Wolfgang Berghofer

Kurzbiografie

Wolfgang Berghofer war 1989 Dresdens Oberbürgermeister. Geboren 25. Februar 1943 in Bautzen. Gelernter Maschinenbauer. FDJ Funktionär (ab 1957) und SED Politiker (ab 1964). Bürgermeister in Dresden ab 1986. Am Abend des 8. Oktober fand im Dresdner Rathaus ein Gespräch zwischen ihm, Superintendent Ziemer, Landesbischof Hempel und Oberlandeskirchenrat Fritz statt, um gewaltfreie Lösungen für die Unruhen auf der Straße zu erörtern.

Berghofer lebt heute in Berlin und ist seit 2004 Vorsitzender des Vorstandes des BVUK (Betriebliche Versorgungswerke für Unternehmen und Kommunen e.V.) Verbands. Wir führen das Interview im Frühherbst 2009. Fast 20 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR. Das Interview mit Wolfgang Berghofer führt Thomas Eichberg.

Wolfgang Berghofer, geb. 1943

Interview

Wie haben Sie den Sommer 1989 in Erinnerung? In welchem Umfeld befanden Sie sich? Worüber haben Sie gesprochen? Wie wurde kommuniziert? Woran können Sie sich aus dieser Zeit noch erinnern?

Natürlich nur an einzelne Mosaiksteine, aber an das Gefühl. Ab Mitte ’88 entwickelte sich in meinen Gesprächskreisen der Dresdner Intelligenz, mit Funktionären des Staates, der Wirtschaft meiner Generation, der Künstler und in der Familie eine Debatte, die lautete: „Wir stehen vor Veränderungen, so kann das nicht weiter gehen.“ Man spürte im wirtschaftlichen Bereich, selbst in großen Unternehmen wie Robotron, die Wirtschaftskraft der DDR war am Ende. Wichtige Akkumulationsbedingungen wurden nicht mehr erfüllt, wir konsumierten mehr, als dass wir in die Zukunft von moderner Produktion investierten. Für mich als Oberbürgermeister war das natürlich besonders dramatisch sichtbar, die Stadt viel schneller ein, als aufgebaut wurde. Wir hatten zwar ein großes, umfangreiches Wohnungsbauprogramm, das im Sommer ’89 nach wie vor im Mittelpunkt der Politik stand, aber wir machten ja nichts, um die historisch gewachsene Substanz der Stadt zu erhalten. Die ganzen Stadtviertel, zum Beispiel die Dresdner Neustadt, waren auf dem Weg, Ruinen zu werden. Hätte es die Wende, bzw. die friedliche Revolution nicht gegeben, dann wären das heute, in Städten wie Berlin Ost, Leipzig und Dresden, Ruinen. Das war das Bestimmende, das seinen Ausdruck fand in zigtausenden Ausreiseanträgen, auf meinem Schreibtisch zu dieser Zeit waren es etwa 25.000. Darunter die Elite der Stadt, fast alle Augenärzte, wichtige Wirtschaftskader, also so, dass die personelle Infrastruktur langsam am zusammenbrechen war. Auf der anderen Seite, das waren eben wir, gab es unter Führung der SED, den Erfindern der virtuellen Welt, eine Darstellung der Erfolge, eine Beschreibung der Gesellschaft, die auf den 40. Jahrestag hin zielte, mit immer dümmeren und immer grelleren Erfolgen untersetzt, die in Wirklichkeit nicht da waren. Von denen, die das zu verantworten hatten, man kann schon mittlerweile sagen, sie seien „Schizophrenen“ und „krankhaft“, weil am Ende glaubten die ja daran,  was da passierte. Dieser Widerspruch zwischen Realität und Hoffnung und dem Gemälde der SED, der bestimmte das Denken, das Fühlen und das Handeln im Sommer ’89. Mit dem Blick auf den 40. Jahrestag – tausende Witze machen die Runde, Aggressivität in der Auseinandersetzung nahm zu, auch innerhalb der SED in den nicht hauptamtlichen Strukturen. Unter den normalen Mitgliedern wuchs Unsicherheit und die Erkenntnis, irgendwas muss passieren. Damals noch für viele in der Hoffnung, wir könnten etwas ändern und etwas retten. Umfangreiche wirtschaftliche Information über den tatsächlichen Zustand der Gesamtwirtschaft waren auch mir nicht zugänglich, man kannte immer nur bestimmte Teile. Dieses Bild der DDR, als 9. oder 10. in der Weltwirtschaft hatte natürlich Wirkung entfaltet und damit die Hoffnung, wenn wir die Alten beiseite schieben und selber die Führung übernehmen, dann könnte man doch etwas besser machen. Das zerstieb natürlich dann ganz schnell am Ende dieses Prozesses Ende ’89, als man genauere Zahlen und Zusammenhänge erkennt und sagen muss, der Sozialismus ist wirtschaftlich, politisch und kulturell am Ende. Die Diskussion gab es mit meiner Frau und laut ausgesprochen mit vielen Leuten, die nicht in der SED waren – da werden sie bestimmt noch Dresdner treffen, vor allen Dingen im Handwerkerbereich – denen sagte ich: „Seid doch noch mal etwas geduldig, dieses Jahr und nächstes Jahr wird Veränderungen bringen.“ Wie die aussahen oder wie die aussehen könnten, das war mir unklar, aber es musste sich was tun. Mit diesem „Es musste sich was tun“ waren im Grunde alle Gespräche mit allen ringsherum definiert. Nicht mit den hauptamtlichen Funktionären der SED über mir, auf der Ebene der Stadtleitung, auf der Ebene der Bezirksleitung. Aus welchem Motiv auch immer, Hans Modrow hat mir Spielräume gelassen, die meine Amtskollegen in Karl-Marx-Stadt oder Leipzig nicht hatten. Aber eine offene Diskussion mit ihm über den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft, hat auch nie stattgefunden. Meine unmittelbaren Vorgesetzten in der Stadtleitung der SED gleich gar nicht. Da war die Linie der Partei von oben vorgegeben, die Bibel, das war die scheinbare Realität.

Weil man es nicht besser wusste oder weil man es nicht besser wissen wollte?

Weil man es nicht besser wissen wollte und Angst hatte. Sie mussten ja immer davon ausgehen, es sitzen zwei am Tisch, aber vier hören mit. Das war ja verinnerlicht für uns, wir wussten das ja. Das war sicher ein Faktor, der offene Gespräche verhinderte. Dann gab es natürlich diesen Kit innerhalb der Partei, der sich Parteidisziplin nannte und an den sich doch große Teile des hauptamtlichen Parteiapparates gehalten haben. Es ist natürlich ein Unterschied, ob ich mit der Praxis des Lebens direkt verbunden bin wie ein Wirtschaftskapitän oder wie ein Kommunalpolitiker, oder ob ich fern der Realität am Schreibtisch auf der Basis von ideologischen Betrachtungen die Welt definiere.

Sie sagten: „zwei saßen am Tisch“. Da gab es diese berühmten Kassettenrekorder mit den Mikrofonen, war Ihnen das bewusst? Dass das permanent abgehört wird?

Ja. Es entwickelte sich ja aufgrund dieser Situation und der Einschätzung ein gewisser Zynismus in den Funktionärskreisen im Staat und in der Wirtschaft. Wenn ich ein Telefonat führte mit besser bekannten Leuten, dann habe ich immer gesagt: „Gehen sie mal aus der Leitung, hier unterhalten sich zwei Stalinisten“, was immer zu lautem Jubel auf der anderen Seite führte. Oder: „Ich wiederhole nochmal für die, die nicht so schnell schreiben können.“ Das ging etwa zwei Jahre und dann hat mir mal der Chef der Bezirksverwaltung, Generalmajor Böhm, gesagt, ich möge doch solchen Zynismus unterlassen, es könnte durchaus schmerzhafte Folgen haben. Damit war es dann ganz offiziell bestätigt.

Sie hatten also auch gar keinen Einfluss darauf, dass die Kassettenrekorder zum Beispiel abgeschaltet werden.

Das war uns nicht zugänglich. Man wusste, der Freund hört mit. Das hatten wir auch in anderen Bereichen. Als ich in der Sowjetunion zu Gast war und wir politische Gespräche führten, da wurde das Radio angemacht und der Wasserhahn aufgedreht.

Kommen wir zum Sommer ’89 zurück. Wie haben Sie die Information bekommen, dass diese Züge aus Prag über den Dresdner Hauptbahnhof fahren sollten? Wie lange vorher wussten Sie das, dass die Züge über den Bahnhof fahren?

Dass der Oberbürgermeister einer Halbe-Millionen-Stadt mit allen Möglichkeiten der Information und der Macht ausgestattet ist, das ist natürlich eine Illusion. Das kann man nicht vergleichen mit einem Kommunalpolitiker der heutigen Zeit. Ich war eingebunden in die städtische Parteistruktur und alle wichtigen Informationen, von denen die Partei meinte, dass ich sie zu erfahren hätte – und da der Grundsatz galt: Wissen ist Macht – erfuhr ich immer nur das, was für die Ausführung meiner Aufgaben notwendig war, niemals offiziell das Ganze. Da ich aber einen großen Teil meines jüngeren Lebens in Berlin zugebracht hatte, kannte ich natürlich viele Informationsquellen und habe mir dann auf meine Weise weitergehende Informationen verschafft. Oktober ’89 in Dresden: Ich wusste über die Sonderzüge überhaupt nichts. Da waren sicher viele, die aus der Republik nach Dresden anreisten, weil sie die westlichen Radio- und Fernsehstationen verfolgten, besser informiert als ich. Meine Hauptaufgabe zu dieser Zeit bestand ja darin, den 40. Jahrestag, die Feier, das große Volksfest, in Dresden vorzubereiten. Das sollte etwas Exorbitantes, Herausgehobenes werden, um 40 Jahre, also ein besonderer Jahrestag, zu dokumentieren und die Probleme möglichst zu kaschieren. Als diese Auseinandersetzung am Bahnhof losging, erst dann habe ich das zur Kenntnis genommen. Da teilte mir Hans Modrow mit, ich möge mich doch bitte aus diesen Prozessen heraushalten, die Führung übernehme er in der Struktur der Bezirkseinsatzleitung – was er heute nicht mehr wissen will, aus juristischen Gründen – und ich möge mich doch völlig auf die Vorbereitung des 40. Jahrestages konzentrieren. Eigentlich ist das ein Irrsinn der Geschichte: Der Stadtvater, auf dessen Territorium eine herausragende, wie auch immer zu bewertende Aktivität stattfindet, die das Gefüge der Gesellschaft ins Wanken bringt, wird aus diesem Prozess heraus gehalten. Die Informationen, die ich dann erhalte, sind alle sehr spärlich: Keine Zusammenhänge, keine Hintergründe, keine Erklärung, kein Warum. Das Politbüro hat diese Entscheidung getroffen, die Sonderzüge durch die DDR fahren zu lassen, um die Souveränität der DDR – völliger Schwachsinn – nach außen zu dokumentieren. So mussten die DDR-Territorium befahren, von hier aus das Land verlassen und das noch über Dresden. Das wahr natürlich eine politische Fehleinschätzung und eine völlig falsche Entscheidung, die wiederspiegelt, wie die da oben die Situation beurteilten. Dann kommt es ja zu den bekannten Aktionen, Unruhen, die zunächst als Rowdytum, noch nicht einmal als Konterrevolution, beschrieben werden und es entstehen ja enorme Schäden am Bahnhof, an der Prager Straße. Daraus leitete sich nun wieder meine nächste Aufgabe ab: Nicht etwa zur Befriedung beizutragen, sondern die Schäden schnellstmöglichst beseitigen zu lassen, damit am 40. Jahrestag die Spuren nicht mehr sichtbar werden, die ja die Geburtstagsfeier konterkarierten. Das mit einem Zustand des städtischen Handwerks und der Bauindustrie, die ja nicht mal in der Lage war, die Dächer dicht zu machen, durch die es durch­regnete. Das war eine echte Herausforderung. Dann entwickelte sich das ja, also die Dimension der Auseinandersetzungen nimmt zu, die Unruhe nimmt zu und das merkt man in den unterschiedlichen Machtstrukturen. Im Staat, in der Partei und in den Sicherheitsorganen gibt es differenzierte Einschätzungen, unterschiedliche Auffassungen und dann bekommt man von da ein Stück mehr mit und von dort ein Stück mehr mit. Das Westfernsehen konnte man nicht gucken, das war ja technisch etwas schwierig. Westpresse war mir offiziell nicht zugänglich, die habe ich mir auf andere Weise beschafft, aber eben immer mit zeitlichen Verschiebungen, so dass ich nie aktuell informiert war.

Wenige Tage bevor die Züge durch den Dresdner Hauptbahnhof fuhren, wurden Kameras im Bahnhof montiert. Das Gleiche gilt für das Hotel Newa 1. Das ist für viele ein Zeichen dafür, dass es doch in einigen Kreisen schon einige Tage vorher bekannt war, möglicherweise auch geplant, um an diesen Stellen Auseinandersetzungen herbeizuführen, die man dann dokumentieren wollte, um gezielt einen Grund zu haben, um beispielsweise Rädelsführer zu verhaften. Sind Ihnen aus dieser Zeit ähnliche Fakten bekannt geworden oder vielleicht im Nachhinein?

Da muss man spekulieren, belegen kann man das ja nur schwierig. Das höre ich das erste Mal. Ich kann mir vorstellen, dass man, Tage bevor in Prag durch Herr Genscher verkündet wurde: „Die Ausreise ist genehmigt“, in Berlin klare Weisungen erteilt. Insofern war auch anzunehmen, dass die Sicherheitsorgane und das Ministerium für Staatssicherheit dann gesagt hat: „Wir sind auf alles vorbereitet.“ Die haben sowieso jedem und allem misstraut. Das weiß ich nicht, das hat mir auch im Nachhinein niemand erzählt. Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, das war dass im Zuge der Auseinandersetzungen mir die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit ein Video übergab, das wichtige Stationen der Auseinandersetzung im und vor dem Bahnhof dokumentiert. Wenn man sich das aufmerksam anguckt, dann sieht man, dass junge, gut trainierte, sehr zielstrebig handelnde Personen, eine Gruppe von zehn-15 Personen, provozierende Aktionen innerhalb des Bahnhofs entwickeln, indem sie etwa den Fahrkartenschalter wegreißen und in die Masse werfen. Da könnte man daraus schließen, dass sich so etwas nicht spontan entwickelt, dass die wussten, wie das geht und was da zu machen ist, da könnte man sagen, das war gezielte Provokation. Aber es ist Spekulation, ich kann das nicht belegen. Viel später dann, aber immer wieder mit Rückblick auf dieses Video, erschien in meinen Amtsräumen ein Oberst des Ministeriums für Staatssicherheit, der in der Bezirksverwaltung Dresden beschäftigt war, aber auch von Berlin kam, der mich aufforderte, unbedingt mit Superintendent Ziemer zu reden, mit dem Hinweis auf dieses Video, das ich ihm übergeben und vorspielen sollte. Da war wieder der ganze Schwachsinn deutlich: Ich sollte ihm ein Video vorspielen und wir hatten natürlich kein Videoabspielgerät. Ich sollte das mit dem Hinweis zeigen, wie unkontrollierte Massen agieren, um zu verhindern, dass die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit besetzt wird. Das auch mit dem Hinweis, ich möge durchblicken lassen, dass man Ziemer helfen würde Landesbischof zu werden. Das war dann schon starker Tobak in einer Zeit, wo klar war: Wir sind am Ende. Ich habe dem lieben Oberst gesagt: „Wenn du das für zweckmäßig erachtest, dann rede doch mit ihm und mit denen, die die Absicht haben, eure Verwaltung zu besetzen. Mit mir musst du da nicht mehr rechnen.“ Daraus könnte man Rückschlüsse ziehen, historisch belastbare Belege dafür sind nicht vorhanden.

Sie kannten aber diesen Oberst und waren auch persönlich miteinander bekannt? Weil Sie duzten sich ja.

Nein. Wir duzen uns ja alle, das war ja üblich in der Partei.

Hatte das Ministerium für Staatssicherheit auch einen Einfluss darauf, dass Sie sich vor oder am 8. Oktober mit Christof Ziemer getroffen haben? Dass Sie im Rathaus auf Ziemer gewartet haben? Können Sie das reflektieren und sagen, wie es dazu kam?

Also dazu muss ich mal mein Verhältnis zur Staatssicherheit kurz beschreiben. Das beginnt ja Jahrzehnte früher, sozusagen. Als treuer Bürger meines Staates war natürlich die Organisation, die sich für die Sicherheit dieses Staates verantwortlich fühlte, auch zu akzeptieren. Was da alles dazu gehörte, das kann ein junger Mann nicht beurteilen. Ich habe Anfang der 70er Jahre, 1971, in einem Sommerlager mit westdeutschen Kommunisten in Wilhelmstal bei Eisenach, aufgefordert von Offizieren der Staatssicherheit unterschrieben, dass ich bereit bin, das Ministerium zu unterstützen, zu informieren, wenn die DDR in Gefahr gerät und dass ich mit niemandem darüber rede. Den Begriff Informeller Mitarbeiter2, den kannte ich auch erst nach dem Untergang der DDR. Das war für mich selbstverständlich, da habe ich auch nichts Anrüchiges daran erkannt. Dann war fast ein ganzes Jahr Ruhe. Als die Genossen dann wiederkamen und sagten: „Schreib mal bitte etwas über deinen Genossen und Kollegen an deinem Schreibtisch nieder“, da habe ich das strikt abgelehnt. Daraus entwickelte sich eine mehrjährige, heftige politische Auseinandersetzung. Nicht, weil ich das Ministerium für Staatssicherheit diffamieren wollte,  sondern weil für mich der Grundsatz galt: die Partei hat die Führung. Woraus man schließen kann: Wenn hier einer Berichte schreibt, dann seid ihr das und nicht ich.

Das hatte viele negative Konsequenzen für meine politische Karriere, die habe ich damals nicht erkannt. Das wurde immer kaschiert, wurde weggelobt, das kann man aber heute in meiner Akte nachvollziehen. Ich konnte mich nicht immer dieser Informationspflicht entziehen, habe aber immer dafür gesorgt, dass nur solche Dinge den Besitzer wechselten, die denen ohnehin bekannt waren. Irgendwann haben sie das natürlich durchschaut, da gab es eine richtig brutale Auseinandersetzung: „Berghofer, du bist revolutionär nicht wachsam, du diffamierst uns, du belügst uns.“ Im Ergebnis wurde 1980 das inoffizielle Arbeitsverhältnis, direkt wurde das ja nicht gesagt, aus deren Sicht beendet, die Akte wurde geschlossen und archiviert. Der letzte Satz lautet: „Mit Berghofer ist nur noch in seinen offiziellen Funktionen zusammenzuarbeiten.“ Da war ich noch Abteilungsleiter im Zentralrat der FDJ. Das erscheint dann wieder vorbereitet: Du gehst nach Dresden und wirst Oberbürgermeister. Dann holte das Politbüro, bzw. die Kaderabteilung des Zentralkomitees natürlich auch vom Ministerium für Staatssicherheit, die entsprechenden Informationen ein und da wird aufmerksam gemacht. Der Hauptabteilungsleiter 20, Generalleutnant Kienberg 3, schreibt dann eigenhändig mit seiner fürchterlichen Schrift und tausend Fehlern auf einer Seite, dass das nicht zu empfehlen ist. Das entscheiden dann Krenz 4 und Leute, die mich aus der Arbeit kannten und die sagten: „Nein, das kann nicht sein. Der macht das trotzdem.“ Das aber ist natürlich dann der Dresdner Stasi bekannt. Das führt dazu, ich kann das jetzt nur so wiedergeben, wie ich es empfunden und gesehen habe, die Hintergründe kenne ich nur bedingt, dass der eigentliche Partner für den Oberbürgermeister, der Chef der Kreisdienststelle Dresden, mit mir überhaupt nicht zusammengearbeitet hat, sondern dass der Chef der Bezirksverwaltung, Generalmajor Horst Böhm, von vornherein und offiziell gesagt hat: „Das mache ich.“  Wir haben uns alle zwei bis drei Wochen getroffen, mal bei mir im Rathaus, mal bei ihm, ganz offiziell und haben die Lage beleuchtet. Der war sehr realistisch in seinen Einschätzungen, der sah, was sich da zusammenbraut. Er sah auch die Unfähigkeit der Parteistrukturen, damit umzugehen. Andererseits war er ein ehrgeiziger General, der am liebsten Minister geworden wäre, also sehr ambivalent in seinen Entscheidungen. Ich habe ab 1986 in Dresden im internen Kreis sozusagen gotteslästerliche, parteikritisierende Reden geführt und sie werden in meiner Stasiakte dazu nicht ein Wort finden. Das ist ungewöhnlich, das ging nur, weil irgendjemand, zum Beispiel der Chef der Bezirksverwaltung, das verhindert hat. Warum, das weiß ich nicht, da kann ich nur spekulieren. Möglicherweise sah man in mir einen aus der nächsten Generation an die Macht kommen und hat sich damit die Tür offen gelassen, damit etwas zu einem eigenen Vorteil zu verändern. Da spekuliere ich aber, das weiß ich nicht. Ich muss sagen, während in meiner Berliner Zeit das Verhältnis zur Staatssicherheit ausgesprochen negativ war, bösartig an einigen Stellen, die sind ja brutal gewesen, die haben mich in der Nacht aus der Wohnung geholt, um mit mir Grundsatzgespräche zu führen, so hat das in der Dresdner Zeit nie stattgefunden. Im Gegenteil. Wenn ich da Probleme hatte, dann haben die auch mal an den Strukturen der Partei vorbei Informationen weitergegeben, damit ich reagieren kann.

Das ist ja das Problem der heutigen Geschichtsdarstellung. Wenn Sie daran etwas ändern könnten, dann wäre das sehr hilfreich. Heute ist ja das Bild in der Geschichtsbetrachtung übrig geblieben, die Staatssicherheit ist der Schuldige an allem Übel in der DDR, was natürlich überhaupt nicht der Realität entspricht. Sie war nicht nur verbal Schild und Schwert der Partei, sie stand unter der Kontrolle und dem Befehl der Partei. Es hat kein Stasi-General irgendeine grundsätzliche Entscheidung getroffen, ohne dass die jeweilige Leitung der Partei dazu gesagt hat: „Ja“ oder „Nein“. Das ist einfach gelogen, das werden Sie auch im nächsten Gespräch anders herum hören: „Du kannst nicht 17 Jahre Bezirkssekretär der Bezirksleitung sein und als Widerstandskämpfer gegen Mielke 5 oder Böhm aufgetreten sein. Das ist dummes Zeug, das ist charakterlose Spinnerei.“ Aber das hat die Gesellschaft gerne angenommen. Eine Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen innerhalb der SED hat eigentlich, bis auf die Schüsse an der Grenze und die wenigen Wahlfälschungsprozesse, nie stattgefunden. Nennen Sie mir mal die wichtigsten Machtinhaber innerhalb der SED, da können Sie mir keinen mehr sagen, außer den Politbüromitgliedern. Das ist die Wahrheit. Das war gewünscht. Um die SED oder ihre Nachfolgerin zu retten, brauchte man Schuldige. Aus der Sicht der SED konnte das natürlich nicht Honecker sein, denn das ist die Partei. Das konnte Schalck-Golodkowski, da war sich das Volk ja schnell einig und das konnte die Staatssicherheit sein. Das funktioniert bis heute.

Dieses Verhältnis bestimmte meine Tätigkeiten auch in Dresden. Keiner von denen hat sich erlaubt, bis auf diese Geschichte mit dem Video und Ziemer, mir irgendwelche illegalen Aufträge mit irgendwelchen politischen Zielstellungen zu erteilen. Es hat mir keiner den Auftrag erteilt, mit irgendwem nun irgendwelche Gespräche zu führen, überhaupt keine Frage. Ich habe in der Regel über das, was ich an Gesprächen geführt habe, auch keine Information weiter gegeben, zumindest nicht schriftlich und auch ohne Namen. Das lässt sich ja alles nachvollziehen. Zu Ziemer entwickelte sich von Anfang an ein sehr kritisches, der war mutig, der war offen, aber auch vertrauensvolles Verhältnis. Er weihte mich ein in Fragen der ökumenischen Entwicklung innerhalb  der Kirchen. Er erklärte mir, warum dieses den alten Fürstentümern nahe kommende Eingabensystem der DDR vorbei an der Realität funktionierte. Also: Es wendet sich der Bürger x mit einem Problem an den Fürsten y, nach dem Motto, wenn du mir das nicht regelst, dann gehe ich nicht zur Wahl. Dann kriegt er das geregelt, obwohl 30.000 andere das gleiche Problem haben und denen wird nicht geholfen. Ziemer hat mich auch mit seinen Kollegen bekannt gemacht, Ende der 80er Jahre, in der entscheidenden Zeit der Veränderungen. Wir beide hatten ein distanziertes, aber vertrauensvolles Verhältnis entwickelt, so sehe ich das. Ohne Ziemer hätte ich die Rolle, die ich dann gespielt habe, nicht gespielt und nicht spielen können. Ziemer war nicht überall beliebt, nicht in seinen Kirchenkreisen, natürlich auch nicht beim Staat und bei der Staatssicherheit durch seine Art, offen zu sein und sich nicht zu beugen. Der war unbestechlich und damit natürlich nicht zu führen. Es gibt einen einzigen Punkt, wo wir zusammen im Gästehaus des Rates der Stadt sitzen, das war relativ kurzfristig in unseren Besitz übergegangen, Blasewitzer Straße, heut sitzt da die Körber-Stiftung drin und vor uns saß die Staatssicherheit drin, das wusste ich nicht, davor saß mal die CDU Göttingen drin, dort führte ich mit Ziemer ein sehr grundsätzliches Gespräch. Da sagte er mir: „Herr Berghofer, die Wahlen sind gefälscht“ und ich habe nicht geantwortet. Schwindeln wollte ich nicht und „ja“ sagen, das durfte ich nicht. „Dafür werden Sie eines Tages bitter bezahlen.“ In diesem Gespräch hat Ziemer eine Reihe von Problemen sichtbar gemacht, von denen ich annahm, dass es eigentlich in unserer Macht stünde, diese zu verändern. Deshalb habe ich diese Punkte aufgeschrieben, da gibt es ein zweiseitiges Protokoll und an alle, Partei, Rat des Bezirkes, Polizei, Ministerium für Staatssicherheit veschickt, nach dem Motto, dass man daraus ja konstruktiv ja etwas machen könnte. Da hat uns dann aber im Grunde die Zeit überrollt. Da ist Ziemer nicht negativ dargestellt, im Gegenteil, das schadete ihm nicht. Das hat man mir am Ende vorgeworfen: „Du kungelst mit der Stasi“, das stimmt nicht. Wenn man das liest, dann sieht man, dass es konstruktiv und gutartig gemeint war und das, was ich dort negativ hätte reinschreiben müssen, worüber wir geredet haben, das steht nicht drin. Insofern, als ich dann vor die Entscheidung gestellt wurde, mit Demonstranten ins Gespräch zu gehen, war Ziemer der entscheidende Mann. Da wusste ich, wenn der das empfiehlt und wenn der das sagt, dann ist das berechenbar, dann könnte man das machen. Weil es ist ja auch klar und das will ja heute auch keiner mehr hören: Wenn das nach hinten losgegangen wäre, dann hätte ich in Bautzen gesessen, nicht Ziemer. Das war ja gegen die Direktive der Partei- und Staatsführung. Auch dann im Fortlauf der Dinge, die nächsten Gespräche mit der Gruppe der 20 bis hin zum Einbau der Gruppen in das Stadtparlament, ist Ziemer praktisch der Lotse und die Kirche das Dach, unter dem und mit dem man das alles steuern konnte. Irgendwann reißt der Kontakt auch ab, Ziemer ist zutiefst frustriert, ich weiß nicht warum und zieht sich völlig zurück. Ich sage heute immer: „Ihr Dresdner, wenn ihr jemandem ein Denkmal bauen wolltet, dann macht das für diesen Mann.“ Ich war neulich bei Filmaufnahmen mit dem ZDF in Dresden, da hat die Regisseurin einen Tag versucht im Rathaus den zu finden, der sagen kann, wo das erste Gespräch mit der Gruppe der 20 stattgefunden hat. Das wusste niemand. Mal abgesehen davon, dass nun keine Tafel an der Wand hängt, man kann ja meinen Namen weglassen, aber die 20, die sollte man doch in Erinnerung behalten.

Es gibt doch die Tafel auf der Prager Straße.

Ja, aber nicht im Rathaus. Das waren doch mutige Leute, die wussten ja auch nicht, wie es ausgeht.

Lassen Sie uns nochmal darauf zurückkommen: Wie kam es zu dem Treffen? Wie kam am 8. Oktober Ziemer zu Ihnen? Wie kamen Sie ins Rathaus und wer hatte die Idee?

Also erstens, die Auseinandersetzungen innerhalb der Stadt, nicht mehr begrenzt auf die Prager Straße, gingen in der Stadt weiter. Es gab am 7. Oktober die übliche Festveranstaltung im Rathaus. Ich kann mich erinnern, der damalige Intendant der Philharmonie, Professor Jörg Weigle, hielt dazu eine damals hochbeachtete, kritische, aber konstruktive Rede. Das war vorher unvorstellbar. Leider ist dieses Manuskript verschwunden. Er hat es nicht mehr und man findet es auch in den Stadtarchiven nicht. Das war ein inhaltlicher Wendepunkt, vor allem gegenüber den gewählten Parlamentariern. In Anspielung auf Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ An diesem Wochenende findet auch eine Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der Bezirksverwaltung der SED im Rathaus statt, das hat es bis dahin, also solange ich da war, nie gegeben. Festveranstaltungen der Partei waren natürlich in den Räumen der Partei. Im Festsaal, ich kann mich noch sehr genau erinnern, ich stand ziemlich weit hinten am letzten Fenster, Modrow stand vorne am Mikrofon mit den üblichen Floskeln: „40 Jahre Arbeiter- und Bauernmacht, weiter wie bisher“, es war so gegen 19 Uhr und dunkel und ich schiebe irgendeiner Eingebung folgend diese grünen Samtvorhänge beiseite und sehe draußen, auf der Seite, wo die goldene Pforte ist, wo die Trümmerfrau steht, eine schweigende Masse von Menschen, 15.000-20.000 langsam, lautlos vorbeiziehen. Dann stieß ich die um mich herum Stehenden, vor allem die internationalen Gäste, französische Kommunisten etc., an, machte sie auf dieses Bild aufmerksam und sagte dann zu einem Bekannten: „Guck mal, das ist das Ende. Wir feiern etwas, das das Volk offensichtlich ablehnt.“ Von da an war mir klar, das sind jetzt keine Randalen mehr von irgendwelchen unzufriedenen Leuten, das ist sehr grundsätzlich. In wenigen Stunden änderte sich auch mein Bild zur Lage. Warum fand, das spekuliere ich heute, das da am Rathaus statt? Gleichzeitig lief die Premiere in der Semperoper von „Fidelio“. Mein Freund Professor Gerd Schönfelder, der damalige Intendant, hatte eine Inszenierung zugelassen, wo unschwer zu erkennen war – Stacheldraht, Wachtürme – es handelte sich nicht um die historische  Fidelio-Inszenierung, es handelt sich um die DDR. Normalerweise wären ja alle Amtsträger zu dieser Premiere gegangen. Um das zu verhindern, das weiß ich aber nicht genau, hat Modrow die Festveranstaltungen so gelegt, dass alle da hin gehen mussten. Wenn da alle hingegangen wären, hätte man ja Buh-Rufe hören müssen oder die in Berlin hätten gesagt, jetzt putscht schon die gesamte Parteiführung in Dresden. So empfinde ich das heute. Meine Frau hat diese Inszenierung, die Premiere miterlebt – tief beeindruckt. Es fand dann am 8. Oktober eine zweite Aufführung statt, sonntags, zu der wir wieder nicht eingeladen waren, aber Modrow. Wichtig: Modrow war zum Zeitpunkt der entscheidenden Auseinandersetzungen bei „Fideleo“ in der Semperoper. Handys hatten wir nicht, also telefonisch unerreichbar. Berghofer saß im Rathaus, den ganzen Nachmittag und überlegte: Was müsste man denn tun? Wenn der erste Schuss fällt, ist ja alles vorbei. Wenn der erste sowjetische Panzer rollt, ist 17. Juni. Was könnte man denn tun? Ich habe dann mit Ardenne telefoniert, der war bereit, Kontakt zu meinem Amtskollegen in Hamburg herzustellen, falls die Lage das erfordert. Es war zwar eine Möglichkeit, Informationen weiterzugeben, aber natürlich auch keine Lösung. Einen offenen Brief schreiben?  Also ich hatte keine Antwort, ich wusste nicht, was zu tun war. Ich hatte nur eine einzige große Angst: Gewalt bricht aus und dann läuft es aus dem Ruder. Meine Frau, die mich verabschiedet hatte, vormittags war das, so gegen 11 Uhr, ich wohnte ja in unmittelbarer Nähe auf dem Altmarkt, zu Fuß nur 150 Meter und ihr hatte ich gesagt: „Heute fallen Entscheidungen. Wenn ich heute zurückkomme, wenn ich überhaupt zurückkomme, dann ist die Lage und ich damit anders.“

So war es ja dann auch, obwohl ich das nicht wusste, wie sich das entwickeln würde. Gegen 21 Uhr meldete mein Stellvertreter Hans Jörke, das war der Verantwortliche für Inneres, so hieß das, unter anderem auch verantwortlich für die Zusammenarbeit mit kirchlichen Einrichtungen, der auch im Rathaus saß und Ausreiseanträge bearbeitete – es war ja festgelegt worden im Zusammenhang mit dem Bahnhof, dass alle ausreisen können, wenn sie es wollen – der teilte mir mit: „Herr Ziemer und ein Amtsrat bitten um ein Gespräch.“ Ich wollte eigentlich sagen: „Was will ich bereden?“ und dann schiebt er nach: „und der Landesbischof Hempel ist dabei.“, der ja nicht mein Gesprächspartner war. Von der Hierarchie war der Vorsitzender des Rates des Bezirkes der Gesprächspartner für einen  Bischof. Also die drei Herren kamen. Ich habe gesagt: „Gut, ich empfange sie.“ Blass, kreideweiß, also man sah Angst. Es entwickelte sich ein Gespräch, das können Sie in meinem Buch wortwörtlich lesen, sie können es in Hempels Erinnerungen lesen, sinngemäß mit folgendem Inhalt: Da draußen stehen sich Polizei und Demonstranten gegenüber und die Gefahr, dass das alles außer Kontrolle läuft, ist groß. Um das zu verhindern schlagen wir vor, dass sie am Morgen, also am Montag dem 9. Oktober, dann eine Gruppe zum Gespräch empfangen. Wenn das möglich wäre, dann gehen wir zurück und verkünden das und lösen damit die Demonstration auf. Also habe ich gesagt: „Das will ich nicht alleine entscheiden, denn das widerspricht den Direktiven, die ich habe.“ Die lauteten: Kein Kontakt mit irgendwelchen Oppositionellen, die dazu führen, dass wir die Opposition anerkennen. Ich bin dann an das sogenannte Rote Telefon gegangen, eine Direktverbindung, um Hans Modrow zu erreichen und man teilte mir mit: „Den kann man nicht erreichen, der sitzt in der Oper.“ So wollte ich mich dann natürlich auch nicht darstellen, so dass ich zurück bin und gesagt habe: „Meine Herren, ich bin bereit, ich empfange.“ – im Hintergrund hoffend, dass Modrow diese Entscheidung billigt. Es gab in der Geschichte der Zusammenarbeit auch einige Momente, wo ich solche Entscheidungen auf seinen Wunsch hin getroffen haben und als sie nach hinten losgingen, stand ich alleine im Regen. Das muss man bei Hans Modrow immer im Hinterkopf behalten. Ziemer sagte: „Dann schlage ich vor, wir formulieren jetzt mal einen Text, den wir dort verkünden.“, das haben wir auch schnell gemacht. „Können Sie mit dem Einsatzleiter Kontakt aufnehmen?“, das hat der Jörke gemacht, die Polizei unterstand mir ja nicht. Ich hatte denen keine Befehle zu erteilen, ich konnte ja nur an die Vernunft appellieren. Ich habe Ziemer meinen Dienstwagen gegeben und ein Megafon, damit sie überhaupt da hin kamen, obwohl das ja nur wenige hundert Meter waren. Dann zogen die sich in die Ecke zurück und schrieben. Ich unterhielt mich mit Hempel und er fragte: „Herr Berghofer, hat das Sinn, was wir hier machen?“ Ich war schon wütend innerlich, alleine gelassen, das Land im Aufruhr und alle, die Macht hatten, waren untergetaucht und ich sagte: „Lieber Herr Bischof, wenn der Druck auf der Straße nicht größer wird, wird sich in diesem Lande nichts ändern.“ Das war ja schon fast Hochverrat. Ich habe ihm gesagt: „Unser Verhältnis zur Sowjetunion ist nachhaltig gestört. Das, was wir von dort erwarten an ökonomischer Unterstützung, wird nicht mehr kommen, weil die Sowjets selber große Probleme haben. Wir sind auf uns selbst angewiesen und mit den Mitteln und Möglichkeiten die wir haben, ist das nicht zu realisieren.“ Eine ziemlich reale Einschätzung der Lage. Er war erschüttert, das hatte er aus meinem Munde nicht erwartet. Dann war die Aktion organisatorisch vorbereitet, dann gingen die Herren und dann hörte man durch die Fenster meines Dienstzimmers Ziemer mit dem Megafon reden.

Mitternacht, also nach der Feier, rief dann Hans Modrow bei mir an und sagte: „Ich hab deine Information zur Kenntnis genommen. Ich billige das, ich teile deine Auffassung. Komm morgen früh in die Bezirksleitung“, ich glaube um 6 Uhr, „da besprechen wir alles weitere.“ Also bin ich dann am 9. Oktober früh in die Bezirksleitung. Dort saßen fünf oder sechs Mitglieder des Sekretariats, also die Sekretäre der einzelnen Verhandlungsbereiche. Darunter war der zweite Sekretär der Bezirksleitung der SED Lothar Stammnitz, der Wirtschaftssekretär und die Kultursekretärin. Modrow sagte: „Also Berghofer hat gestern folgende Entscheidung getroffen. Ich billige diese Entscheidung. Wer jetzt dagegen ist, möge es sagen und gehen, weil das ist dann nicht mehr zu korrigieren.“ Es hatte niemand was dagegen. Klar, dazu waren die viel zu sehr obrigkeitsorientiert. Der erste Sekretär hat gesagt: „Ich billige das“, dann war das also gebilligt. Dann drückte mir Modrow eine zweiseitige Stellungnahme, die ich dort abzugeben hatte, in die Hand. Davon hab ich vielleicht ein Drittel verwendet, weil von da an war schon erkennbar: Wir benutzen dieses Gespräch, um die Leute von der Straße zu holen. Wir bauen eine Dialogkultur auf, die nicht zur Veränderung, sondern zur Stabilisierung, zur Beruhigung der Lage beiträgt. So muss man auch verstehen, dass es über diesen Fakt in der Geschichte nichts Bedeutsames gibt. In den Dokumenten der Staatssicherheit finden Sie kaum etwas, auch nicht in Berlin. Wollten die natürlich auch gar nicht. In den Dresdner Analen ist das auch relativ unterbewertet, es ist aber der Schnittpunkt, der Scheidepunkt bei den Fragen: Gewalt oder keine Gewalt? Siegt die Revolution  oder wird sie zusammengeschossen? Dann anderen Abends in Leipzig die friedlichen Großdemon­strationen, das ist schon eine Folge daraus in der Beurteilung von wichtigen Parteifunktionären, wie man das benutzen könnte. Ich hatte meiner Verantwortlichen Irma Foit, Sekretär des Rates, den Auftrag gegeben, das ordentlich vorzubereiten und gesagt: „Es wird ein Tonband offen hingestellt. Ich vereinbare mit Ziemer, dass zwei Kassetten oder Tonbänder mitgeschnitten werden – eins für die Gruppe, eins für mich, mit der gegenseitigen Versicherung, dass dieses Band nicht weitergegeben wird!“ Daran haben wir uns auch gehalten. Es ist leider verschollen. Ich weiß nicht, wer es beiseite geschafft hat. Sicher diejenigen, die kein Interesse daran hatten die eigentlichen Helden zu feiern, nach vier Wochen waren das ja andere. Es ist Spekulation. Noch während dieser Veranstaltung waren wir beide Lernende. Nicht alle Ratsmitglieder waren bereit, in dieses Gespräch mitzugehen. Axel Viehweger war bereit, der LDPD Stadtrat für Energie. Es war ja alles nicht ohne. Ich habe dort einen Standpunkt vorgetragen unter dem Motto: Sozialismus steht nicht zur Disposition, ansonsten können wir über alles reden. Das hätte ich alles nicht sagen dürfen. Die andere Seite war ja nicht organisiert, es gab unterschiedliche Meinungen, alles war noch ziellos, noch suchend und ängstlich – kreidebleiche Gesichter, logisch: Was passiert? Wie geht das aus?

Ziemer war praktisch wieder wichtigster Moderator. Kaplan Richter, den ich dann bei dieser Gelegenheit kennenlernte, dessen Rolle auf der Prager Straße kann ich nicht beschreiben. Da müssen Sie jetzt anderen Leuten zuhören. Manches ist auch übertrieben, vor allem die Rolle dieses jungen Polizisten, der ihn da immer begleitet. Der war nicht der Einsatzleiter, der konnte auch nichts entscheiden. Der hat sich richtig verhalten, aber die Entscheidungen dazu haben andere getroffen. Noch in dem Gespräch am 9. Oktober erhebt sich Frank Neubert, also einer aus der Gruppe der 20 und sagt: „Ich werde jetzt nach Leipzig fahren und den Kollegen dort erklären, was wir hier veranstaltet haben.“ Ich habe nach dem Gespräch meinen Amtskollegen in Leipzig angerufen, Dr. Bernd Seidel und gesagt: „Lieber Bernd, ich empfehle dir dringend: Mach das genauso, ja?“, worauf er sagte: „Du, mein erster Sekretär ist von anderem Schrot und Korn, das wird der mir nicht gestatten, da brauch ich gar nicht anzurufen.“ Also fiel er aufgrund der anderen Verhältnisse zwischen Oberbürgermeister und 1. Sekretär aus.

Noch zu ein paar kleinen Details: War Ihnen zum damaligen Zeitpunkt bewusst, dass der Herr Viehweger inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war und die Protokolle unmittelbar nach diesen Gesprächen weiterreichte?

Nein, im Gegenteil. Ich hätte meine Hand ins Feuer gelegt, dass er es nicht ist.

War Ihnen zu dem damaligen Zeitpunkt bewusst, dass die von Ihnen besagte Villa auf der Reger Straße bis zuletzt dem Ministerium für Staatssicherheit unterstand und verwanzt war bis unter jede Zimmerdecke?

Ich wusste, dass die Bezirksverwaltung des Ministerium für Staatssicherheit dieses Haus irgendwann mal benutzt hat, aber nicht bis zuletzt. Es war ja völlig bürgerlich als Wohnhaus eingerichtet…

Das war ja ein Lusthaus da oben, entsprechende Damen eingeladen und äh…

Das weiß ich nicht, da halte ich auch Vieles für Gerüchte. Das war eine ganz stinknormale und kleinbürgerlich eingerichtete Bude, da konnte man sich nur schämen. Offizielle Gäste habe ich dort nicht mit hin genommen. Wir gingen in das kleine Schlösschen, Italienisches Dörfchen am Elbufer, das war halbwegs Dresdens Anspruch angemessen. Dieses Gästehaus gehört ja gar nicht zu unserer Struktur, also innerhalb der Stadt hatte kein Gästehaus zu sein. Nur wenige, wie Leipzig aufgrund der Messe, haben sich sowas geschaffen. Das fiel an uns zurück mit der Erklärung, das wird nicht mehr gebraucht, vermarktet. Alle Einfamilienhäuser, die nicht mehr gebraucht wurden und verlassen waren in der Republik, fielen ja offiziell an die Stadt und wurden dann weitergegeben. Das nächste große Kapitel für sich. Also dass die Bude verwanzt war, das wusste ich nicht. Aber wie gesagt, davon bin ich nicht immer ausgegangen.

Um nochmal auf den 8. Oktober zurückzukommen: War das Ihre eigene Entscheidung, am Sonntag ins Rathaus zu gehen? Gab es da eine Anweisung oder wie kam es dazu, dass Sie am Sonntag Vormittag ins Rathaus gingen?

Also erstens war es der 7. Oktober und so, wie man das Fest vorbereitet hatte, musste man es ja auch wieder zurückbereiten. Es waren einige zehntausend Leute zum Fest auf den Beinen, man kann nicht sagen, dass die das alle geschnitten hätten. Nicht alle sahen die Welt durch die gleiche Brille. Zweitens waren die Schäden am Bahnhof und der Prager Straße nicht komplett beseitigt. Da gab es Druck, das weiterzuführen. Drittens gab es die Entscheidung, die Ausreiseanträge zu bearbeiten. Das musste organisiert werden. Das konnte der Bereichsleiter für Inneres nicht allein, da mussten andere Arbeitsbereiche freigesetzt werden und es musste alles vorbereitet werden. Selbstverständlich ging ich davon aus, dass die Auseinandersetzungen auf der Straße weitergehen. Normalerweise wurde jede Woche – ich weiß nicht, wie man das heute macht – ein Ratsherr, eine Ratsdame als Diensthabende eingesetzt. Rund um die Uhr. Der durfte also die Stadt nicht verlassen und musste in der Regel im Rathaus sein. Dann gab es noch zwei hauptamtliche Mitarbeiter je Schicht, die dann die Telefone besetzt hielten. Immer. Es konnte ja jederzeit was passieren: Havarie, Unfälle, Krankheiten etc. Das war das normale Dienstreglement. Das war auch nicht der erste Sonntag, den ich im Rathaus verbracht habe, wenn herausragende Dinge es verlangten. Es war eine Zeit, von der anzunehmen war: Hier kann es jede Stunde die jähe Wendung geben. Ich bin in das Rathaus gegangen in der Absicht, mit ein paar wichtigen Leuten zu reden, um eine Lösung zu finden: Wie reformieren wir das Land? Wie geht das weiter? Was können wir und was kann ich dazu beitragen? Das waren Gespräche mit sowjetischen Offizieren, die ich natürlich kannte, hochrangigen Offizieren, mit der Frage: „Wie seht ihr die Lage?“ Die warteten auf den Befehl aus Moskau und dann wären die Panzer gerollt, gnadenlos. Die hatten da keine Probleme.

Sie sprachen auch russisch?

Ja. Schlecht, aber ausreichend.

Haben Sie vorher studiert in Moskau?

Nein, ich habe aber lange Zeit dort zugebracht. Immer wieder, bis heute.

Alle, die am Bahnhof waren und ausreisen wollten, die hätten ausreisen können. Wer hat das beschlossen oder veranlasst?

Die Führung. Das wurde in Berlin freigegeben, um gezielt den Druck von den Straßen zu holen. Das wurde am Bahnhof verkündet, um die Leute zu beruhigen: „Wer einen offiziellen Ausreiseantrag stellt, kann das Land verlassen.“ Der größte Teil der Leute die am Bahnhof waren, waren ja keine Dresdner. Die waren ja aus allen, zumindest aus den südlicheren Teilen der DDR angereist, das sah man ja an den Autonummern. Die Dresdner haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Nun hab ich keine Zahlen parat, das finden sie in den Archiven des Rathauses. Das hat uns dann schon richtig schwer getroffen, die Zahl derer, die schlagartig gingen.

Herr Berghofer, noch eine Frage zum 8. Oktober, abends: Sie saßen mit Herrn Ziemer, Landesbischof Hempel und Oberlandeskirchenrat Fritz im Rathaus und haben die Lage besprochen. Parallel dazu gab es die Ereignisse auf der Prager Straße mit dem Kaplan Richter, Kaplan Leuschner und dem Polizisten Pappermann. Lief das parallel, so dass praktisch von beiden Seiten her die Entscheidung zu einer Gruppenfindung kam? Oder war das eher doch die Idee von Frank Richter?

Ich kannte Frank Richter zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich wusste auch nichts von ihm auf der Prager Straße. Ich kannte Ziemer, Hempel und habe mit denen die Entscheidung getroffen. Ende. Alles andere ist Märchen. Dass Ziemer und Hempel dann auf die Straße zurückgingen und diese Entscheidung verkünden und dass dann Richter mit dem Polizisten dafür sorgt, dass das alles friedlich auseinander geht, das ist Parallelität, Duplizität der Geschichte. Aber es hat keinen gesteuerten Zusammenhang gegeben, also von mir jedenfalls nicht. Das will man ja immer wieder korrigieren in den Darstellungen

Das heißt, Sie wussten nichts davon, dass auf der Prager Straße gesprochen wird zwischen dem Herrn Richter und der Polizei?

Gesprochen wurde von meinem Stellvertreter für Inneres mit dem Einsatzleiter per Telefon und mit dem Chef der Bezirksbehörde der deutschen Volkspolizei. Der muss es doch entscheiden, kein Pappermann hatte was zu entscheiden. Der hat richtig reagiert, psychologisch, beruhigend – alles unbestritten, aber Entscheidungen zu dieser Zeit traf die militärische oder polizeiliche Struktur.

Nicht die Bezirkseinsatzleitung, also der Herr Modrow?

Die Bezirkseinsatzleitung hat sicher als Rudiment mit diensthabendem System mitgewirkt, die waren ja alle mit Telefonnetzen, Sondernetzen miteinander verwoben. Sicher hat der Polizeichef Nyffenegger auch keine Entscheidung getroffen, ohne sich mit seinem zuständigen zweiten Sekretär der Bezirksleitung abzustimmen. Keine Frage, die Polizei hat ohne die Partei nichts entschieden. Ich hatte der Polizei weder auf der Stadtebene, noch auf der Bezirksebene was zu sagen. Ich habe nur ausrichten lassen: „Ich empfange 20 Leute, so wie gewünscht, am Montag Morgen 9:00 Uhr und bitte darum, wenn die Demonstranten den Platz verlassen, diese Möglichkeit einzuräumen.“ So passiert das dann.

Sie wunderten sich schon, dass die Partei den 7. Oktober im Rathaus feiern wollte. Dann gibt es die so genannte Duplizität der Ereignisse: Auf der Prager Straße sprechen Richter und Leuschner mit Pappermann, Sie sprechen im Rathaus mit dem Herrn Ziemer und dem Erzbischof Hempel. Auch andere Ereignisse erwecken für mich teilweise den Eindruck, dass es nicht so zufällig gewesen sein kann, also dass es da möglicherweise noch eine Regie gab, die man so vielleicht nicht benennen kann, aber die sich aus irgendwelchen Lebendigkeiten oder personellen Zusammensetzungen erstellt. Haben Sie auch manchmal den Eindruck, dass da dann eine Regie Fäden zieht?

Nein. Das könnte ich jetzt an vielen anderen Beispielen widerlegen. Also Fakt ist, die Bezirkseinsatzleitung hat agiert. Bezirkseinsatzleitung hieß: erster Sekretär, zweiter Sekretär, der Abteilungsleiter für Sicherheit, der immer da war und die Chefs der Sicherheits-und Schutzorgane: Ministerium für Staatssicherheit, Polizei und Armee. Die waren wiederum vertreten durch ihre Chefs und die Stabschefs. Dazu kamen noch zeitweilige Teilnehmer, also zum Beispiel der erste Sekretär der Stadtleitung der SED. Das leugnet Modrow und sagt, wir haben nicht in der Struktur der Bezirkseinsatzleitung agiert. Hätte er auch nicht müssen, weil das Informationsnetz, das Telefonnetz, war ja eh da. Bezirks­ein­satz­leitung hieß aber, dass alle normalen Arbeitsrhythmen außer Kraft gesetzt waren. Das heißt, es mussten ständig alle einsatzbereit, vor Ort, nicht im Urlaub, nicht auf der Datsche oder zur Jagd sein – was weiß ich, wie sie ihre Freizeit verbrachten. Insofern wurde natürlich Regie geführt: Was passiert denn jetzt? Was machte die Armee? Was machte Berlin? Der Armee-Oberbefehlshaber, der General Heinz Keßler, war ja bereit, ein Panzerregiment einzusetzen, was mittlerweile auch unbestritten ist, was eigentlich erst seine eigenen Generäle verhindert haben. Es war aber eine Regie, die aufgrund einer fehlenden Generallinie der Führung, der Partei, des Staates, von oben tausend Widersprüche mit sich brachte. Alle diese Teilnehmer an der Bezirkseinsatzleitung waren in ihrem eigenen Verantwortungsbereich wieder anderen Befehlshabern unterstellt. Der MfS-Bezirkschef war Mielke unterstellt und Mielke nahm natürlich keine Rücksicht auf Modrow, für dessen Bezirkseinsatzleitung es andere Befehle gab. Bei der Polizei war es das gleiche. Jetzt musste sich ein Bezirkschef natürlich mit diesen anderen Befehlsstrukturen auseinandersetzen, einigen oder kooperieren, was in der schwierigen, konfliktbeladenen Zeit gar nicht ging. Zumal diese, Entschuldigung, diese Idioten ja die Lage auch gar nicht richtig einschätzten. Die waren ja gar nicht da, die machten weiter ihr Wochenende. Natürlich hat die Bezirksleitung der SED versucht, das Ganze zu ordnen, in den Griff zu bekommen und über die einzelnen Verhandlungsstrukturen zu steuern, aber diese Steuerung ist nicht mehr sehr effektiv. Sie wird vor Ort auch konterkariert durch einzelne Leute, weil die Lage vor Ort eben eine andere ist, als man einschätzt. Der Staatsapparat, also der Rat des Bezirkes und der Rat der Stadt, genauso wie die Regierung in Berlin, sind zu Statisten degradiert. Sie haben die Ausreiseprobleme zu bewältigen, sie müssen das normale Leben, die Versorgung aufrecht erhalten, sie sind in die politische Entscheidungsstruktur nur bedingt oder gar nicht eingebunden.

Die Entscheidung, die Züge über den Dresdner Bahnhof zu führen, wird oft als Fehleinschätzung aus Berlin beschrieben. Halten Sie es für möglich, dass es doch keine Fehleinschätzung war, sondern ein ganz bewusstes Kalkül auch von Berlin, so nach dem Motto: Denen in Sachsen, also diesen Hoffnungsträgern Modrow oder diesem Bürgermeister, der so nah an seinen Bürgern ist, dem werden wir mal zeigen, was eine Harke ist?

Das halte ich für selbstdarstellerische Illusion. So blöd waren die auch nicht. Hans Modrow – fünf Jahre hab ich mit dem Mann vertrauensvoll zusammengearbeitet. Ich habe ihn einmal für zehn Minuten in der Wohnung besucht, wir haben nie ein privates Gespräch geführt, selbst auf einer Reise nach Italien für eine Woche nur im offiziellen Bereich. Als ich als ungewolltes Kind aus Berlin kam, da sagte Modrow: „den hat ja Honecker geschickt, um mich zu kontrollieren.“ Völliger Blödsinn. Natürlich habe ich meine Berliner Möglichkeiten im Interesse und zum Wohle der Dresdner schamlos ausgenutzt, was aber im Grunde der Volkswirtschaft der DDR insgesamt nicht genutzt hat. Das, was wir an kleinsten Vorzügen durch meine Möglichkeiten für Dresden herauswirtschafteten, das ging natürlich in Leipzig oder Karl-Marx-Stadt oder sonst irgendwo verloren. Hans Modrow wird zum Hoffnungsträger, was die Geschichte so bis heute nicht richtig dargestellt hat, weil der Westen es so wollte und weil die Sowjetunion meinte, es muss Veränderungen geben. Falin6, zu dieser Zeit, ’88, einer der wichtigsten außenpolitischen Berater, lange Botschafter in Bonn, Berater von Gorbatschow, der sitzt mit der Führung der SPD in der Baracke und sagt: „Wir müssen über die Nachfolge in der DDR reden.“ Falin redet mit den SPD-Köpfen Bahr, Brandt, Karsten Voigt der ehemalige Juso-Chef und sagt: „Wir haben drei Optionen. Krenz – lehnen die SPD-Leute ab: Funktionär, belastet, unflexibel. Man kannte sich ja aus der Zeit der FDJ. Markus Wolf, genannt Mischa, kommt nicht in Frage: MFS-Belastung. Modrow: Ja. Die SPD hat von den drei Optionen für Modrow optiert und dann dafür gesorgt, dass Modrow nach Baden-Würtemberg eingeladen wurde. Dresden und  Baden-Würtemberg, die SED und die DKP hatten eine offizielle Arbeitsbeziehung. Dann macht die Westpresse natürlich ganz gezielt Modrow zu einer Alternative zu Honecker. Wissend, dass damit interne Konflikte ausbrechen werden, die es zwischen den beiden schon immer gab. Honecker, als Chef der FDJ und Modrow, als Chef der Berliner FDJ und Mitglied des Sekretariats des Zentralrats, kannten sich ja aus frühesten Zeiten und waren sich nie gram. Nicht, weil der Eine für und der Andere gegen den Sozialismus war, sondern weil der Eine sich für besser hielt, um am gleichen Ziel zu arbeiten. Hans Modrow hatte mit seinem Freund Markus Wolf natürlich einen Partner an der Seite, der wie kein anderer die Machtstrukturen in der Sowjetunion kannte und beeinflussen konnte. Er hat dort gelebt und kannte all die wichtigen Leute. Da sind auch viele Leute, sage ich mal freundlicherweise, mit den Möglichkeiten, die ein General des Ministerium für Staatssicherheit im Osten Deutschlands hatte, beglückt worden, um nicht zu sagen korrumpiert worden.

Die Regie, Honecker abzulösen, stand fest. Für Gorbatschow war klar: Wir sind in den gleichen wirtschaftlichen Problemen wie die DDR. Die Planwirtschaft hat versagt. Wir müssen nach neuen Wegen suchen, Glasnost und Perestroika. Dass dann am Ende an den wirtschaftlichen Problemen überhaupt nichts geändert wurde, im Gegenteil der Zerfall sogar eine Beschleunigung erhielt, das macht schon deutlich, dass die Regie nur marginal und einseitig war. Kernfrage war die beschworene Leistungsfähigkeit einer sozialistischen Planwirtschaft. Das war von Anfang an eine Fehleinschätzung, die hat nie stattgefunden und wir hätten es mit unserer eigenen marxistisch- leninistischen Theorie sogar beweisen können. Lenin hat immer gesagt: „Die neue Gesell­schafts­ordnung ist nur dann existenzberechtigt, wenn sie eine höhere Arbeitsproduktivität hervorbringt. Das haben wir ja nie geschafft, im Gegenteil. Oder Marx: „Die Produktivkräfte sprengen die Produktionsverhältnisse in die Luft, wenn sie zu Fesseln werden.“ Nichts anderes ist passiert. Wir verbrauchten mehr als wir produzierten. So unter dem Motto: So wie wir heute leben, werden wir morgen arbeiten. Das haben die Sowjets natürlich erkannt. Die wussten, dass die Aufrechterhaltung des geteilten Deutschlands für sie nicht mehr bezahlbar ist. Die militärischen Aufwendungen, die Sicherheitsaufwendungen etc. Deshalb versuchte man sich – und zwar hinter unserem Rücken – mit der Bundesrepublik zu verständigen, um  einen Preis auszuhandeln. Das ist ja passiert. Dazu brauchte man natürlich eine völlig andere Führungspersönlichkeit an der Spitze. Dass das Ganze dann durch eine Revolution, die man so nicht erwartet hat, eine völlig andere Dynamik und andere Richtungen erhält, das hat man in das Kalkül nicht einbezogen. Das macht die Regie, die es bis dahin sicherlich gab, natürlich relativ hilflos. Sie ist dann rudimentär und endet in der Feststellung: Ja gut, müssen wir halt zugestehen.

Andererseits hätte sich Krenz ja an das Telefon setzen – da sieht man eben die politische Blindheit der Generation nach Honecker – und Herrn Kohl anrufen können: „Lassen Sie uns mal über eine schrittweise Wiedervereinigung reden. Was ist Ihnen das denn wert?“ Dann hätte ein solcher Mann an der Spitze der DDR alles zum Vorteil der 17 Millionen regeln können. Die SED-Mitglieder hätte man ja sogar noch ausklammern können. Man hätte alles regeln können, was notwendig gewesen wäre. Das ist dann ja alles nicht mehr passiert.

War das aus Ihrer Sicht eine Selbstüberschätzung von Modrow, Kohl nach Dresden einzuladen, um ihm zu zeigen, wie gut er die Sache im Griff hat oder wie beliebt er ist?

Als diese Frage auf der Tagesordnung stand, da war ich ja schon in Berlin in der Übergangs-PDS eingebunden. Da habe ich ihm gesagt: „Also, was soll es? Es kann nur so enden wie in Erfurt, ist doch völlig klar. Wenn du das willst, dann ist Dresden der richtige Ort. Wenn du das nicht willst,  dann musst du irgendwo in die Pampa gehen.“ Wie es dann tatsächlich ablief, das hat er sich auch nicht vorstellen können. Dass Kohl eine Rede an der Frauenkirche halten konnte, das hat weder Kohl noch Modrow angenommen, bis zu dem Tag, als wir uns in Dresden gegenüber saßen. Sie haben einfach die Gesamtemotionen unterschätzt. Das wäre in Leipzig oder in Rostock genauso passiert, ohne Unterschied. Sie hatten die Emotionen, die Hoffnung, endlich Luft holen und frei sein zu können und was Neues anzufangen unterschätzt. Kohl saß mir an diesem oder am Vortag gegenüber und fragte mich nach meiner Meinung. Ich habe gesagt: „Herr Kohl, also was besseres, als eine Rede hier zu halten, kann Ihnen und Deutschland nicht passieren. Das müsste eine sehr ausgewogene Rede sein, damit Frau Thatcher und Herr Mitterrand und alle anderen nicht sagen: ‚Jetzt sind sie wieder da, wo wir sie von der Macht entfernt haben.‘ Ich schaffe Ihnen gerne die materiellen Voraussetzungen“, so war es ja dann auch. Da bedankt er sich heute auch immer noch sehr freundlich und, keine Frage.

Also zum Zeitpunkt des Kohl-Besuchs in Dresden sah ich für eine mögliche Rettung der DDR, weder objektiv noch subjektiv irgendwelche Ansatzpunkte. Die Wirtschaft, das belegen nun alle zugänglichen Zahlen, war gescheitert und die war auch nicht wiederbelebbar. Diese Mär, wir lassen uns mal einen 15 Milliarden Kredit geben von der Bundesrepublik, so ist ja Modrow dann noch mal mit der provisorischen Regierung da rüber gefahren, das war völlig Illusion. Ich hab mit Ardenne und seinen Wissenschaftlern ausgerechnet, was wir in Dresden brauchten, um eine vergleichbare Infrastruktur wie in Essen herzustellen. Wir endeten dann im zweistelligen Milliarden-D-Mark-Bereich. Das heißt dann also 15 Milliarden als Kredit für das Ganze. Wirtschaftlich war die DDR mit ihrer Planwirtschaft gescheitert. In allen anderen Bereichen folglich, dass es da Rudimente gibt, wo man sagen kann, die sind erhaltenswert, das wird alles nicht in Frage gestellt. Dass von 17 Millionen Menschen 15 Millionen fleißig gearbeitet haben und alles getan haben, das ist außer Frage. Aber wirtschaftlich, kulturell, also gesellschaftlich am Ende war die DDR trotzdem. Selbst die Staatsform und die Art sie zu regieren, waren am Ende. Die Massen wollten das nicht mehr. Wenn dem so ist, wozu braucht man dann noch einen zweiten deutschen Staat, der als Alternative gedacht war für die Gutmeinenden? Es gab ja viele, wie am Anfang auch ich, die das richtig als sinnvolle Alternative empfunden haben, um die sozialen Fragen zu lösen, die Ausbeutung zu beseitigen und für alle den Wohlstand zu sichern. Es war mit dieser Wirtschaftsordnung und dieser Staatsordnung nicht erreichbar. Also konnte man nur sagen: „Weil das so ist, brauchen wir keinen zweiten deutschen Staat mehr. Also bleibt die Wiedervereinigung übrig und wenn die nicht zu uns kommen mit ihrem Geld, dann gehen wir dahin.“ Das war die große Angst der Westseite und deshalb war Lafontaine’s Abwehr von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dann stellt man sich auch die Frage: Wozu brauchen wir dann noch eine SED? Die hatte sich die Durchsetzung des Sozialismus als weltweite Gesellschaftsordnung auf die Tagesordnung geschrieben, die brauchen wir nicht. Wir können selbst drüber nachdenken, wie wir die SED reformieren und einen historischen Übergang sichern, der die Gewalt möglichst ausschließt und der dann dem reformwilligen Teil der SED die Möglichkeit einräumt, Mitglied der SPD zu werden. Das habe ich ja versucht und es gab ja nicht wenige einflussreiche SPD-Leute, wie Klaus von Dohnanyi oder Henning Voscherau oder Egon Bahr, die das ähnlich sahen. Das muss man verstehen, die SPD-Mitglieder der DDR-SPD, also vorher SDP, Markus Meckel und Ibrahim Böhme, die waren dagegen und sagen das heute noch in aller Offenheit. Weil das hätte ja sofort dazu geführt, dass wir deren Einflussmöglichkeiten wieder beschnitten oder gar beseitigt hätten. Das wollten die nicht. Dahinter versteckt sich natürlich auch wieder Regie. Ibrahim Böhme war ja nun kein Sozialdemokrat im klassischen Sinne, sondern wurde von der Staatssicherheit geführt. Die wollten das nicht und damit fiel das ins Wasser. Heute weiß ich, es ist natürlich ein schwerer strategischer Fehler, der am Ende des Tages, spätestens am 2. November nichts anderes übrig lässt, als dass man  wieder mit der neuen linken Partei verschmilzt und damit auf anderem Wege zum gleichen Ergebnis kommt. Gut, im Sinne von politischer Hygiene, von Selbstfindung war das ein ehrlicher Weg. Die SPD hat gesagt: „Nö, wir bleiben sauber.“ Da Politik aber in diesem Sinne nicht funktioniert, war es eben doch ein politischer Fehler. Die CDU hat das anders gemacht. Sie hat die Blockflöten übernommen, sie hat die Bauernpartei übernommen und ein paar Köpfe verändert und damit die Strukturen in der Hand gehabt, die man braucht, um Macht zu erringen und durchzusetzen. Davon profitiert sie natürlich bei allen Niederlagen in den letzten Stunden noch bis heute. Das hat die SPD nicht, das wird sie morgen auch nicht haben.

Das wird die große Diskussion von Morgen. War Ihnen damals bewusst, also nach diesem ersten Gespräch mit der Gruppe der 20, dass in den Kirchen informiert wurde? Und dass Sie, während Sie mit der Gruppe der 20 sprachen, in diese Gebete in diesen stattfindenden Fürbittgottesdiensten mit eingeschlossen wurden?

Ja

Hat Sie das beeindruckt?

Ja, zutiefst. Erstens hat mir Ziemer das erzählt und dann habe ich ja auch viele Briefe von fremden Leuten gekriegt, die mir ja eine Rolle zugedacht haben, die ich ja eigentlich nicht gespielt habe. Ich bin nicht so vermessen zu sagen: „Ich habe das organisiert“, das waren die auf der Straße. Ich war ja nur bereit, diese Realität zu akzeptieren und zu sagen: „Es geht so nicht weiter.“ Das kam ja nicht nur aus Dresdner Kirchen, das ging ja dann weiter. Auch Bautzner haben mir geschrieben, keine Frage. Das wurde natürlich dann mit einer Hoffnung in meine Person verbunden, die ich nicht wollte. Dann gab es den zweifachen Versuch von Modrow, mich erst zu seinem Nachfolger in Dresden zu machen, was ich strikt abgelehnt habe. Ich wollte nie hauptamtlicher Parteifunktionär werden. Das Gleiche passierte nochmal im Dezember in Berlin, als es um die Honecker-Nachfolge ging. Da haben die drei Tage und Nächte auf mich eingeredet, mit allen Argumenten. Die schönste Rede hat Gysi gehalten, bis ich dann gesagt habe: „Ich mach’s.“

Das hat Sie also beeindruckt, dass Sie in dieser Kirche in die Gebete mit eingeschlossen wurden. Hat das Ihre Entscheidung irgendwo beeinflusst oder war das nur ein positiver Aspekt?

Es war ein emotionaler Effekt. „Entscheidungen beeinflusst“? Also so emotional bin ich in den Entscheidungen nicht, da bin ich sehr pragmatisch und rational. Es war für mich nicht neu, die Dresdner waren ja mal Gastgeber für einen großen Katholikentag. Bei einem Messgottesdienst auf den Cocker-Wiesen schloss mich der damalige Erzbischof Meisner offiziell in das Gebet ein. Neben mir saß Gysis Vater, der war damals Staatssekretär für Kirchenfragen, der guckte etwas pikiert.  Abends war dann da unten an der Elbe ein Empfang im bischöflichen Ordinariat, das Grüne Kupferdach, also fast am Blauen Wunder. Da hielt Meisner eine Rede vom Zettel. Ich hatte mich aber vorbereitet, ich hatte keinen Zettel, ich habe frei geredet. Es waren alle Bischöfe, Kardinäle da, einschließlich der Abgesandten aus Rom. Es klopfte mir dann der päpstliche Gesandte auf die Schulter und sagte: „Bona figura.“ Aber in der Diktatur ist Lob nichts Gutes. Wenn dich der Gegner lobt, dann hast du etwas falsch gemacht – so lautete die allgemein gängige Formel. Das war gefährlich.

Waren Sie beeindruckt, dass so viele Leute vor dem Rathaus standen, die Lösungen oder Lösungsansätze lautstark eingefordert haben? Hat Sie das dann im Rathaus emotional beeindruckt?

Ja, emotional immer. Andererseits, ich konnte ja zu den Leuten gehen, also ich konnte ja durch die 100.000 auf dem Theaterplatz gehen, es hat mir keiner was getan. Es war ja ein bestimmtes Verhältnis entstanden, was keiner meiner Amtskollegen im Rest des Landes sich erlauben durfte. Das hat natürlich eine gewisse Souveränität unterstützt und auch mein Auftreten innerhalb der Partei verändert, völlig verändert. Von da an habe ich natürlich Dinge gesagt, die ich bis dahin nicht laut ausgesprochen habe: „Rat des Bezirkes, guck doch mal aus dem Fenster!“, falls er die Realität nicht mehr erkennt. Die Stadt fällt ein und so wie sie einfällt, verfällt ihre Identität. Warum gehen denn die Leute, die haben keine Hoffnung mehr. Die sehen nichts und jedesmal erzählen wir: „Morgen, übermorgen, aber mit dem nächsten Parteitag, da werden wir es packen.“ Nichts werden wir packen. Das große Robotron-Kombinat mit über 60.000 Mitarbeitern erhielt im Jahre 1989 noch einen PKW als Zuweisung für den Fuhrpark. Ende.

Wenn Sie so 20 Jahre zurückschauen, wie ist da Ihr Fazit, wenn Sie mit dem Abstand von 20 Jahren auf die Ereignisse blicken?

Erstens, jetzt unabhängig vom historischen Kontext: Damals habe ich ja nicht alles richtig gemacht, Fehler gemacht. Die Zeit war reif, der Sozialismus als Weltsystem war wirtschaftlich gescheitert und damit in allen anderen Bereichen der Grundlage seiner Existenz entzogen. Die Wiedervereinigung stand auf der Tagesordnung, dazu sehe ich auch keine Alternative. Welche sollte es denn geben? Der politische Prozess der Wiedervereinigung ist aus meiner Sicht relativ vernünftig abgelaufen, da sehe ich auch keine Alternativen, das hat Kohl gut gemacht. Zeit war wichtig, bzw. das Zeitfenster. Die Einflussnahme der Großmächte, ehrenhalber Frankreich und England, war durch das Zeitfenster begrenzt. Auch der amerikanische Präsident, der den Prozess sehr wohlwollend begleitet hat, wäre nicht immer auf diesem Standpunkt geblieben. Wirtschaftlich hat man vieles falsch gemacht. Aber „hätte man“ und „wollte“, was bringt das? Wir haben die osteuropäischen Märkte alle wegbrechen lassen. Die Währungsunion 1:1, aus meiner Sicht – das habe ich damals schon im Februar 1990 in Davos in beim Weltwirtschaftsforum umfangreich begründet und auch einen Vorschlag über eine Währungsunion gemacht – das hätte man anders machen können. Aber was soll dieses „hätte“, „wollte“ und dergleichen.

Das entscheidende Fazit, der Untergang der DDR, lehrt uns ja einiges. Das heißt mit Marx: „Wenn gesellschaftliche Konflikte herangereift sind und nicht von oben, also evolutionär gelöst werden, dann werden sie von unten, revolutionär gelöst.“ In einer solchen Situation befindet sich jedes Gesellschaftssystem, permanent. Wir erleben heute eine Finanzkrise von ungeahntem Ausmaß, die reden wir natürlich schön. Das werden wir in den nächsten drei Jahren erst alles richtig erfahren. Die können wir national nicht mehr steuern, nur bedingt. Global kann man das nicht mehr steuern, nur bedingt. Da braucht es globale Instrumente, die es nicht gibt. Im vergangenen Jahrhundert haben wir an solchen Stellen Krieg zugelassen. Wir müssen damit rechnen, dass es damit eine umfangreiche Inflation geben wird, das wäre die freundlichste Variante. Wir müssen damit rechnen, dass große Teile der Weltwirtschaftsträger eine echte Währungsabwertung machen. Da kann ich nur hoffen, dass es uns und den Euro nicht trifft. Die Kriegsgefahr ist nicht geringer geworden. Ich war neulich in der Ukraine, 48 Millionen Einwohner, da funktioniert nichts mehr. Null. Da kostet ein Kontokorrentkredit für einen Bauern, der sein Feld bestellen will, 38% per anno. Illusion. Dort werden die Konflikte ausbrechen und die sind vor unserer Haustür. Wir werden in jedem Fall davon betroffen sein. Was wir machen müssten, ist nämlich erstens dem Volk mal zu sagen, wie die Lage ist. Das machen wir nicht, weil das wahltaktisch kontraproduktiv ist: „Das Volk will keine Wahrheiten hören.“ Man muss das aber machen. Die Wahrheit muss auf den Tisch, die wird stückchenweise nach der Wahl kommen. Wir müssen die schöpferischen Kräfte entwickeln, denn das ist ja das Einzige, was wir haben. Wir haben keine Rohstoffe, wir haben nur Köpfe. Die müssen wir ganz anders positionieren. Bildung, Bildung, Bildung! Wir schwätzen über Bildung und geben immer weniger aus, das geht nicht gut. Das ist das zweite Fazit, also die Erkenntnisse von damals übertragen auf das heute.

Nun könnte man Drittens fragen: „Warum machst du denn nicht aktiv mit in der Politik?“ Das habe ich lange überlegt. Meine Position ist: Glaubwürdige Politik sollte jemand machen, der möglichst unbefleckt soviel Vertrauen erarbeiten kann, dass er unumstritten ist. Wenn du dich ständig für deine Vergangenheit entschuldigen musst oder dich damit auseinandersetzen musst, da haben wir ja nun einige Beispiele in der Politik erlebt, bleibt keine Kraft für Neues, für Kreatives. Das ist schädlich am Ende. Wenn ich natürlich Politik betreibe, damit ich meine Diäten einstecken kann, ein dickes Dienstauto fahre und in Brüssel sitze, dann ist es eine andere Situation. Das machen ja die Meisten leider. Das ist nicht mein Begehren. Ich versuche in meiner Arbeit Einfluss zu nehmen, ich bin sehr oft auf Podien eingeladen zur Diskussion. Neulich war ich mal mit meinem Freund Rainer Eppelmann, in Dresden beim Verbandstag der Chemiearbeitgeber, dort haben wir mal zwei Stunden einen Vortrag gehalten, bzw. ein Zeitzeugengespräch geführt – Opfer und Täter sozusagen. Da merkt man selbst bei diesen hochkarätigen Leuten, dass sie sich ja langweilen. Aber nicht deswegen, weil man viel zu wenig über die DDR weiß und damit nicht die Gefahr erkennt, wenn man solche Fehler wiederholt. Das mach ich. Auf meinem Schreibtisch liegen etwa 160 Interviewanträge von Gott und der Welt, das mach ich alles nicht mehr. Ich habe mit dem ZDF einen Film gemacht, also nicht nur ich, viele. Michael Jürgs „Wie geht’s, Deutschland?“ kommt im Oktober und ist 90 Minuten lang. Henning Voscherau war auch dabei. Ich mache ab und zu was für Dresden, dazu bin ich ja verpflichtet. Ansonsten halte ich mich zurück. Ich hab zwei Enkel und das ist Ersatz für alles.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!


1: Hotel Newa ist heute: Hotel Pullmann

2: Ist gleichbedeutend mit „Inoffizieller Mitarbeiter“

3: Paul Kienberg

4: Egon Krenz

5: Erich Mielke war Minister für Staatssicherheit bis 1989.

6: Valentin Michailowitsch Falin war Leiter der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU.