ist genau so durchgegeben worden. Nun war ja auf der Prager Straße das Eigentliche geschehen, was wir noch gar nicht mitbekommen haben. Auf der Prager Straße war ja durch Kaplan Richter und Leuschner die Initiative ergriffen und mit jemandem von der Polizei gesprochen worden. Der hat dann die Bitte nach einem Gespräch an den Oberbürgermeister weitergegeben und es wurde dort die Gruppe der 20 und ein Forderungskatalog auf Zuruf zusammengestellt. Das war alles passiert, er hatte auch mit einer Flüstertüte dort gesprochen. Nachdem das dort passiert und im Rathaus gelandet war, sind wir dann mit dem Auto vom Oberbürgermeister rübergefahren. Dann wurde mir auch so eine Flüstertüte gegeben. Ich habe das dann dort bekannt gegeben, dass der Oberbürgermeister die Gruppe zum Gespräch empfangen wird. Das besprach ich dann kurz mit Kaplan Richter und wir sagten, dass wir die vier größten Kirchen von Dresden für die Veranstaltungen nehmen und da sind am Abend die Informationsveranstaltungen. Es wurden tatsächlich die Ketten geöffnet, als ich das sagte und sie gingen nach Hause. Als wir da von der Prager Straße gingen, da war für mich unwiderruflich eine neue Zeit angebrochen. Ich habe ja gesagt: „Dies ist ein Neubeginn“ und das war es für mich wirklich. Ich habe seit dieser Zeit nicht noch einmal daran gezweifelt, dass das weitergehen wird. Für mich war damit deutlich, dies ist nicht mehr rückgängig zu machen. Es ist ja auch so gewesen. Es hat auch Rückschläge gegeben und manche haben gesagt: „Die verschaukeln Euch“, aber an diesem Tag war eine neue Situation geschaffen und das hat sich dann in der nächsten Zeit auch gezeigt.

War das eigentlich Zufall, dass Kaplan Richter auf der Prager Straße aktiv war und Sie gleichzeitig ins Rathaus gegangen sind?

Ja, das war Zufall. Also ich meine, dass er mit der Gruppe war – ich weiß gar nicht, ob ich das gewusst habe. Es kann sein, dass wir auch ein paar Informationen bekommen hatten. Also wir wussten irgendwie, dass da irgendwas im Gange ist, mehr aber nicht. Dass Kaplan Richter daran beteiligt war, das habe ich erst vom OB erfahren, wenn ich das richtig sehe.

Hatten Sie den Eindruck, der Oberbürgermeister Berghofer hatte die Situation noch im Griff? Sie sagten vorhin auch: „Wir merkten schon im Sommer in diesen Gesprächen, dass wir da nicht weiter kamen. Wir bekamen keine richtigen Antworten.“ Glaubten Sie, dass das noch der richtige Ansprechpartner ist?

In den Tagen davor hatte ich eigentlich schon mehrfach versucht, ein Gespräch mit ihm zu bekommen und er wollte es nicht oder es ist jedenfalls nicht zustande gekommen. Ich denke, das war auch so ein Punkt, dass auch für ihn offen war, wie er eigentlich reagieren wird auf das, was da passierte. Das war klar: Solange es um Gewalt ging, da konnte man alles schön klar verwerfen und es war natürlich eindeutig, aber das andere war alles unklar. Er hat das dann ja selbst auch so verstanden. Er hat das später mal in einem Buch geschrieben, dass er diese Frage nach dem Dialog mit den anderen als eine Art von Antwort empfunden hat. Das andere muss man ihn selbst fragen.

Wie kommunizierten Sie denn in jener Zeit, also wie erfuhren Sie denn Neuigkeiten, was am Bahnhof los war, auf der Straße mit Ihren Gleichgesinnten im Rahmen der Kirche, mit den Demonstranten? Können Sie sich an diese Kommunikationsstrukturen und –formen erinnern?

Es gab mehrere Kommunikationsstrukturen. Einerseits gab es die kirchlichen, das waren die Pfarrer. Über die Pfarrer und kirchlichen Mitarbeiter gab es einen Weg. Die riefen mich an oder schrieben mir oder sagten: „Also,von uns hat der und der gesagt“ und „Wir haben heute gesehen, wie die dort Waffen transportiert haben“ und so. Solche Informationen kamen dauernd, das war die eine Ebene. Die zweite Ebene waren die Gruppen, also etwa der Ökologische Arbeitskreis oder die Wolfspelz-Leute, also die Autonomen. Diese Kontakte waren ja dauernd da und wir haben diese Kontakte ja auch regelmäßig gepflegt. Zum Beispiel gab es am 6. Oktober abends ein großes Treffen in der Kreuzkirche, wo die verschiedenen Gruppen zusammen waren und wo es um die Gewaltfreiheit ging. Viele kleine Gruppen waren in der Kreuzkirche, wo es um die gegenwärtige Situation und den Austausch von Informationen und so etwas ging. Dann gab es Leute, die einfach in die Kreuzkirche kamen. Die Kreuzkirche war ja einfach so ein Kommunikationsort, man kam in die Kirche und erzählte. Wenn wir in der Kreuzkirche große Veranstaltungen hatten, auch schon in den 80er Jahren, zum Beispiel am 13. Februar, da gab es immer auch eine Außenwarnung. Draußen konnte ja auch irgendwas in der Frauenkirche sein oder wir sind in der Kreuzkirche und feiern da einen Gottesdienst und draußen passiert irgendwas. Da haben wir immer dafür gesorgt, dass draußen Leute von uns sind. Ich habe mit denen vereinbart: „Wenn irgendwas ist, dann kommt ihr in die Kreuzkirche hintenrum rein“, da gab es einen Extraeingang, „und dann müsst ihr mir auch mitten im Gottesdienst sagen, was passiert.“ In meinen Akten bei der Stasi stand dann, das wäre so eine neue Masche von mir, ich hätte Leibwachen. Das war schwachsinnig. Das waren diese Leute, die uns informierten. So war das auch zum Beispiel am 8. Oktober. Wir waren eine Gruppe von Leuten in der Kreuzkirche und davon ging einer immer mal raus, schaute dorthin, kam zurück und erzählte, was dort los ist und so. Auf diese Weise haben wir im Grunde sehr direkte Informationen gehabt. Die anderen Informationen kamen auch tagsüber und nachts auf verschiedenste Weisen. Wir wurden auch nachts angerufen. Abends, wenn ich nach Hause kam, da lagen so lauter kleine Zettel auf meinem Tisch. Meine Frau notierte all die Gespräche, die gewesen sind: „Ja, von dem oder kurze Informationen aus dort und dort und dort…“

Sie haben uns damals erzählt, dass es einen Anruf bei ihnen zu Hause gab, wo das Deutsche Rote Kreuz angerufen hat oder irgendein Krankenhaus und sich beschwert hat, dass die Krankenwagen nicht durch diese Demonstrationszüge kämen. Sie sollten das jetzt mal sicherstellen, dass die Leute von der Straße kommen, weil man mit dem Krankenwagen da nicht mehr durchkam und die Notfälle in Dresden gar nicht mehr behandeln könnte. Ihnen wurde dann schon nach wenigen Tagen ja auch klar, dass dies ein fingierter Anruf war von der Staatssicherheit. Inwieweit kam denn so etwas öfters vor oder inwieweit mussten Sie denn auch Sorge haben, dass Informationen an Sie herangetragen wurden, die bewusst manipuliert oder verfälscht wurden, um Sie in die Irre zu leiten?

Das ist nun ein eklatantes Beispiel gewesen, weil da haben sie sozusagen meine seelsorgerische Seite benutzt. Mich daraufhin anzusprechen, dass da jemand Schaden erleidet, dass ich da auf diese Weise versuchen solle, auf die Demonstration Einfluß zu nehmen, das war schon ein sehr raffinierter Vorgang. Ich weiß es nicht von anderen Dingen, bei dieser Sache weiß ich es. Ich weiß es auch deswegen, weil der mich nach einem halben Jahr wieder angerufen und das dann mir gegenüber zugegeben hat. Aber er hat es nie geschafft, mal zu mir zu kommen. Er rief mich dann noch ein halbes Jahr lang fast ein bis zwei Mal im Monat an und hat mir jedes Mal so eine fürchterliche Geschichte erzählt. Der kam nicht raus aus seiner Stasiverwicklung und ich sage noch: „Hören Sie endlich auf und kommen Sie mal raus aus Ihrem Denken!“, aber der war da drin gefangen. Dass es solche Fehlinformationen gab, das war klar. Zum Beispiel wurde meine Frau angerufen, ich habe das hier auf einem kleinen Zettel: „Ist das Ihr Mann, der so langsam ist? Die Kreuzkirche brennt!“

Also da gab es einen Anruf?

Nachts irgendwann, ja, so um 00.40 Uhr. Was macht man dann? Man muss ja reagieren. Das mit dem Kreuzkirchenbrand ist dann mehrmals passiert. Oder auch dieser Anruf: „Hier ist die Großmutter von einem verletzten Volkspolizisten. Hätten sich die Apostel vor Jesus gestellt, hätte er das nicht erlitten. Sagen Sie das Ihrem Mann!“ Aufgelegt. Oder: „Du bist ein Schwein, Du bist ein großes Schwein! Aufgabe der Kirche ist es nicht, zu hetzen und zu schüren, sondern nach Frieden zu streben. Ihre Äußerungen haben uns und vielen anderen missfallen!“ Das sind solche Dinge, das gab es. Sonst weiß ich es nicht so genau, weil die Stasiakten, die ich jedenfalls 1992 gesehen habe, bereinigt waren. Das ist nicht so unwahrscheinlich, ich war ja nun ein bekannter Mensch in Dresden und da haben die vermutlich dann doch so etwas rausgenommen. Was die da im Einzelnen noch gemacht haben, weiß ich nicht. Ein Punkt, der mit der Stasi noch zusammenhängt: Wir hatten ja am 9. Oktober nun sozusagen die Dialogphase begonnen und morgens war das Rathausgespräch. Am 9. Oktober abends gab es die großen Volksversammlungen in den vier Kirchen. Wir wollten das nicht unbedingt zweimal machen, also hatten wir Lautsprecher außen auf das Gerüst um die Kreuzkirche gestellt. Ich rufe im Rathaus an und frage, ob die was dagegen hätten, wenn wir die Lautsprecher draußen anstellen. Das haben die mir prompt abgelehnt. „Natürlich nicht“, das durfte nicht sein. Dann kommt unser technischer Fachmann, der das Ganze gemacht hat und sagt: „Die haben alle Kabel durchgeschnitten, die Stasi.“ Eine Woche später, nach dem zweiten Rathausgespräch am 16. Oktober, waren am nächsten Tag wieder solche großen Veranstaltungen. Da sehen Sie, wie sich die Situation geändert hatte: Ich rufe mittags an im Rathaus und sage: „Also, ich will Ihnen nur sagen, heute Abend werden wir die Lautsprecher nach draußen stellen und ich warne Sie, dass die Stasi nochmal die Kabel durchschneidet.“ Ich habe keine Frage gestellt und natürlich war eine Veranstaltung. Wir haben alles mit Außenlautsprechern gemacht, war gar kein Problem. Dann gibt es noch diese andere Geschichte, das war auch mit der Stasi. Beim zweiten Rathausgespräch, das ja das kritischste war, ging es darum, dass der Dialog und die Gruppe der 20 frei von der Beobachtung durch die Stasi war. Die Stasi hatte sofort, das wussten wir natürlich und die hatten das auch gemerkt, die Mitglieder der Gruppe der 20 im Visier. Ich habe das im Gespräch mit dem Oberbürgermeister vorher gesagt, dass wir erwarten, dass die Staatssicherheit die nicht behelligt. Am Montagabend sollte es ja ein Gespräch geben, ein öffentliches Pressegespräch, wo auch Westmedien dabei waren. Es gab eine Pressekonferenz und bei dieser Pressekonferenz habe ich dann gesagt: „Der Dialog kann nur ordentlich geführt werden, wenn er auch frei ist von Angst und auch von der Beobachtung durch die Organe der Staatssicherheit.“ Es stand ja in dieser Zeit am nächsten Tag schon alles in der Zeitung, in der Union wenigstens. Dieser Satz: „aber auch durch die Beobachtung durch die Staatssicherheit“, war gestrichen. Da sagten die zum Chefredakteur: „Warum ist denn der Satz nicht gekommen?“ und der sagt, die Druckerei hätte sich geweigert. Dann haben aber die Redakteure durchgesetzt, dass am nächsten Tag dieser ganze Passus nochmal abgedruckt wurde. Da merkt man, sie haben eingegriffen, aber sie haben nichts mehr bewirkt. Im Grunde war bereits bei den Menschen eine solche Stärke da, dass sie sich das nicht mehr haben gefallen lassen. Insofern hat sich das dann doch sehr schnell bewegt.

Ich möchte nochmal was zu dem Dialog sagen, weil, wenn für Dresden etwas charakteristisch ist, dann ist es – neben dieser Erfahrung vom 8. Oktober abends – eben der Umstand, dass es hier einen der ersten Runden Tische gab in der DDR. Der Runde Tisch, das Rathausgespräch, war am 9. Oktober. Noch abends wurden die Informationen in den vier Kirchen vor ca 25.000 Menschen bekannt gegeben. Am Tag darauf gab es bereits die erste Veröffentlichung der Berichte in der Union. Seit dieser Zeit berichtet die Union authentisch über das, was da passiert ist, da war noch nichts geändert. Am 12. Oktober gibt es den Politbürobeschluß über die Einführung des Dialogs. Am nächsten Wochenende, beim zweiten Rathausgespräch, ging es um den eigentlich kritischen Punkt für die Gruppe der 20: die Status-Frage. Wird die Stadt den Status der Gruppe akzeptieren und wird sie öffentliche Informationen zulassen? Die Stadt war nicht bereit, beides zu tun, weil in der DDR sich nichts geändert hatte, bis auf diesen Aufruf vom Politbüro. Sonst hatte sich nichts geändert. Sie wollten eigentlich das Gespräch zu Ende führen, sie wollten es beenden. Sie sagten, es war gutgegangen, „aber jetzt müssen wir es wieder zu Ende bringen und wir bringen es zu Ende mit einem Gespräch zwischen Berghofer und Ziemer im Fernsehen.“ Die wollten es wieder auf die Staat/Kirche Schiene schieben, das wusste ich sofort. Das ist nicht mehr die Zeit. Ich habe dann auch sehr deutlich gesagt: „Das ist nicht mehr die Zeit eines Staat/Kirche  Gesprächs, sondern es geht hier um das Verhältnis von Volk und Regierung, um Staat und Macht. Diese Frage steht jetzt an und nicht mehr die Frage nach der Trennung zwischen Staat und Kirche.“ Deswegen hat es mich dann auch sehr geärgert, als sich in der Woche darauf, also nach dem Gespräch, der Vorstand der Konferenz der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchen sich mit Krenz traf. Am Mittwoch dem 18. Oktober war ja die Honecker Ablösung. Übrigens, am 17. Oktober abends hatten wir nochmal die großen Informationsveranstaltungen in den Kirchen und mich rief Berghofer aus der Versammlung raus und sagte: „Morgen gibt es eine wichtige Entscheidung.“ Mehr sagte er nicht, aber ich wusste, morgen wird Honecker abgelöst. Dann kam der nächste Tag und Krenz wurde ja zum Nachfolger gewählt. Ein Tag nach der Wahl traf sich der Vorstand der Konferenz der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchen sich mit Krenz. Ich war wütend, weil ich dachte, das darf nicht sein. Wir haben als Kirche nicht die Funktion, uns dem Staat in einer Diskussion entgegenzustellen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist jetzt das zu moderieren, was da passiert und dafür zu sorgen, dass dieser Dialog ordentlich abläuft, dass es wirklich ein Dialog ist und dass er vorangeht. Deswegen war ich in dieser Zeit auch ganz sicher, was ich tun musste. An dieser Stelle war ich ganz klar: Ich war nicht der Verhandlungsführer, ich war nicht der, der das voranbringen musste, aber ich war der, der dafür sorgen musste, dass dieser Dialog auch wirklich geführt wird. Eine Woche nach dem Forderungskatalog auf der Prager Straße hatten wir einen richtigen, großen Katalog von Themen, über die verhandelt werden musste. Es war noch die Frage nach der öffentlichen Information offen. Ich habe ja dann gesagt, dass wir nochmal in die Kirchen gehen. Da waren zwei ganz kontroverse Fragen im zweiten Rathausgespräch: Das Eine war der Status der Gruppe. Der Oberbürgermeister fühlte sich nicht in der Lage, diesen zu akzeptieren, die Gruppe der 20 als offizielle Gesprächspartner anzusehen. Das war der eine Punkt. Der andere Punkt war, dass die Gruppe auch unbedingt eine Information veröffentlichen wollte. Sie wollte nicht mehr in die Kirchen gehen. Das war ein Patt in dem Gespräch und da habe ich gesagt: „Also, wir machen eine Pause und beide Gruppen ziehen sich zurück und reden.“ Ich habe dann mit beiden Gruppen geredet und habe sie dazu überredet, es jetzt nicht abzubrechen: „Es wird sich ändern.“ Also meine Überzeugung war, dass genau das passieren wird, was die Gruppe will, also dass der Status akzeptiert wird. Es hat lange gedauert, bis der Status der Gruppe offiziell akzeptiert war, aber faktisch ist es ganz schnell gegangen. Dass wir nochmal in die Kirchen gegangen sind, das hat sich dann auch relativ schnell geändert. Am 26. Oktober gab es die erste große Veranstaltung, die nicht in einer Kirche stattfand. Eine Woche, zehn Tage später, gab es bereits auf der Cocker-Wiese diese riesige Veranstaltung, wo fast 100.000 Menschen da waren. Ja, die 100.000 auf der Cocker-Wiese, da war ja die Öffentlichkeit auf einmal da. Das durchzuhalten, das war, glaube ich, wesentlich, auch wenn es nicht sofort lief, auch wenn es sich nicht sofort realisieren lässt. Der Oberbürgermeister war ja in diesem Gespräch immer um Gründe verlegen, die durch diese Forderungskataloge aufkamen. Klar, das war gar nicht seine Kompetenz, was da von ihm verlangt wurde, denn es ging da um Reisefragen und alle möglichen Dinge. Es war ja genau der Vorgang, der im Grunde auch beispielhaft war für das Land, dass diese Forderungen, die jetzt im Volk da waren, sich auch artikulierten auf allen Ebenen des Landes. Und ich meine, dass es für Dresden charakteristisch ist, dass dies passierte. Nach der Forderung am 26. Oktober hatte die Gruppe der 20 bereits zehn Tage später in der Stadtverordnetenverammlung Rederecht. Das muss man sich mal vorstellen, das ist schon sehr ungewöhnlich. Der Stadtfunk wurde abgeschaltet, als die Gruppe der 20 anfing zu reden. Der Protest war dermaßen groß, dass sie es wieder anschalteten. Als ich geredet habe, das haben sie alle gehört. Ich bin der Dritte gewesen von denen. Die Beiden haben geredet und dann hab ich zum Schluss noch geredet dort. Ich habe dann die Reaktionen gehört von den Leuten. Da war dann ja schnell etwas in Gang gekommen. Dann gab es zeitweilig diese Arbeitsgruppen, da sagten die Leute auch erst dazu: “Die verschaukeln uns dort!“, aber es ist ja soweit gegangen, das sie dann wirklich paritätisch zusammengesetzt wurden. Dann haben wir die Gruppe der 20 in diesen Prozess einbezogen. Die waren ja ohne Kompetenz da zusammen, also von der Sache her waren sie einfach Vertreter des Volkes, sodass es wichtig war, ihnen Kompetenz zu verschaffen. Wir schickten erst Berater da rein, da haben wir uns darum gekümmert. Dann fanden sich um den 25./26. Oktober herum in der Kreuzkirche zu diesen Themenkomplexen Leute zusammen, die später Arbeitsgruppen bildeten. Die neuen Bewegungen, die neuen Foren, die sich da bilden, sind dann einbezogen worden. Das ist ja ziemlich singulär in der damaligen Bewegung gewesen. Also es gab auch tatsächlich bis in die Strukturen hinein eine wirkliche Veränderung. Das ist deutlich schon eine besondere Weise gerade des Dresdner Weges, hier einen Sonderweg gefunden zu haben, der ja, jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt, auch wirklich gegangen wurde. Dass es dann hinterher abgebrochen ist, gut, das wissen wir auch.

Sie sprachen es ja gerade an, dieser Dresdner Weg, dazu gehörte ja auch diese Legitimierung mit der einen Mark, die da als Spende eingezahlt werden sollte. Können Sie sich daran erinnern, wer diesen Vorschlag hatte, mit einer Mark die Gruppe der 20 zu legitimieren?

Ja. Das war der Herr Boltz aus der Gruppe der 20, der diesen Vorschlag machte und dann auch realisierte. Das gab ja ein unglaubliches Echo, es waren 80.000, nicht?

Ja. Wenn Sie sich an diese Zeit erinnern, stellten Sie Unterschiede innerhalb dieser Gruppe fest? Gab es Leute, wie Sie sagen, die waren doch halt weitaus engagierter als andere und praktischer, im Dialog für Sie wertvoller?

Ich meine, die Gruppen waren natürlich gebildet und hatten natürlich auch ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Diese Gruppe hatte nicht gleich die Kompetenz einer neuen Stadtregierung, das muss man ja nun nüchternerweise sagen. Das ist so, wenn man auf diese Weise eine Gruppe zusammensetzt. Aber das Wichtige war ja, dass hier die Gruppe sozusagen mit einem Mandat des Volkes auf der Straße gebildet wurde und dass dieses Mandat bestätigt worden ist. Aber deshalb, das denke ich schon, weil es zugleich dieser Gruppe frei stand, sich diese Kompetenzen dazu zu holen. Also diejenigen, die über Jahre in diesen Dingen gearbeitet hatten, zum Beispiel der ökologische Arbeitskreis, die waren dann natürlich auch diejenigen, die diesen Prozess begleitet haben. Da hat es sich dann ausgezahlt, das war ja eine ganz wichtige Erfahrung. Das, was im Herbst passiert ist, ist in seiner Art völlig spontan und sozusagen originell gewesen. Das ist eine völlig eigenständige Entwicklung gewesen, was sich da in den ersten Oktobertagen entwickelt hat. Aber der Prozess, der dann sich daraus entwickelt hat, der ist ja nur deshalb strukturiert worden, weil es Leute gab, die über Jahre hin sich über diese Dinge Gedanken gemacht hatten. Deswegen waren sie bereit, auch hungrig, das zu tun. Zu mir kamen in den Tagen dann, als die Gruppe der 20 gebildet wurde und die Rathausgespräche stattfanden, laufend Leute, die sagten: “Also ich bin bereit, mich zu engagieren.“ Da kamen lauter Leute und zwar aus allen Kategorien. Also das waren nicht nur irgendwelche Leute aus irgendeiner Gruppe, sondern auch Kompetente, bis zu Manfred von Ardenne. Die schrieben mich an: “Können wir irgendwo helfen?“ Das war da für uns wichtig, auch dann, als sich zum Beispiel diese Untersuchungskommissionen gegründet haben. Es war wichtig, dass wir da Leute hatten, die auch bereit waren, sich in so etwas reinzuhängen, die auch Kompetenz hatten. Wir hatten Ärzte, die bereit waren, so etwas zu unterstützen. Die Gruppe der 20 war so ein Kristallisationspunkt, der zugleich von uns, von den Kirchen, begleitet war und damit hatte die Gruppe der 20 noch eine Institution, die sie irgendwo stützen konnte, die ein bisschen hilfreich sein konnte. Dadurch war es auch ein Kristallisationspunkt für andere, sich daran anzugliedern und sich da mit zu engagieren.

Ich würde ganz gerne nochmal einen Schritt zurückgehen, wir sind jetzt schon ziemlich am Ende der Geschichte. Wir wollen mal den Zeitraum Sommer, also Juli/August bis Oktober/November, skizzieren. Gab es in dieser Zeit für Sie persönlich einen Wechsel der Forderungen, die Sie erfüllt sehen wollten? Gab es für Sie selber einen Wechsel der Positionen in diesem ganzen Prozess?

Also, ich meine die Situation ändert sich für mich mit dem 8. Oktober. Bis zum 8. Oktober hatte der Prozess der 80er Jahre für uns die Dimension, sich zuallererst um die Überlebensfrage zu kümmern. Es war die Friedensfrage, mit der das los ging. Es kam dann die Umweltfrage dazu, die ökologischen Probleme. Dann kam die Menschheitsfrage. Nehmen Sie mal den ganzen KSZE-Prozess mit seinem dritten Korb, den menschlichen Fragen. Dann gab es auch das Problem der Ausreise. Das waren die Fragen, die uns bewegt hatten. Das waren auch die Fragen, die dazu geführt haben, dass engagierte Gruppen sich gebildet hatten und über Jahre hin gearbeitet haben. Dann verband sich das in den späteren 80er Jahren mit der Frage nach der Umgestaltung der DDR. Das verbindet sich für mich. Diese beiden Dinge kommen in der ökumenischen Versammlung zusammen, wo wir, die Kirchen und die Gruppen, zusammen einen Prozess über 1988/89 führten. Der begann ja auch nicht zufälligerweise. Schon im Herbst ’87 beginnt das mit „Eine Hoffnung lernt gehen“. Dadurch haben wir DDR-weit aufgerufen, uns die Fragen, die wir in diesem Prozess verhandeln sollen, zu nennen. Da haben wir 10.000 Antworten bekommen, in denen sozusagen diese Fragen vom Frieden, ökologische Fragen und die DDR-Erneuer­ung/Veränderung der DDR-Gesellschaft, eine Rolle spielten. Dieser Prozess hat uns bestimmt. Das war sozusagen der Verlauf für mich, in dem ich gelebt habe in den ganzen 80er Jahren. Dann beginnt mit Anfang Oktober eine Phase, in der sich eine neue Realität herausbildet. Im Grunde wird die Machtfrage gestellt. Ich habe im Übrigem nicht zufälligerweise am 1. Oktober eine Predigt über die Vertrauensfrage gehalten, dass ja die Vertrauensfrage die Wahrheitsfrage stellt und dass dahinter die Machtfrage steht. Diese Fragen waren natürlich irgendwo im Bereich schon für uns da. Das vollzieht sich jetzt neu mit dem Katalog, der auf der Prager Straße gemacht wurde. Da dominieren die Freiheitsfragen: Wahlfreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, dann Versammlungsfreiheit, Neues Forum, Zivildienst. Das waren die ersten Forderungen. In diesen Fragen stellt sich dann auch die Grundfrage der Machtstruktur. Von dieser Zeit an geht es für mich relativ bruchlos weiter. Eine Woche nach der Prager Straße hatten wir bereits einen ganzen Katalog-Rahmen. Die ganzen Fragen darin sind als Veränderungsfragen formuliert, noch nicht als Fragen der Macht. Es begann bei den Sachfragen der Veränderung, die dann nicht zufälligerweise zur Frage der Wahlen und der Frage der Reisefreiheit führten. Dann fällt die Mauer schließlich, dann fällt die Stasi schließlich. Eines nach dem anderen. Eine Macht, auch eine Freiheit, nach der anderen wird errungen. Das ist der Prozess, den ich dann also eigentlich als einen relativ eindeutigen wahrgenommen habe. Es gab eine Verschiebung. Das verschärfte und veränderte sich dann noch mal mit dem Kohl-Besuch Ende Dezember. Schritt für Schritt, kommt nun eine andere Frage, die Einheitsfrage. Die Frage nach der Einheit Deutschlands, die sich dann stellt und die dann auch auf einmal die Frage aufwirft: Ja, sollen wir hier noch was verändern oder können wir nicht gleich das System nehmen, das es schon gibt? Letztlich geht es ja dann sozusagen in diese beiden Richtungen. Wobei, so denke ich, für die einen wie die anderen nie strittig war, dass die Einheit Deutschlands für uns eine Zielvorstellung ist. Das war für uns auch früher überhaupt nie strittig. In der ökumenischen Versammlung im April 1989 endet der Text über die Gerechtigkeit in der DDR mit der nationalen Frage. Die Frage: Was bedeutet es für uns, Deutsche zu sein? Also diese Frage gab es schon damals. Wir hatten diese Frage sozusagen in der europäischen Friedensordnung. Nun aber kommt sozusagen erst die Einheit und damit sozusagen auch darin die europäische Friedensordnung. Das verändert sich, aber das ist dann eine Veränderung, die sich im späteren November andeutet. Im Dezember wird es klarer und es führt ja dann auch dazu, dass der Dresdner Weg abgebrochen wird. Charakteristisch dafür ist der Eintritt entscheidender Leute aus der Gruppe der 20 in die CDU, wo deutlich wird: Jetzt entscheiden wir uns für einen realistischen Weg, der auf Übernahme der westdeutschen Parteiendemokratie beruht. Dass sich die Gestaltung der neu gewonnenen Freiheiten als Angliederung vollzog, das ist freilich noch mal eine andere Geschichte.

Da kommen wir noch drauf. Eine letzte Frage zu dieser Zeit und zu diesen Fragen: Gab es für Sie mal den Moment, wo Sie glaubten, das kann nicht klappen? Wo Sie also an dem ganzen Prozess und seinem Erfolg zweifelten?

Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, dass es so einen Zweifel gegeben hat. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Prozess unumkehrbar ist und habe deswegen auch zum Beispiel nie geglaubt, dass die Grenzfrage eine Lösung ist. Das war irgendwo deutlich, das muss weiter gehen. Meiner Vorstellung entsprach das schon, also dass Lösungen gesucht wurden, aber die auch wieder weg/abgelegt wurden und dass dann wieder sozusagen noch ein neuer Schritt gemacht wurde. So ist es ja dann auch gewesen. Man ist einen Schritt gegangen und hat dann aber gemeint, das reicht noch nicht. Das ist aber vielleicht ein friedlicher Übergang, das ist eine friedliche Revolution, die nicht die Ausschreitungen, nicht die Vergeltung und die nicht den anderen den Kopf kürzer machen will, sondern dass man mit denen auch menschlich umgeht. Ich fand neulich mal, als ich da so las, was ich da gesagt habe. Da fiel mir das mal auf, im Blick auf die Gewalt der Sicherheitsbeamten gegenüber den Inhaftierten, das war ja eine fürchterliche Geschichte, nicht? Dann haben sich die Staatsanwälte und die Regierungsvertreter damit entschuldigt, dass es eine falsche Situationsanalyse gewesen wäre. Daraufhin hätten sie sich so verhalten. Da hab ich gesagt: “Also, auch wenn diese Situationsanalyse richtig gewesen wäre, also wenn das wirklich alles Verbrecher gewesen wären und sie hätten randaliert, selbst dann hätte die Polizei das nicht machen dürfen.“ Das ist der Unterschied: Selbst dann, wenn die Demonstranten im Unrecht waren, muss die Polizei anders mit ihnen umgehen. Selbst dann sind sie nicht berechtigt, so mit ihnen umzugehen. Das ist der Lernstoff, das ist die Weise, mit den Menschen anders umzugehen. Das heißt es, die Würde des Menschen zu achten, nicht? Dass er auch dann, wenn er schuldig ist, menschlich behandelt wird.

Hätten Sie denn erwartet, dass das System einen größeren Widerstand leistet? Hatten Sie geglaubt, dass es dann doch so relativ schnell und relativ einfach geht, das System erst zu verändern?

Also ich bekam fortwährend irgendwelche Informationen darüber, dass dort Waffen transportiert wurden, dass dort Leute und Kräfte zusammengezogen worden sind. Ich habe das nie so richtig geglaubt. Ich hatte das Gefühl, dass es auch ein Teil der Machterosion war. Um Gewalt anzuwenden brauche ich auch eine Legitimation. Diese Legitimation hatte dieser Staat, sie war immer erlogen gewissermaßen. Sie war ja letztlich nicht legitimiert, denn die Wahlen waren ja ein typisches Zeichen dafür, das die Legitimation fehlte. Aber selbst wenn die Legitimation erlogen war, so hatte sie noch einen Teil Stabilität. Das war zunehmend zerbrochen und ich hatte nicht das Empfinden, dass es da Gewalt gibt. Wir hatten am 8. Oktober die Wende und am 9. Oktober haben wir ja schon Emissäre nach Leipzig entsandt und haben ihnen gesagt: “Also wir haben bereits das erste Gespräch geführt.“ Ich habe nicht geglaubt, dass das in Leipzig da was geben könnte. Das war mein Glaube, mein Bauchgefühl, begründen kann man das letztlich, glaube ich, auch nicht.

Das war ja auch, wie Sie vorhin schon sagten, das Außergewöhnliche an diesem Dresdner Weg. Also, dass es sich so schnell wandeln konnte und wir eigentlich schnell, in eigener Dynamik, ein Ziel und auch Erfolge vorweisen konnten. Aus diesem Prozess haben Sie sich ja dann doch für viele sehr überraschend sehr schnell zurückgezogen. Können Sie das vielleicht noch mal reflektieren, wie es dazu kam?

Ich bin ja immerhin noch bis 1992 in Dresden gewesen. Ich wollte nicht in die Politik gehen, ich wollte auch nicht selbst die Politik mitgestalten. Ich habe meine Rolle gespielt, ich war da, hatte eine besondere Funktion in der Frühphase der friedlichen Revolution und ich habe mich dann vielleicht irgendwann aus der aktiven Arbeit bei der Gruppe der 20 zurück gezogen, weil ich auch das Gefühl hatte, da sind jetzt Leute da, die das können. Ich muss da jetzt auch nicht sein, da bin ich nicht unbedingt nötig. Dieses Gefühl hatte ich. Ich bin da so zurückhaltend. Ich bin da auch jemand, der es nicht geglaubt hat, dass er das unbedingt weiter treiben muss und ich wollte meinerseits nicht politische Verantwortung übernehmen. Ich habe mich dann wieder auf die Rolle konzentriert, die ich als Pfarrer hatte und damit ja den Prozess auch immerhin noch bis 1992 begleitet. Ich wollte auch mehr wieder zu der deutenden Rolle zurück, das „Was passiert mit uns?“, das war ja für die Menschen auch wichtig. Ich sah mich eher dort, auch wenn ich nicht in der aktiven Gestaltung mitgewirkt, mich da nicht einbezogen habe. Das hatte ich nie vor. Es gehört für mich zu der Rolle der Kirche dazu, dass wir uns auch wieder zurücknehmen. Wir haben da in einer bestimmten Phase eine Funktion, tun dies aber nicht auf Dauer und treten dann auch wieder zurück und überlassen denen das Feld, die jetzt auch mehr Kompetenz haben. Ich habe mich noch nie für kompetent gehalten in diesen Dingen, ich habe den Prozess ja weiter begleitet, aber nicht im Aktiven, nicht, sozusagen, an vorderster Front.

 Die Frage des Einmischens, haben Sie das vermisst dann später, mit einem Stück Abstand?

Der dann in Gang gekommene Prozess der politischen Angliederung, aber auch der Angliederung der Ostkirchen an das westdeutsche System, das habe ich selbst persönlich als ausgesprochen enttäuschend empfunden. Ich hatte das Gefühl, dass dabei auch etwas von dem verloren geht, was wir in der ersten Phase des revolutionären Prozesses gewissermaßen gelernt haben: Nämlich aufzustehen, unsere eigene Kraft zu entdecken und auch zu gestalten, dann eins nach dem anderen zu erringen. Der Dialog hätte dann auch im zweiten Schritt gefordert, jetzt auch diese neue Freiheit zu gestalten, der Ordnung auch Gestalt zu geben oder jedenfalls auch den zweiten Teil des Prozesses als dialogischen Prozess zu vollziehen. Der Prozess der deutschen Einheit ist, das muss man ja mal ganz offen sagen, kein dialogischer Prozess gewesen. Das war ein Prozess, in dem dann schließlich entschieden wurde, dass die Konditionen des westdeutschen Systems auf allen Ebenen im Grunde für den Osten übernommen wurden. Damit ist aber die Kompetenz derer, die sich sozusagen gerade selbst gefunden hatten, eigentlich verloren gegangen. Dieser Prozess der Einheit ist nicht auf Augenhöhe miteinander ausgehandelt worden. Im Blick auf die Kirchen war ich überhaupt nicht einverstanden mit diesem Prozess. Das hat dann auch zu einer inneren Distanz geführt, ohne Frage. Ich hab die Anfänge mitgemacht, aber war doch dann kritisch dem gegenüber, weil ich am Beispiel Kirche eben gesagt habe: „Das entspricht nicht dem, was unsere Kirchen im Osten waren.“ Ich nehme ein ganz konkretes Beispiel: Im Jahr danach, dann also 1990, im Herbst, ist für die Kirchen das Bundesbesoldungssystem für die Pfarrer und Mitarbeiter übernommen worden. Ich habe immer gesagt: „Es ist für uns einfach zu hoch. Wir brauchen ein System, das unserer Tradition angemessen ist, um uns Handlungsfreiheit zu lassen.“ Aber das war dann Kondition gewesen. Das gilt nun für verschiedenste Dinge und das habe ich als einen Bruch mit dem, was wir erlebt haben, mit unserem Weg, den wir gegangen sind, empfunden. Das hat bei mir dann auch dazu geführt, dass ich für mich gespürt habe: Ich brauche jetzt eine Zeit, wo ich aus dieser Verantwortung heraustrete. 1992 war dann meine Zeit als Superintendent zu Ende, die ging 12 Jahre lang. Ich wollte dann eigentlich auch zunächst mal eine Zäsur haben und mich ein halbes Jahr ausklinken. Da gab es keine Möglichkeit. Die Kirche fand keinen Weg, mich mal ein halbes Jahr frei zu stellen, obwohl diese Spannungen der Jahre an mir nicht einfach spurlos vorbeigegangen waren. Ich musste jetzt mal raus und das hat dann dazu geführt, dass ich dann ganz heraus gegangen bin. Ich bin in Meißen dann gleich in eine neue Aufgabe gegangen und die hat mich aber dann nicht mehr ausgefüllt. Ich bin dann im Sommer zunächst für zehn Jahre ganz aus dem kirchlichen Dienst ausgeschieden und habe einfach etwas ganz anderes gemacht und gesucht. Ich wollte jetzt auch für mich einen neuen Weg finden.

Kommen wir schon zur letzten Frage: In wieweit, würden Sie denn sagen, hat diese politische Wende in Dresden Ihre persönliche Biographie ausschlaggebend verändert?

Ich habe das jetzt eben beschrieben. Meine persönliche Biographie ist dann von dieser Zeit an schon sehr stark betroffen gewesen. Ich habe mich ja außerordentlich stark mit dem Prozess der 80er Jahre identifiziert. Das kulminiert im Herbst 1989 und bricht dann irgendwann auch ab. Das hat bei mir auch neue Bedürfnisse ausgelöst, jetzt für mich einen neuen, anderen Weg zu suchen. Es ist auch nicht so ganz zufällig, da dann eine persönliche Beziehung bei mir eine Rolle gespielt hat, die vor der Wende nie denkbar gewesen wäre. Dies kam noch in dieser Phase der Brüche hinzu, der Bruch meiner Ehe. 1992 bin ich aus dem Dienst geschieden und wollte Zeit gewinnen, darüber zu entscheiden. Ich bin ja dann 1992 das erste Mal nach Ex-Jugoslawien gegangen, nach Kroatien und habe mich dann später entschieden, meine Ehe zu beenden. Ich habe ja immer versucht, die so wichtige Frage: „Was passiert mit uns?“, zu deuten. Nun ist da ja eine eklatante Krise, die in einem solchen Wechsel des Systems passiert. Ich war immer dafür, dass wir durch die Krise hindurch gehen und sie nicht vermeiden, denn die Krise verlangt von uns, dass wir uns mit ihr auseinander setzen müssen. Wir müssen uns mit dem, was gewesen ist, auseinander setzen und uns auf etwas Neues vorbereiten. Das ist beides eine große Aufgabe, also fertig zu werden mit der Frage: “Wie kommen wir mit dem zurecht, was wir erlebt haben?“ Wir mussten uns ja damit auseinander setzen. Wie waren wir selbst gewesen in dieser DDR?  Wo waren wir hinein verstrickt? Wie haben wir uns auch angepasst? Das sind Fragen, mit denen wir uns auseinander setzen mussten. Dazu kamen dann die Vorwürfe der Stasi, das war noch ein besonderer Punkt, aber jeder musste mit seiner eigenen Geschichte erstmal klarkommen. Also: Was war mit mir da gewesen? Dann kam ja eine völlig neue Situation auf uns zu, wir mussten etwas Neues lernen. Die Krise hat ja die Funktion, das eine und das andere zu leiten. In der Krise werde ich auf den Nullpunkt geführt, um auch wieder neu anzufangen. Ich habe, wenn ich gepredigt habe, sehr häufig darüber geredet, was das bedeutet für uns in dieser Zeit und ich habe das dann selbst erlebt. Was das aber bedeutet, wenn man dann so diese Krisen auch bis in alle Dimensionen persönlich erlebt, das war schon eine sehr schwierige Situation. Ich hab dann sehr schwierige Jahre gehabt, in denen ich auch sehr weit und sehr tief gefallen bin. Ich habe sehr unterschiedliche Dinge gemacht: ich arbeitete in einer Glaserei, in Ex-Jugoslawien, arbeitete mit an der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, in einem Berliner Schülerladen, gab Veranstaltungen über Berufsethik in einer Landespolizeischule und habe dann in einem Süd-Ost-Europa-Verein Flüchtlings­arbeit geleistet. All das, bis ich dann nochmal ein neues Feld entdeckt habe, die religiöse Friedensarbeit in Bosnien, wo ich sechs Jahre lang gewesen bin. Das war nochmal eine für mich sehr wichtige neue Erfahrung in einer anderen Konfliktsituation. Ich bin ja nicht zufälligerweise aus der deutschen Situation wieder in eine Konfliktsituation nach Jugoslawien damals gleich gegangen und dann später nach Bosnien. Dort habe ich nun nochmal das Feld der Religionen und des Friedens, also auch die Verwicklung von Religion in Krieg und Gewalt erlebt. Das ist ein Thema, das uns ja dann auch im 21. Jahrhundert gleich am Anfang nochmal neu eingeholt hat, zusammen mit der Verwicklung von Terrorismus und Religion. Das hob die Friedensfrage wieder auf eine neue Ebene, das war eine für mich wichtige Erfahrung. Ich erlebte dadurch auch, was es eigentlich bedeutet, wenn man die muslimische Kultur kennenlernt – eine europäische muslimische Kultur, die dort aber vor allen Dingen in der Opfersituation war. Das waren wichtige, neue Impulse, jedenfalls für meine Wahrnehmung der Konfliktlagen in der Welt von heute.

Gestatten Sie mir am Ende noch eine persönliche Frage. Wie hat Sie das als Mensch verändert, diese Zeit? Haben sie an sich Eigenschaften entdeckt, in diesen 80er Jahren, ich will das gar nicht nur auf den Herbst jetzt beziehen, die Sie dann nachhaltig verändert und beeinflusst haben?

Also diese Rolle, in Konfliktsituationen zu moderieren und eine Fähigkeit zu entwickeln, sowohl die Einen als auch die Anderen zu verstehen und auf diese Weise auch vermitteln zu können, das war etwas, was ich in den 80er Jahren lernen musste. Wobei es für mich eine der schönen Erfahrungen war, dass es für mich auch eine Weise war, darin stark zu werden und dass man in der Lage war, Positionen, die scheinbar nicht vermittelbar sind,  miteinander ins Gespräch zu bringen. Das hat dann im Herbst ja nochmal eine Rolle gespielt, als auch der Oberbürgermeister Vertrauen hatte, also einen verlässlichen Partner in mir sah.  Dass ich gegenüber den Guppen das konnte, das verlangt manchmal – das ist vielleicht das Problem – eine zu große Selbstlosigkeit. In diesem Vorgang verliert man sich sozusagen selbst, weil man da drin ist, das ist der Punkt. Das ist dann meine Krise gewesen, ja. Solange man vermittelt, solange ist man in diesen Dingen relativ stark, aber wenn man dann nicht mehr vermittelt, dann wird man in einer Weise auf sich geworfen, mit der man relativ schwer umgehen kann. Das ist auch eine echte Gefahr.

Die Nähe zur Macht in dieser Dialogrolle oder auch als Moderator hat Sie ja dann auch in die Nähe der Stasivorwürfe gebracht. War das für Sie eine persönliche Enttäuschung oder haben Sie damit gerechnet, dass es, wenn Sie diese Dialogrolle einnehmen, Leute gibt, die sagen: “Er hat sich zu stark mit dieser Macht eingelassen“?

Wenn ich auf die 80er Jahre blicke, dann war das natürlich so, es gehörte zu der Rolle, die man hatte, irgendwo hinzu. Da waren auch domestizierende Elemente, also: “Mach das nicht!“, „Das geht nicht!“, „Da gibt es Ärger!“, „Da kommt da was!“ und dieses dauernd. Das ist aber auch, wenn Sie so wollen, die Konkretion von Gewaltlosigkeit. Ich überlege dauernd: „Welche Mittel sind richtig? Das sollten wir vielleicht nicht tun, damit wir nicht eskalieren, damit nicht jemand ins Gefängnis kommt, damit wir nicht Gewalt herausfordern.“ Das haben natürlich auch die Gruppen manchmal als eine Deckelung empfunden, aber ich glaube nicht, dass sie mich als Vertreter der Macht empfunden haben. Das hat mir nie jemand vorgeworfen. Aber dass man in einer solchen Situation auch immer wieder für sie eine domestizierende Rolle hatte und ob man da auch anders hätte reagieren können, das kann man sicher im Einzelnen fragen. Wobei hier die Dresdner Situation schon auch charakteristisch ist, wenn Sie es mit der Berliner Situation vergleichen. Dort gab es zwischen Kirche und Gruppen Konflikte, die Gruppen waren dort radikaler. Da ist es ja zum Teil ziemlich kritisch und sehr schwierig gewesen. Da haben wir es durch diesen Spagat zwischen den Beiden immer irgendwo auch geschafft, dass es nicht auseinander gelaufen ist. Wobei für mich die ökumenische Versammlung natürlich immer eine wichtige Funktion hatte, auf der ja auf offizielle Weise die Kirchen vertreten waren und wo die Gruppen sozusagen strategisch auch zu Gesprächspartnern aufgewertet wurden. Da waren sie auch nicht bloß irgendwelche Gruppen, sondern sie waren Teil des Prozesses. Das war zum Beispiel schon so eine wichtige Vorentscheidung.

Wenn Sie jetzt nach 20 Jahren mal zurückschauen und jemandem ganz kurz Ihr persönliches Fazit übermitteln würden über diese Zeit, über diese Ereignisse, könnten Sie das? Wie würde das ausfallen?

Ich denke, es ist zunächst mal eine phantastische Erfahrung. Wir haben das Glück gehabt eine Erfahrung zu machen, die man innerhalb von 100 Jahren vielleicht einmal macht. So ein Wechsel, so eine Revolution, so eine revolutionäre Veränderung mitzumachen, direkt da drin zu sein, sie mitzuerleben, das ist etwas ganz unerhört Wichtiges. Es ist als solches eine Erfahrung, die einem erzählt werden muss oder die auch ihr Recht in sich hat. Das ist das Eine. Das Zweite könnte man mit dem Stichwort der Gewaltlosigkeit sagen. Wir haben diese Gewaltlosigkeit, das hat eben eine Vorgeschichte, vorher gelernt. Wir haben sie im Herbst 1989 erlebt und wir mussten nachher gewissermaßen wieder lernen und konnten dann begreifen, dass sie eigentlich auch das Prinzip der Demokratie ist. Demokratie ist die Lösung von Konflikten ohne Gewalt. Das ist Demokratie. Streit um den richtigen Weg ohne Gewaltmittel. Insofern ist diese Revolution auch erst dann angekommen, wenn wir das gut können und das können wir immer noch nicht gut. Dass wir das noch nicht gut können, das hängt für mich auch ein bisschen damit zusammen, dass wir den Prozess zu schnell in einen Anpassungsprozess verändert haben. Die Kraft der Neugestaltung und auch das Ringen um die neue Ordnung ist zu früh in die Anpassung an ein anderes System übergegangen und dabei haben wir nicht gelernt, auch diese unsere kreativen Fähigkeiten in einen demokratischen Prozess zu kreieren. Wir sind zu früh, viel zu früh in eine Parteiendemokratie übergegangen, weil da zu früh Machtspiele eine Rolle spielten und nicht die Frage: „Was ist jetzt richtig für uns?“ Aus dieser Erfahrung rührt ein bisschen unser Demokratiedefizit und wir lernen hoffentlich noch irgendwann, dass Konfliktfähigkeit nötig ist. Konfliktfähigkeit, als eine demokratische Tugend, ist nämlich die verinnerlichte Gewaltfreiheit. Dabei müssen wir auch lernen, dass wir nicht auf Biegen und Brechen unsere Meinung durchsetzen. Das ist nämlich die Parteiendemokratie, die immer nur „Ja“ und „Nein“ kennt, die den anderen diskreditieren muss. Diese Art ist für uns im Osten ganz schädlich, fand ich. Mich ärgert es, wenn ich hier in Dresden heute sehe, dass sie nicht in der Lage sind, nehmen Sie klassisch die Waldschlösschenbrücke, miteinander um eine gute Lösung zu ringen. Und das, denke ich, ist eigentlich die Demokratie. Erst wenn wir das gelernt haben, haben wir wirklich gelernt. Dann sind wir wirklich am Ende der friedlichen Revolution angelangt.