Friedrich Boltz

Kurzbiografie

Friedrich Boltz war am 8. Oktober 1989 Mitbegründer der „Gruppe der 20“. Als Pressesprecher verfasste er die erste Erklärung vom 16. Oktober 1989. Er musste die Gruppe nach mehreren Treffen wegen Meinungsverschiedenheiten verlassen.

Seither arbeitet Friedrich Boltz beruflich und ehrenamtlich in verschiedenen Vereinen. Seit 1998 engagiert er sich für den Aufbau eines sozialökologischen Permakulturprojektes in der Oberlausitz.

Das Interview führt Thomas Eichberg

Friedrich Boltz, geb. 1953

 Interview

Gut da starten wir mal ein kleine Zeitreise.

Die größten der Welt, wie man so scherzhaft gesagt hat. Eine Unzufriedenheit war natürlich da, im Sommer ’89, hat sich natürlich noch ein bisschen vergrößert. Los ging es eigentlich mit der Amtseinführung von Gorbatschow. Sicherlich, in den ersten Wochen noch nicht, aber als dann eben Glasnost und Perestroika kamen, der Sputnik interessant wurde, auch als Lektüre, weswegen er ja auch 1988 verboten wurde. Ich war damals SED-Mitglied von unserer Parteigruppe, oppositionell natürlich nicht. Wir waren alles brave Menschen, aber wir haben gegen dieses Sputnikverbot protestiert. Das hat natürlich letztendlich niemanden interessiert. Dann gab es natürlich dieses Auseinanderklaffen von der Berichterstattung zwischen täglicher Zeitung, Aktueller Kamera und was es sonst so gab und der Wirklichkeit. Also es war natürlich schon anders, als eben so ein Harry Tisch, der dann sagte: „Das war überhaupt nicht schade um die Leute, die da abwandern“. Es war natürlich auch spürbar, was das für ein Aderlaß ist, auch zum Teil im Kollegenkreis, die eben dann weg waren. Nicht unbedingt über Ungarn, sondern es gab auch einen Teil Privatreisen, die eben möglich waren über die Familienverbindung. Die kamen eben nicht wieder und eigentlich wurde die Situation immer absurder. Ich entsinne mich noch an den 6. Oktober, das war ein Freitagnachmittag…

Dazu kommen wir noch. Ich möchte mal gerne ein Stück im Sommer bleiben. Das war ja eine ganz vehemente Situation in Prag, in Budapest und in den Westmedien war es präsent. Wieviel haben Sie denn in Dresden auch im Rahmen ihrer Arbeit, ihrer Tätigkeit mitbekommen? Wie wurde das besprochen oder reflektiert in Ihrem Arbeits-und Freundeskreis?

Wir haben natürlich auf Arbeit darüber gesprochen. Auf der anderen Seite war Dresden das Tal der Ahnungslosen. Ich habe keinen Zugang gehabt zum Westfernsehen, keinen Zugang zum Rundfunk über UKW und war auch, sagen wir mal, nicht so sehr versessen darauf, nun jetzt über Mittelwelle oder ähnliches mir das wirklich anzuhören. Klar war das ja irgendwie, dass es nicht mehr so weiter geht. Das war im Sommer schon klar. Für mich hat nie die Frage gestanden, aus dem Land weg zu gehen, das lag völlig außerhalb meiner Vorstellungswelt, sondern eigentlich zeigte es sich immer mehr, es muss sich in dem Land was verändern. Das wollte ich an sich, so ein bisschen noch mit der Illusion: Man muss eben schon dazu gehören, die Parteimitgliedschaft nicht hinschmeißen, sondern eben von innen was tun. Aber es hat sich eben gezeigt, dass darüber nichts zu bewegen war. Nicht dass es so einen Maulkorb im eigentlichen Sinne gab, aber man konnte es eben sagen. Auf Arbeit konnte man eigentlich alles sagen und in der Kneipe nach Möglichkeit nichts. Auch innerhalb von irgendwelchen Parteiversammlungen war das nicht so, dass, zumindest im Normalfall, das Wort verboten wurde, aber es war eben völlig wirkungslos.

Geben Sie uns bitte noch einen kleinen Einblick in ihr Arbeitsfeld damals. Sie sagten schon „Hochtechnologie“, „ZMD“, das sagt nun dem Außenstehenden nicht so viel. Vielleicht können Sie noch mal kurz beschreiben, was Sie eigentlich gemacht haben?

Ich habe Großanalysegeräte mit Hochvakuum und entsprechender Elektronik in der physikalischen Meßtechnik technisch betreut. Ich habe nicht die Analysen selber gemacht, sondern eben dafür gesorgt, dass die Geräte funktionieren. Die waren aus Frankreich und aus Amerika. Das war eine technisch sehr interessante Sache, die mir auch Spaß gemacht hat, allerdings schon zu der Zeit mit ein paar Fragezeichen für mich. Weil: Wohin sollte diese Technologie gehen? Wir waren zwar noch ein ganzes Stück hinterher gegenüber der westlichen Technologie, aber eigentlich war für mich schon der Zweifel, ob ein technologischer Fortschritt uns tatsächlich hilft, die Probleme zu lösen. Die sind auf ganz anderen Ebenen. Das hat nichts damit zu tun, dass uns Technik fehlt, dass wir irgend einen technischen Fortschritt noch brauchen, um drängende Probleme, sei es im Land oder außerhalb des Landes weltweit, zu lösen. Der Zwiespalt war für mich schon so Ende der 80er Jahre da, sagen wir mal 1987/1988, vielleicht auch ein Stückchen mit angestoßen durch Tschernobyl.

Worum ging es denn eigentlich in Ihrer Arbeit, was haben Sie da gemacht, was haben Sie analysiert?

Analysiert wurde alles mögliche. Einmal wurden natürlich die technologischen Schritte in der Mikroelektronik begleitet, das heißt, was dort produziert wurde, z.B. die Schaltkreise. Es gibt ja eine ganze Reihe von technologischen Schritten, eben Dotierung, Auftragen von Materialien auch mit ganz geringen Beimengungen, die wurden analysiert. Dann gab es natürlich auch den anderen Weg, dass eben die Dinge, die andere schon gebaut hatten, sprich Schaltkreise aus dem Westen, geöffnet wurden. Es wurde danach geschaut, wie sind da eben bestimmte Sachen gemacht. Das ist analysiert worden. Dann kann man natürlich auch Analyseergebnisse vergleichen und sehen, ob die Technologie, die eben gerade angewendet wird, auch zu dem Erfolg führt, den andere schon hatten.

Das war ja sicherlich ein sehr abgeschlossener Bereich und hatte auch sehr viel mit Geheimnisträgern zu tun. Wie stark war denn da das Ministerium für Staatssicherheit auch in Ihrem Arbeitsbereich aktiv?

Es war natürlich da. Für uns war es gar keine Frage, dass es eben entsprechende Zuträger gibt. Ein paar konnte man so mit Sicherheit ausmachen, das war sicherlich eine Minderheit. Es gibt immer bestimmte Indizien. Wenn jemand nicht Parteimitglied war, aber eben beispielsweise ein NSW-Reisekader, also in den Westen fahren konnte, dann konnte man schon mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es da eine Verbindung gab. Den Begriff „IM“ der heute so in aller Munde ist, der war in unserem Sprachgebrauch überhaupt nicht da. Ich muss auch sagen, dass wir uns im Kollegenkreis weder in unseren Diskussionen, noch sonst irgendwie haben davon leiten lassen: Hier sitzt jetzt einer dabei und hört und berichtet. Das hat für uns keine Rolle gespielt.

Aber Sie mussten damit rechnen auch abgeschöpft zu werden, sozusagen als Quelle für Stimmungs- und Meinungsbilder, oder?

Gut, man muss mal sagen, die Dimension war uns in vielen Fragen nicht bewusst, wie eben da solche Stimmungs- und Meinungsbilder gemacht wurden. Ich glaub auch nicht, dass da deswegen die Diskussionen im Kollegenkreis anders verlaufen wären.

Sie sagen es war eine recht offene Atmosphäre. Wie würden Sie selber ihre Beziehung zur Partei und zur Parteiführung der damaligen Zeit beschreiben?

Also ich war SED-Mitglied, allerdings schon mit einer ganzen Reihe von inneren Widersprüchen, inbesondere seitdem Gorbatschow in der Sowjetunion dort mit Glasnost und Perestroika, also Transparenz, Umgestaltung und Erneuerung aktiv war. Das hat sich eigentlich bei uns nicht wieder gefunden. Nicht dass es direkt ein Verbot gab darüber zu reden, zumindest innerhalb der Parteigruppe oder innerhalb der Parteiversammlung nicht, aber es war eben völlig wirkungslos. So war mein Eindruck und so ein Stückchen hatte ich schon im Herbst 1989 die Narrenkappe auf. Ich war dann in der Parteiversammlung die einzige Gegenstimme zu irgendeinem Aktionsprogramm, was da wieder zu Ehren des 9. Parteitages sein sollte, weil das für mich völlig inhaltsleer und unsinnig war.

Sie konnten sich also kaum eine „Erneuerung von Innen“ vorstellen, eine Veränderung der innerhalb der DDR bestehenden Strukturen?

In den bestehenden Strukturen auf gar keinen Fall, auch mit diesen Dinosauriern dort, also die Staats- und Parteiführung war ja dagegen. Für mich waren es Dinosaurier, einfach überlebte Figuren, die eben auch geistig stehen geblieben sind in einer bestimmten Entwicklungsphase. Ich will nicht mal sagen, dass die ohne Verdienste oder Ähnliches waren. Es gab ja die Auseinandersetzung schon in der Zeit bis 1945, wo durchaus einige sehr aktiv waren. Das war aber natürlich nicht mehr sinnvoll denkend im Mitte der 80er Jahre oder im Jahre 1989.

Jetzt machen wir einen kleinen Sprung. Was führte Sie denn im Herbst, also Anfang Oktober, auf die Prager Straße? Und waren Sie schon öfter da oder war das an jenem bewussten Abend, als die Gruppe der 20 entstand, ihre erste Teilnahme? Vielleicht können Sie etwas über diese Tage Anfang Oktober sagen?

Es gab ja die Auseinandersetzung am Hauptbahnhof mit den durchfahrenden Zügen, aus der Botschaft von Prag in die Bundesrepublik. Da gab es natürlich die offizielle Berichterstattung, die uns eben aus der Zeitung entgegen schlug und es gab natürlich durchaus auch die Nachrichten, die sich über den Buschfunk verbreitete, die mir eben selber nicht zugängliche Berichterstattung aus dem Westen. Es gab natürlich auch diese völlige Absurdität der Situation, dass eben da der 40. Jahrestag der DDR gefeiert wurde mit Jubelreden und die Wirklichkeit im Land stimmte damit überhaupt nicht mehr überein. Ich entsinne mich an den Nachmittag des 6. Oktobers, Freitagnachmittag, wo wir im Kollegenkreis nochmal zusammen gesessen haben. Es lief das Radio, ich glaube irgend sowas wie „Stimme der DDR“, mit diesen Erfolgsmeldungen zum 40. Jahrestag. Wir haben uns eigentlich nur angeguckt und haben uns in einer völlig absurden und grotesken Situation gefühlt. Auch aus dem Leben und dem Erleben im Betrieb. Wir waren zwar recht gut ausgestattet gegenüber vielen anderen Betrieben in der DDR, auch an Investitionen, an moderner Technik, aber wir wussten natürlich, dass eben diese hochgejubelten wirtschaftlichen Erfolge weder bei uns, noch woanders real da sind. Dazu kam natürlich dieser Exodus aus der DDR. Der wahnsinnige Aderlass war auch spürbar im Kollegenkreis, so dass ich dann am 7. Oktober das erste Mal so richtig mitging. „Demonstration“, weiß ich nicht, ob man das sagen kann, es war ja mehr oder weniger so etwas wie ein Schweigemarsch ins Stadtzentrum. Da bin ich mitgelaufen und dann war der 8. Oktober, also der Sonntagabend, für mich das zweite Mal, dass ich auf so einer Demonstration mitgegangen bin.

Mit welchen Gedanken und oder mit welchen Gefühlen sind Sie da hin gegangen? Sie sagten gerade: „Wir sind quasi in einem Schweigemarsch in das Stadtzentrum gegangen“, also man denkt ja dann sicherlich eine ganze Menge über sein bisheriges Leben nach oder was hat Sie da beschäftigt? Mit welchen Gedanken oder mit welchen Gefühlen sind Sie denn in die Stadt gegangen?

Also der Hauptbeweggrund, der mich da angetrieben hat: Es muss sich irgendwas ändern! Wir können nicht weiter in dieser absurden, grotesken Situation leben. Es reicht auf irgendeine Art und Weise. Wobei, irgendwelche mehr oder weniger klaren Vorstellungen hatte ich nicht. Also wie nun eine erneuerte DDR oder eine veränderte DDR oder eine DDR mit Glasnost und Perestroika aussehen könnte, das wusste ich nicht, aber mindestens erstmal die Ehrlichkeit, dass wir es vor uns selber eingestehen, wo wir sind, wer wir sind und wo wir stehen in diesem Land und dann gemeinsam darüber nachdenken: Wo können und wo wollen wir hin?

Aber das war für Sie klar: Das passiert innerhalb der DDR und das passiert mit der DDR und in diesen Strukturen. Gab es da schon weitere Vorstellungen?

Also in dem Land schon, aber mit den Strukturen keinesfalls. Das war auch mehr gefühlsmäßig für mich klar, dass eben die Strukturen, die es gibt, nicht reformierbar sind. Das habe ich nun von innen her in dieser Parteiorganisation erlebt, dass da von innen her und in den bestehenden Strukturen nicht grundsätzlich eine Erneuerung möglich ist, sondern dass da eine Veränderung sein muss. Wie sie aussieht, das ist allerdings völlig unklar und erstmal gab es sowieso nur das Gefühl: Stop, so nicht weiter!

Ein darüber hinaus, eine Auflösung der DDR oder solche Überlegungen, gab es bei Ihnen nicht?

Nein. Also einmal haben wir sicherlich auch die Situation im Warschauer Pakt und die Interessen der Sowjetunion falsch eingeschätzt. Dass da so ein lockeres Abgeben überhaupt möglich sein könnte, stand außerhalb jeder Vorstellung. Zum anderen muss ich für mich auch sagen, für mich war die Bundesrepublik nicht das leuchtende Vorbild, wo ich sagte: „Da will ich nun hin.“, sondern ich hatte schon eher die Vorstellung einer anderen DDR, also einer eigenen Entwicklung in diesem Land.


Kommen wir zu dem Zeitpunkt auf der Prager Straße. Das war ja so eine Situation, die drohte zu explodieren. Beide Seiten waren höchst angespannt. Wie haben Sie diese Situation erlebt an diesem Abend?

Ich bin mit diesem Demonstrationszug auf die Prager Straße mitgezogen und habe mich dann in dem Kessel wiedergefunden. Hinter uns klappten die Bauzäune um und es wurde zugeriegelt. Vorn, in Richtung Hotel Newa1 stand eben die Kette mit den Schildern. Ja, eine Situation, wie ich sie eigentlich nur aus dem Fernsehen für die Bundesrepublik kannte. Ich hatte nie erlebt, dass eben Polizisten behelmt, mit Schilden und Knüppel da aufmarschieren, dahinter das Bellen der Hunde. Das waren irgendwie auch Hundestaffeln in Bereitschaft, hinter den Reihen. Es gab eben kein vor und kein zurück in diesem Kessel, wobei ich keine Angst hatte in dem Sinne, dass es mir jetzt irgendwie ans Leder, an die Gesundheit oder ans Leben geht, sondern es war ja auch für mich ein Stück so einer seltsam schwebenden Situation. Also die Demonstranten in dem Kessel setzten sich hin, hatten entweder schon brennende Kerzen oder reichten eben auch noch Kerzen rum. Es wurde die Internationale gesungen. Es war auch nicht in Richtung irgendeiner Konfrontation mit den Sicherheitskräften, also da war nichts von Steine werfen oder Barrikaden bauen oder Ähnlichem zu sehen. Dann war natürlich Gorbatschow der große Hoffnungsträger, der da immer wieder deklamiert wurde, bis dann diese beiden Kapläne, also Leuschner und Richter, das Gespräch auch fanden, offensichtlich mit den…

Da kommen wir gleich noch dazu. Sie sagten schon, Sie hatten keine Angst. Können Sie das Gefühl vielleicht noch genauer beschreiben? War es vielleicht auch so ein Stück Sicherheit, welche die große Menschengruppe Ihnen bot? Oder welchen Gedanken hatten Sie vielleicht auch in Bezug auf Ihre Arbeit? Dachten Sie, das könnte ja am Montag Konsequenzen bringen? Einige haben im Hotel Newa oben die Kameras bemerkt. Welchen Eindruck machten die Kameras auf Sie?

Sowas hat mich eigentlich nicht bewegt. Das war eher, wenn man so will, so etwas wie Trotz: Jetzt kneife ich nicht und es muss sich irgendwas ändern und tun und egal was passiert, jetzt bleibe ich dabei. Also es war für mich auch sicherlich kein Wunsch, da irgendwie eine Lücke zu finden, um mich daraus zu entziehen, sondern ich wollte schon in der Situation bleiben. Nicht unbedingt wegen der Masse, die mir da eine Sicherheit gab, sondern eher schon aus der Stimmung heraus, die zwar einerseits bedrohlich war, aber auf der anderen Seite eben auch ja so trotzig und bestimmt war: Wir bleiben hier und rühren uns so lange nicht vom Fleck, bis da irgendwas an Bewegung auf der anderen Seite auch passiert.

Waren Sie beunruhigt? Waren Ihnen die Dimensionen dieser Situation vielleicht auch schon bewusst?

Nein. Also die Dimension, die man da hinterher dann reinlegt, ich weiß auch nicht, ob die auch wirklich da war. Ich glaub nicht, dass die Demonstrationen, seien sie in Dresden, Plauen oder Leipzig, wirklich so maßgeblich die Situation bestimmt haben. Wenn, dann hat es allenfalls, aus heutiger Sicht kann ich das sagen, Stunden oder Tage einer Entwicklung beschleunigt. Die DDR war am Zusammenbruch und wäre auch ohne die Demonstrationen auf der Prager Strasse oder ohne die Gruppe der 20 oder ohne die Leipziger Montagsdemo im Laufe der nächsten Tage, Wochen oder Monate zusammengebrochen.

Aber es brauchte ja schon so einen Anstoß. Es brauchte ja schon den Eindruck solcher Schlüsselerlebnisse und Schlüsselsituationen?

Ja, aber diese Stimmung war eigentlich im ganzen Land da, dass es so nicht weiter geht. Dass das nun an einzelnen Stellen mehr oder früher oder intensiver oder weniger intensiv sich geäußert hat, ist sicherlich richtig. Aber insgesamt war DDR eben in dem Zustand, dass es so nicht mehr weiter ging.

Wie haben Sie denn nun in diesem Kreis das erlebt, dass es irgendwie ein neue Qualität gab? Ich glaube, die Schilde wurden von den Polizisten abgesetzt und die beiden Kapläne sprachen mit den Sicherheitskräften. Wie haben Sie das aus ihrer Perspektive gesehen oder mitbekommen?

So ein bisschen muss ich es schon relativieren, was ich vorher gesagt habe. Es war natürlich eine bedrohliche Situation und dieses Absetzen der Schilde war schon erstmal ein Zeichen der Entspannung und zumindest auch erleichternd. Es war schon eine Anspannung da. Wie schon gesagt, diese Hunde bellten dort. Für mich persönlich war das vielleicht schon noch die größere Bedrohung, als da jemand mit Schild und Helm zu sehen. Irgendwie so einen scharf gemachten, bissigen Hund auf mich zurennen zu sehen oder zu spüren, das wäre mir sehr unangenehm gewesen. Es war auf jeden Fall ein Stückchen aufatmen.

Saßen Sie ganz vorne, konnten Sie das beobachten, wie die Kapläne darauf zu gehen? Oder wie stellte sich das aus Ihrer Sicht dar?

Ich war so mittendrin, nicht ganz vorn, nicht in den ersten Reihen, sondern vielleicht so 20-30 Meter zurück, ein bisschen seitlich. Es war natürlich auch sichtbar und spürbar.

Haben Sie es gesehen, wie die beiden Kapläne vor gegangen sind?

Nein. Wie sie durch die Reihen gegangen und hin gegangen sind, das habe ich nicht gesehen. Aber natürlich war das dann erkennbar, als sie wiederkamen und als es dann ja auch über das Megaphon eine Verständigung gab.

Können Sie sich an die Situation noch erinnern? Also können Sie sich an den Wortlaut noch erinnern?

Nein. Sinngemäß ging es eben darum, so meine Erinnerung an die Bildung der Gruppe, die Forderungen aus dem Kreis zu überbringen, die Proklamation dort vorgebracht wurden. Allerdings dann erst im zweiten Schritt. Erstmal ging es darum, so eine Delegation zu bilden. Dort stürzten eine Unmenge an jungen Leuten vor und da gab es dann Rufe, dass eben nicht nur die ganz jungen, die eben dann auch als jugendliche Wirrköpfe abgetan werden können, gehen sollten, sondern eben auch andere. Das war für mich so ein Stückchen der Anstoß, da auch mit vor zu gehen – als zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr so völlig Jugendlicher.

Sind Sie von ganz allein zu diesem Entschluss gekommen oder musste Sie jemand dazu anstoßen?

Es ist sicherlich beides dabei. Es war schon die innere Bereitschaft und so einen leichten Schubs habe ich auch gekriegt. Ich war nicht mit Bekannten da oder so, sondern so aus der Situation heraus: „Naja, nun geh mal!“

So, nun sind Sie nach vorn. Wie ging es dann weiter?

Ja, wie ging es weiter? Also meine Hauptmotivation war eben erstmal, dass der Abend auf jeden Fall friedlich endet und dass natürlich auch denen da oben, wer auch immer das sein mag, mal die Forderungen präsentiert werden. Die waren ja wirklich so ein bisschen quer durch den Gemüse­garten, die sind ja zugerufen worden. Von Reisefreiheit bis zur Verbesserung des Nahverkehrs war das ja ein buntes Gemisch.

Jeder konnte was rein rufen und jemand nahm einen Stift und Zettel?

Ja, so ungefähr. Also es musste natürlich auch eine Zustimmung geben, schon eine bestimmte Beifallsbekundung aus der Demonstration heraus, um eben diese Forderung mit aufzunehmen. Aber es ist eben nicht in dem Sinne abgestimmt worden oder es gab auch in dem Sinne kein Programm, was jemand eben aus der Tasche zog: „Jetzt überbringen wir dies.“ Sondern es war wirklich so eine ad hoc Situation, aus der heraus die Gruppe den Auftrag gekriegt hat. Der war ja ursprünglich auch nur für ein Gespräch mit der Berichterstattung am nächsten Abend gedacht, wo es ja dann schon den ersten Kompromiss gab. Die ursprüngliche Forderung aus der Demonstration heraus war ja, an derselben Stelle diese Information zu machen und der Kompromiss war, das in den Dresdner Kirchen zu tun. In fünf oder sechs Kirchen, ich kann die genaue Zahl jetzt nicht sagen. Ich war in der Kreuzkirche dann.

Wie ging es dann weiter an diesem Abend? Sind Sie dann erstmal nach Hause gegangen und was passierte dann?

Als erstes kam natürlich der Akt der Aufnahme der Personalien, der schon ein recht ungutes Gefühl brachte, also da kann ich Angst nicht gänzlich verleugnen. Wir haben unsere Ausweise dort hingegeben und unsere Personalien wurden aufgenommen. Wir haben uns dann als Gruppe an dem Abend auch noch mal getroffen im Dompfarramt, um über die Vorbereitung des Gespräches am nächsten Tag zu reden. Und ich bin nach dieser Unterredung auch nicht nach Hause gegangen, sondern in meine Gartenlaube und habe da übernachtet. Schon so unter dem Aspekt, wenn sie meine Adresse haben und dahin kommen, dann geht es eben doch ein bisschen ans Leder.

Wer hat das denn aufgenommen, diese Liste mit den Namen?

Da wurde praktisch mehr oder weniger dem Einsatzleiter da unser Stapel an Ausweisen übergeben. Wer es namentlich war, kann ich nicht sagen. Es war auf jeden Fall die Liste, die dann bei Herr Berghofer am nächsten Tag als Namensliste auf dem Tisch lag.

Sie kamen also da hin am nächsten Tag, vielleicht können Sie das mal erzählen. Um wieviel Uhr und mit welchen Eindrücken sind Sie denn dort hin gegangen?

Oh, jetzt geht es um Zeitangaben, die natürlich nach 20 Jahren nicht mehr … Also ich denke 9.00 Uhr war der Gesprächsbeginn. Es war ja eine völlig unbefriedigende Situation. Berghofer als Gegenüber war anzusehen, dass ihm nicht wohl ist, dass er eben auch Blut und Wasser schwitzt, aber eigentlich war jede Antwort, die von ihm kam, er ist dafür nicht zuständig. „Es gibt dafür keine Lösung!“ oder „Das ist der falsche Kreis zum Bereden!“, das war eigentlich auch die Quintessenz des Gespräches.

Glauben Sie, dass er die Befugnis hatte oder dass er ausdrücklich keine Befugnis hatte, mit Ihnen zu sprechen? Oder wie würden Sie seine Kompetenz in dieser Runde beschreiben?

Ich denke schon, dass er sich damals ein ganzes Stück aus dem Fenster gelehnt hat, allerdings sicherlich nicht ohne Abstimmung. Es gab die entsprechenden Duz-Freundschaften zur Bautzner Strasse. Also ich denke, diese Abstimmung, zumindest im Groben, wird schon passiert sein, wobei ich nicht glaube, dass er eben eine massive Rückendeckung hatte. Er hat sich schon kräftig aus dem Fenster gelehnt, um dieses Gespräch zu führen und hatte da eben nicht den ausdrücklichen Segen dafür.

Sie sprechen diese Duz-Freundschaft zum Ministerium für Staatssicherheit auf der Bautzner Straße an. Stellte sich das auch in dem Gespräch dar, also merkte man das, spürte man das in dieser Runde? Saßen da neben ihm noch andere?

Nein. Es gibt ja auch so einen, zumindest mir in Fragmenten bekannten, Briefwechsel, Zettelchen mehr oder weniger, die da eben hin und her gingen. Die gingen eben auch darum, ein paar Erkundigungen über die Leute, die da mit am Tisch sitzen, zu bekommen. Ich weiß jetzt gar nicht, wie hieß der Staatssicherheitsmann?

Böhm?

Böhm, ja.

Also gab es Telex hin und her zwischen den beiden?

Ja. Da gab es Dinge, die wir natürlich zum Gespräch selber nicht kannten, aber die so im Nachgangdoch offenbar wurden.

Sie sagte, das war unbefriedigend. Nach welcher Zeit ungefähr sind Sie denn wieder aus dem Rathaus raus? Und was haben Sie dann gemacht? Sind Sie dann auf Arbeit gegangen? Wie verlief die Zeit bis zum Abend in der Kreuzkirche?

Also meiner Erinnerung nach bin ich den Tag nicht auf Arbeit gegangen, sondern es ging eben noch darum, den unmittelbaren Tag kann ich nicht sagen. Es ist auch denkbar, dass ich da zur Spätschicht noch in den Betrieb gegangen bin, allerdings eben mehr oder weniger bloß, um mich abzumelden. Ja, es ging darum, auch noch mal in einem Gespräch vorzubereiten, was wir denn abends in den Kirchen dort sagen. Das konnte mehr oder weniger nur die Quintessenz sein. Wir haben Gespräche gehabt, aber es hat in dem Sinne keine Ergebnisse gegeben und es stand dann schon die Frage: „Wie weiter?“ Unser Auftrag war in dem Sinne abgeschlossen, wenn auch mit einem unbefriedigendem Ergebnis. Zumindest der Auftrag war erfüllt, der eben aus der Demonstration kam. Dann war allerdings die Resonanz in den Dresdner Kirchen abends so überwältigend und auch mit so einer Erwartung geprägt, dass es aus den Veranstaltungen quasi den Auftrag gab, erstmal weiter zu machen, also für ein zweites Gespräch.

Da gab es ja dann die Legitimation, mit einer Mark konnte zugestimmt werden.

Ja, diese Eine-Mark-Aktion in der Gruppe zu machen, das hatte ich vorgeschlagen. Das ist abgelehnt worden in der Gruppe, auf ausdrücklichen Rat des juristischen Beraters, dem Kirchenamtsmann Steffen Heitmann, weil es ein Verstoß gegen die Spendenordnung der DDR ist und wir damit richtig angreifbar seien. Dort ist eben meine anarchistische Ader durchgebrochen. Ich habe mich im Betrieb an den Rechner, mit einem schönen Nadeldrucker dran, gesetzt und hab da 20-30 solcher Zettel gemacht, so dass mehr oder weniger die Legitimation der Gruppe in Frage steht und dass quasi die Überweisung von einer Mark auf ein Postscheckkonto einer Stimme gleicht. Das war von mir ein stillgelegtes Konto. So konnte man sagen, wenn da 100 oder 1000 Mark eingehen, dann gibt es eben 100 Leute, die das unterstützen, dann muss man halt damit leben. Die Zettel habe ich vor der Kreuzkirche verteilt. Das hat dazu geführt, dass ich zwei oder drei Tage später vom Postscheckamt einen Anruf bekam, dass ich da dringend mal hinkommen soll. Die Arbeit des Postscheckamtes ist lahmgelegt, sie machen nur noch eine Mark Überweisungen. Das war ja auch keine D-Mark. Also kistenweise haben die diese Einzahlungsschnipsel dort bearbeiten müssen, so war die Resonanz. Es gab natürlich auch die vorhergesagte Reaktion, das Konto wurde vom Generalstaatsanwalt der DDR gesperrt. Darüber hatte ich mich dann auch unmittelbar im zeitlichen Umfeld bei Berghofer beschwert und auch erklärt: „Wenn diese Sperre nicht aufgehoben wird, das werde ich dann über eine ähnliche Zettelaktion öffentlich machen.“ Damals hat ja die Veröffentlichung über solche Wege noch funktioniert oder auch viel besser, als irgendwelche Zeitungsveröffentlichungen, so dass dann per Bote auch vom Generalstaatsanwalt wieder die Freigabe des Kontos kam. Leider sind die Schreiben auch alle in den nachfolgenden Wirren verloren gegangen, also ich habe sie nicht mehr da.

Ich hatte schon den Eindruck an der Stelle, gut, das ist eben jetzt der Anfang und der gestaltet sich schwierig, aber das ist eben ganz normal.

Ja. Diese Element waren der Anstoß eben über diese Legitimation nachzudenken. Es gab auch eine andere Initiative noch, die eben Vollmachten für die Gruppe geschrieben und eingesammelt hat. Der war nicht aus dem Umfeld, es tut mir leid, wäre natürlich auch sehr interessant, den Namen des Initiators dort zu erfahren, als es quasi darum ging, direkt eine Bevollmächtigung zu machen. Das heißt also, dass wir hätten hingehen können mit einem mehr oder weniger großen Stapel an Vollmachten, also dass wir mit Berghofer und anderen im Namen auch der Vollmachtgeber reden und verhandeln.

Das heißt, das war eine ganz andere Gruppe? Die hatte mit der Gruppe der 20 nichts zu tun?

Es war schon im Umfeld der Gruppe, aber nicht aus der Gruppe selbst heraus. Es ging schon um die Vollmachten für die Gruppe.

Es gab die Abstimmung, es gab die Frage der Legitimation und Sie haben sich nun auf Grund des ja doch großen Zuspruchs wahrscheinlich auch in den Kirchen entschlossen, weiter zu machen. Oder wie ging es dann nach diesem ersten Montagabend in den Kirchen weiter?

Es war die Resonanz in den Kirchen. Das Stimmungsbild in den Kirchen war natürlich, den Auftrag weiter zu machen. Dann gab es ja, ich glaube am 16. Oktober war es, das zweite Rathausgespräch, auch schon mit einer gewissen Berichterstattung in der Aktuellen Kamera. Allerdings eben noch sehr gerade gebogen. Das heißt, damals habe ich die erste Erklärung der Gruppe der 20 verlesen, die lag zum 16. Oktober vor und das hat sich natürlich nicht wieder­gefunden in der Berichterstattung der Aktuellen Kamera. Dort haben nur die Gespräche der Honoratioren stattgefunden.

Wie stark würden Sie denn den Einfluss oder den Eindruck auch der kirchlichen Vertreter in der Gruppe bezeichnen? Wie stark waren denn die Herren Richter, Leuschner und Ziemer präsent?

Schon sehr stark natürlich. Einmal ging es natürlich um inhaltliche Überlegungen. Es gab verschiedene ökumenische Kirchenkreise, die ja auf den Gebieten der Ökologie und Ähnlichem schon einige Jahre gearbeitet hatten. Die konnten natürlich auch eine Reihe von Thesen zum Inhalt zu liefern. Wir waren ja von der Straße, sicherlich jeder mit seiner Individuellen Vita und Qualifikation, aber eigentlich ausnahmslos, wenn ich das so richtig erinnere, ohne eine Verwurzelung in irgendeinen Untergrund oder sonstige Kreise der Umweltbewegung in der DDR. Der Einfluss der Gruppen war natürlich inhaltlich sehr hilfreich. Das hat allerdings dann in der weiteren Entwicklung für mich ziemlich schnell zu einer Instrumentalisierung geführt.

Gingen die Forderungen oder die Vorstellungen auseinander?

Am Anfang eigentlich kaum. Am Anfang ging es, so klar kann man es sagen, den gesamten Oktober über in keiner Weise um den Anschluss an die BRD oder die Auflösung der DDR. Es ging darum, tatsächlich Umwälzungen, Reformen und Umgestaltung in der DDR anzuschieben. Es ging darum, erstmal die Sprachlosigkeit zwischen denen auf der Straße und den Machthabenden zu überwinden, auch Ideen zu entwickeln und die Situation erstmal ehrlich zu analysieren. Wie können wir mit der Situation in Richtung einer erneuerten DDR umgehen.

Wo gab es dann die Diskrepanzen? Sie sprachen vorhin schon die Sache mit der Legitimierung durch die  Eine-Mark-Aktion an, dass es zwischen Ihnen und Herr Heitmann Spannungen gab oder unterschiedliche Auffassungen. Aber wo gab es die Spannungen noch, wo dividierte sich die Gruppe auseinander?

Diese Entwicklung ging so Ende Oktober/Anfang November los. Oder nein, der Anfang liegt eigentlich am 9. Oktober, also mit der Kooptierung von Herbert Wagner als nicht ursprüngliches Mitglied der Gruppe. Der hatte natürlich schon damit begonnen, dort auch die Vorstellungen aus seinem Kreis, in dem er sich bewegt hat, ein Stückchen mit durchzusetzen. Es ging dann natürlich weiter mit der Möglichkeit, eben andere Mitglieder zu kooptieren.

Jetzt müssen Sie uns das natürlich genauer erzählen. Wie kam es denn dazu? Stand der Herr Wagner plötzlich in der Tür und sagte: “Guten Tag, ich möchte mitmachen“?

Die offizielle Begründung will ich auch mal gar nicht in Frage stellen, die war eben vom Kaplan Richter, der Mitglied der Gruppe und bei dem ersten Rathausgespräche auch mit dabei war, dass er als katholischer Kaplan sich den seelsorgerischen, den kirchlichen Aufgaben zu widmen hat und sich nicht in die weltliche Politik einmischen soll. Er würde sich zurück ziehen und sein Platz sollte durch eine Person seines Vertrauens, sprich Herbert Wagner, eingenommen werden. Es gab keinen Widerspruch in der Gruppe. Wir waren natürlich auch politisch völlige Naivlinge, alle samt. So kam eben dieser erste Schritt. Der wurde dann durch eine weitere Art der Kooptierung immer weiter fortgesetzt. Das war eine Entwicklung, die fand ich schon recht bedenklich, weil meine Auffassung war: Diese Gruppe ist eine Vermittelnde, sollte auch möglichst wenig als Gruppe inhaltliche Positionen vertreten, es sei denn, im augenblicklichen Auftrag. Dass da mehr oder weniger die einzelnen Gruppenmitglieder die Möglichkeit haben, sich politisch zu betätigen, das ist klar. Gut, damals gab es das Neue Forum, die CDU, die bestehenden Parteien, Gewerkschaften oder auch neue Initiativen und Gruppen. Dass dort die politische Betätigung stattfindet, dass dort auch politische Forderungen formuliert werden, aber das sollte nicht in der Gruppe selbst passieren. Das war, denke ich, auch der Grundwiderspruch.

Das geschah also zunehmend. Erst kam Herr Wagner, dann andere. Können Sie vielleicht dazu noch etwas sagen, etwa am Beispiel von Herr Vaatz? Wie war das?

Das war schon mehr oder weniger in der Phase meines Ausschlusses. Es gab mehr oder weniger den Konsens, dass die Gruppe bei der Personenzahl von 20 bleiben sollte und wenn jemand ausscheidet, dann sollte jemand kooptiert werden. Das ist ja eine Entwicklung, die erst Ende Oktober eingesetzt hat.

Traf das Ihre Zustimmung? Traf das allgemein die Zustimmung in der Gruppe? Sie sagten vorhin, es gab keinen Widerspruch, nun gibt es ja zwischen Widerspruch und Zustimmung auch noch etwas. Wie würden Sie das Gefühl oder die Befindlichkeit an der Stelle beschreiben?

Also die Anfängliche Kooptierung von Herbert Wagner, da würde ich schon noch eine Zustimmung sehen. Nachher gab es dann schon eine Reihe von Fragezeichen und ich hätte mit ziemlicher Sicherheit diesen Kurs der politischen Profilierung, also der Eigenprofilierung der Gruppe, nicht mitgetragen.

Wie würden Sie den beschreiben, diesen Kurs der Profilierung? Wie spürte man das?

Das war im Wesentlichen ja nach meinem Ausschluss. Für mich war diese zufällige Zusammensetzung ein wichtiges Element und auch die Position als Vermittler. Dann ging es natürlich um die Eigenformulierung von politischen Forderungen, also nicht darum, dem Neuen Forum“ oder wem auch immer, eine Unterstützung zu geben, sondern eben selbst als politische Kraft aufzutreten. Aber das ist ohne mich passiert dann.

Hatten Sie, so weit Sie das eben beobachten konnten, den Eindruck, dass das von außen durch Interessen gesteuert wird?

Zum damaligen Zeitpunkt nein. Im Nachgang ist man immer klüger und ich denke, das da schon frühzeitig geschaut wurde: „Wer ist denn brauchbar für … ?“ Sicherlich nicht mit irgendwelchen klaren Zielen oder: „Wen hätte man denn gern da hinein?“ Wobei eben dieses „man“ auch nicht durch mich definiert werden kann. Es gibt da sicher Interessen, die dort gewirkt haben.

Aber Sie können die nicht beschreiben?

Ich kann sie nicht beschreiben oder benennen. Ich weiß auch nicht, ob diejenigen, die da eben vielleicht mehr wissen, dazu was sagen wollen.

Wir diskutieren ja ein Stück weit in die eine Richtung, also in die Richtung der Vertreter der Kirche oder der Vertreter CDU. Hatten Sie mal in dieser Gruppe den Eindruck, dass auch die andere Seite, also Vertreter des MfS oder der SED versuchten, Ihre Interessen in dieser Gruppe durchzusetzen? Die Gruppe also unter Ihre Führung zu bringen?

Nein, den Eindruck hatte ich nicht. Es gibt ja eine ganze Reihe von Staasiberichten, auch von dem IM, der sich mir sehr intensiv gewidmet hat. Sicher gab es immer das Interesse, auch Informationen aus der Gruppe zu erhalten, aber so weit ich das sagen kann, gab es zumindest keine von Erfolg gekrönte Beeinflussung der unmittelbaren Arbeit dieser Gruppe der 20. Was nachher in den initiierten Sektionen, den Arbeitsgruppen, dann passiert ist, das ist ein anderes Thema. Die Gruppe selbst ist meines Wissens auch von inoffiziellen Mitarbeitern frei geblieben.

Dieser IM war sozusagen außerhalb der Gruppe …?

Es war mein damaliger Hauptabteilungsleiter, mit dem ich mich auch recht gut verstanden habe, der dann ein auffälliges Interesse entwickelte. Für mich ist es nach wie vor interessant. Es gibt ja teilweise veröffentlichte Berichte, die ich als Buch auch da habe. Mich hat meine übrige Akte sonst nicht weiter interessiert. Ich kann nur sagen, er hat wahrheitsgetreu berichtet und ich kann auch sagen, dass ich ihm im Gespräch, unabhängig davon, ob er IM ist, keine anderen Sachen mitgeteilt habe. Nur diejenigen, die wir ohnehin öffentlich haben wollten, wo mir auch vollkommen egal war, ob da irgendein Staatssicherheitsdienst mithört oder mitschreibt. Es gibt auch ausdrücklich die Passage, wo er mich mal nach Namen gefragt hat. Dass ich ihm keine Namen sagte, so steht es auch in seinem Bericht, dass eben in der Gruppe und sonst im Umfeld jeder selber entscheidet, wann er mit seinem Namen an die Öffentlichkeit geht. Ich werde für keinen anderen irgendwelche Namen präsentieren.

Sie sagten, das war Ihr Abteilungsleiter. Das heißt also, es war ihr Chef auf Arbeit?

Ja. Und sein Führungsoffizier war mein ehemaliger Arbeitskollege, der eben dann gewechselt ist zum MfS.

Haben das Sie das geahnt oder gewusst zu dem damaligen Zeitpunkt?

Das ist immer so eine Gretchenfrage. In der Situation, wo er mich nach Namen gefragt hat, da hab ich schon spitze Ohren bekommen. Mir ist auch der Hauptmann Bock mal im Betrieb auf dem Gang begegnet. Dass er nun natürlich da gerade zum Gespräch mit dem IM war, das war mir da nicht bewusst. Mir war auch nicht bewusst welchen Umfang das hatte, mit welcher Akribie da berichtet wurde. Wobei, nach wie vor muss ich sagen, das ist wahrheitsgetreu, es ist nichts hinzu erfunden oder verändert. Es gibt wohl irgendwie noch einen anderen Bericht von einem IM, der mir nicht bekannt ist, dass auf der Rathaustreppe da eine Diskussion war. Der ist, soweit wie ich ihn kenne, auch wahrheitsgetreu. Deswegen bin ich immer so ein bisschen skeptisch, wenn heute gesagt wird, da wäre ein Großteil der Akten freie Erfindung.

Es gab da einen Energiebeauftragten der Stadt Dresden, der dann auch später eine politische Kariere startete. Meinen Sie ihn vielleicht? War er in diesem Gespräch involviert oder trafen Sie ihn schon bereits um diese Zeit?

Viehweger2, eigentlich nur am Rande. Es war natürlich für uns die Verbindung, klar das war der Stadtrat für Inneres, Jörcke3. Da ging es eben hauptsächlich um die Frage der Inhaftierten, da gab es ja mehrere Gespräche. An einigen war ich beteiligt, an anderen nicht, als es eben um die Zugeführten oder Verhafteten ging. Im Nachgang dann wurde ja bekannt, dass die zum Teil auch schon im Schnellverfahren verurteilt waren zu mehrmonatigen Haftstrafen, dass die eben wieder frei kommen.

Also all solche Themen wurden in diesen Runden angesprochen?

In verschiedenen Runden, nicht unbedingt in dem großen Rathausgespräch, sondern eben durchaus in kleineren Gesprächen.

Herr Viehweger war aber nicht dabei?

Er spielte für mich keine Rolle, das muss ich mal sagen. Ich habe ihn nicht irgendwie als eine wichtige Person wahrgenommen.

Können Sie vielleicht den Umfang skizzieren? Wie viele Treffen gab es in etwa, an denen Sie teilgenommen haben?

Naja, es gab innerhalb der Gruppe schon eine ganze Menge Treffen. Es ging erstmal darum, überhaupt einen Selbstfindungsprozess zu haben. Es gab wohl drei Rathausgespräche mit Berg­hofer, an denen ich teilgenommen habe und dann noch an einigen kleineren Runden zu bestimmten Einzelthemen. Wieviele? Da würde ich schon so zur Zehn tendieren.

Können Sie sich an den Umfang dieser MFS-Berichtsbögen oder Meldungen über Sie in dieser Zeit erinnern? Wissen Sie, wieviel da geschrieben wurde, welchen Umfang das ungefähr eingenommen hat?

Es sind schon einige Seiten, die allerdings alle so aus dem Oktober 1989 dort geschrieben wurden.

Mehr als hundert?

Wieviel die Akte selber enthält, das weiß ich nicht, ich habe sie noch nie gelesen. Es sind vielleicht zehn Seiten, die in dem Buch „Gruppe der 20“4 zitiert sind.

Kommen wir mal zu dem Zeitpunkt, zu dieser Phase, wo sich die Spannung innerhalb der Gruppe und zu Ihnen etwas vergrößerte. Wie hat sich das aus Ihrer Sicht dargestellt, also die Stimmung in der Gruppe und in ihrer Position?

Es gab die Situation schon beginnend in den ersten Tagen, dass ein Bröckeln passierte. Das heißt, die Gruppe der 20 hatte zu dem ersten Rathausgespräch noch mehr als 20 Mitglieder. Einige sind praktisch gleich nach dem ersten Gespräch aus unterschiedlichen Gründen weggeblieben. Ich will da auch nicht spekulieren, es mag sicher die eine oder andere Person gegeben haben, die dann eben weggeblieben ist, um die Gruppe nicht aufgrund der eigenen Vita zu belasten. Es sind bloß Dinge, die man sich ein bisschen zusammenreimt. Andere sagten dann eben, Kollegen: „Willst du dich in so einen Blödsinn reinhängen?“ Diese 20 Personen haben sich ja mehr oder weniger erst zum zweiten Rathausgespräch herauskristallisiert. Die Gruppe bestand ja zwischenzeitlich dann auch durchaus nicht aus 20 Personen, sondern es waren dann zehn oder elf, die sich dann auch regelmäßig trafen, wo es dann auch um die Frage der Kooptierung ging. Ich fand es auch sehr interessant mit dem Heiko Pstrong über seine Reflektion dieser Zeit reden zu können. Es ist mir leider nicht gelungen, irgendwie eine Verbindung mit ihm zu bekommen.

Sie wissen also nicht, wo er ist?

Er war irgendwie vor Jahren Sozialarbeiter, wohl auch im Gefängnisbereich tätig, mehr kann ich nicht sagen. Ich hatte irgendeine Telefonnummer, habe da auch was auf den Anrufbeantworter gesprochen, habe aber nie eine Reaktion bekommen.

Nun zur Spannung selber in der Gruppe und zu Ihnen. Wo sahen Sie nun die Diskrepanz, wo sahen Sie sich? Noch in der Gruppe oder ein Stück außerhalb der Gruppe? Spürten Sie, dass deren Vorstellungen nicht mehr mit den Ihren harmonierten?

Dafür fehlte fast die Zeit. Es ging ja so rasch, es gab mehr oder weniger die Findung der Gruppe und dann kam eigentlich schon mein Ausschluss.

Und wie kam das zustande? Wodurch kam das zustande?

Das waren persönliche Vorwürfe, ich sei eben ein gewalttätiger Mensch und könnte den friedlichen Dialog dort nicht begleiten. Es gab auch keinerlei Überprüfungsinstanz, sondern eben so eine Art Gericht, mit solchen roten und schwarzen Kügelchen, die eben dort in den Hut geworfen worden von Herrn Heitmann, also in seinen Hut, den er da mitgebracht hatte.

Weiße und schwarze oder rote und schwarze Kügelchen?

Weiß und schwarz. Weiß wäre eben ein Vertrauensbeweis für mich. Meines Wissens waren es dann eben ein oder zwei weiße und neun schwarze.

Das heißt, es gab so eine Abstimmung innerhalb der Gruppe und waren das Papierkügelchen oder Plaste?

Das kann ich gar nicht sagen, ich habe sie nicht in der Hand gehabt.

Woher kamen diese Vorwürfe der Gewalttätigkeit? Wie kam es denn dazu?

Das kam aus der Quelle meiner geschiedenen Frau.

Das heißt, die hat ihnen noch mal eins ausgewischt?

So kann man es auch formulieren.

Das hat ja eigentlich mit diesem politischen Prozess und mit der politischen Zeit wenig zu tun.

Nein, aber es war natürlich auch eine Lesart. Im Nachgang findet man es ja auch wieder, z.B. in einem Nebensatz in den Memoiren von Herbert Wagner und Steffen Heitmann: „dass dieser bunte Vogel da eben nicht so hin passte.“ Also einmal schon die Mitgliedschaft in der SED und dann eben auch dieses nicht konform Gehen mit dieser und auch nicht mit anderen Parteien.

Wie muss man sich das vorstellen? Ihre Frau ist da hingegangen und hat was gesagt?

Es soll irgendwie einen Brief gegeben haben, der mir auch nicht weiter bekannt ist. Es sind natürlich in solchen Situationen auch alles Dinge, die sich einem nachprüfbaren Verfahren entziehen, so würde ich es mal formulieren.

Weil, die Zeit einfach zu …

Weil die Zeit jetzt so kurz ist und weil natürlich auch dafür keinerlei Institutionen vorhanden sind.

Das heißt, die Gruppe hatte auch eine Eigendynamik, hatte auch so eine Eigengerechtigkeit oder wie kann man das ausdrücken?

Ja. Das ist auch die Geschichte, mit der ich da über Kreuz lag. Als der Paria, der Ausgestoßene, war ich dann auch nicht mehr in der Lage, dort Einfluss? zu nehmen oder mich zu äußern. Es wäre, zumindest aus meiner Sicht, eine öffentliche Äußerung nicht sinnvoll gewesen. Es war für mich dann schon ein Verhalten wie im Politbüro, dass also die Gruppe selbst entscheidet, wer Mitglied wird. Damit muss ich einmal eine Situation erreicht haben, wo die Gruppenzusammensetzung stimmt und dann kann eigentlich keine Kontrolle, kein Einfluss? mehr von außen her passieren.

Haben Sie das bedauert oder haben Sie zu dem damaligen Zeitpunkt gesagt: „Gut, kommt mir gerade recht“?

Ich habe es schon bedauert, ja. Nur habe ich in der Situation keine Möglichkeit gesehen, da eine Auseinandersetzung zu führen, die hätte für mich keinen Raum gehabt.

Hätten Sie sich gerne fortlaufend in den Prozess eingebracht? Wären Sie gerne am Ball geblieben?

Bis zum 9. November sicherlich. Nach dem 19. Dezember hatte ich eigentlich erstmal die Nase voll, das sind ein bisschen die Eckdaten. Einmal die Grenzöffnung, als dann eigentlich die Überlegungen für einen eigenständigen Weg völlig überlagert waren, dann war es die Kohls Rede vor der Frauenkirche, wo es für mich von der Stimmung her so erschreckend war, dass ich, wenn ich gewusst hätte wohin, mich sicherlich mit Auswanderungsgedanken beschäftigt hätte. Eine Stimmung wie auf einem Fussballplatz. Das Denken völlig ausgeschaltet. „Helmut hilf!“ oder „Helmut! Helmut!“, das war für mich erschreckend. Das war für mich das Zeichen, es besteht zumindest bei der Masse der Leute, die dort waren, gar kein Interesse daran, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Es soll jemand kommen, der Gott aus der Maschine oder Helmut Kohl, der uns eben glücklich macht. Das war nun absolut nicht mein Ding. Es ging bis hin zu außerordentlicher Aggressivität. Es gab ja so ein paar Gegendemonstranten, die eben da „Helmut, nimm es nicht so schwer, wir bleiben DDR!“ auf so ein kleines Spruchband gemalt hatten. Die sind ja fast verprügelt worden. Eine Aggressivität, die da mit einer friedlichen Umgestaltung nichts mehr zu tun hatte.

Wenn Sie heute so, mit dem Abstand von 20 Jahren, darauf schauen, auf diese Ereignisse im Herbst ’89, wie würden Sie das beschreiben? Hat diese Zeit Ihr ganz persönliches Leben verändert?

Ja, ganz gewaltig. Ich weiß nicht, vielleicht wäre ich noch weiter irgendwo in der Mikroelektronik geblieben, aber dort habe ich im Frühjahr 90 gekündigt und habe mir verschiedene Dinge angeschaut, verschiedene Sachen ausprobiert. Ich habe auch mal die Kommunenbewegung in der Bundesrepublik und da verschiedene Dinge angeschaut und letztendlich hat das doch zu diesem Projekt hier geführt. Das wäre eben in der DDR völlig undenkbar gewesen. Gewünscht hätte ich mir sicherlich was anderes, als den bloßen Anschluss an die Bundesrepublik, weil ich denke, das ist auch nicht der Weisheit letzter Schluß. Mehr oder weniger haben wir auch 20 Jahre wieder verstreichen lassen, ohne dass es ernsthafte Versuche, Überlegungen oder Alternativen gibt, die für meine Begriffe dringend notwendig sind. Wobei mein Realismus sagt: Solange es noch irgendwie weitergeht, werden wir auch weitermachen in dieser Bundesrepublik, bis es einfach nicht mehr  geht – sei es mit irgendwelchen Abwrackprämien oder irgendwelchen Bankensubventionen. Ich denke, dass der Zeitpunkt nicht so sehr fern ist, wo eben diese Regelungsmechanismen nicht mehr greifen und dann werden wir sehen, was dann passiert.

Wie haben Ihnen denn diese Erfahrungen aus dem Herbst ’89 in Ihrem ganz privaten Leben vielleicht geholfen oder Sie in Ihrer ganz privaten Weiterentwicklung auch beeinflußt? Diese Erfahrungen aus dem Herbst ’89 über die letzten 20 Jahre?

Sie haben mich zum Teil viel gelassener gemacht. Für mich ist eine wichtige Erfahrung, dass der Zusammenbruch einer Gesellschaft durchaus nicht das Ende oder eine Katastrophe ist, sondern dass es immer Perspektiven, immer Entwicklungen gibt. Das heißt, auch für mich hätte ein Zusammenbruch der Bundesrepublik oder eines europäischen Währungssystems nichts Erschreck­endes, sondern ist eigentlich mehr eine Perspektive. Dass man eben sagen kann: „Jetzt klammern wir uns nicht mehr an irgendwas Überkommenes, wir klammern uns nicht mehr an irgendeinen albernen Begriff von Arbeit, den es ohnehin schon nicht mehr gibt. Wir klammern uns nicht an irgendwelche Aktien oder Geldstabilität oder Ähnliches.“, sondern es geht ja darum, dass wir ein Leben führen können, auch mit einem gewissen Maß an Glück. Das hängt von anderen Dingen ab, als von der Stabilität der Aktienkurse oder Stabilität des Euros oder wieviele Autos in Deutschland verkauft werden.

Das führt mich direkt zu meiner vorletzten Frage, wie Sie denn eigentlich ihr persönliches Leben heute, 20 Jahre nach der friedlichen Revolution, beschreiben würden? Was sind Sie für ein Mensch heute, 20 Jahre danach?

20 Jahre älter. Langsam nähert man sich dem oder ist schon drin, was man früher als alten Knacker angesehen hat. Ich finde die Zeit nach wie vor sehr spannend, insbesondere die Zeit zwischen dem 8. Oktober und dem 9. November, wo es problemlos möglich war, mit wildfremden Menschen zu interessanten, anregenden Themen ins Gespräch zu kommen, auch zur Entwicklung von Ideen. Natürlich, erstmal vollkommen ins Blaue hinein. So eine Zeit würde ich mir gerne wieder wünschen. Ich bin viel gelassener geworden aus der Erfahrung eines doch rasanten und enormen Zusammenbruchs eines ganzen Staates, den wir, vielleicht so ein paar Jahre vorher, 1985, fast als ewig gegeben angesehen hätten. Es gibt auch ein Menge interessanter Felder, die sich für mich neu erschlossen haben. Noch ist nicht die Situation eingetreten, dass ich an irgendwelche rechtlichen oder sonstigen Grenzen dieser Gesellschaft gestoßen bin.

Führen Sie ein erfülltes Leben? Vermissen Sie etwas? Sind Sie glücklich? Sind Sie ein politischer Mensch geblieben?

Natürlich bin ich ein politischer Mensch geblieben, der sich lange Jahre in der Kommunalpolitik von Dresden bis hin zu der vorjährigen Oberbürgermeisterkandidatur engagiert hat. Wobei ich sagen muss, ich konnte nicht vermitteln, was mein Anliegen war. Mein Anliegen war weniger, da um irgendeinen Posten zu buhlen, sondern um eine andere politische Kultur, die ich für dringend erforderlich halte, zumindest in der Kommunalpolitik. Nämlich eine reale Beteiligung und Aktivierung der Bürger und Bürgerinnen.

Das heißt, Sie waren immernoch kommunalpolitisch tätig in den 20 Jahren?

Ja. Anfänglich in der Stadtverordnetenversammlung bis 1994, dann im Ortsbeirat Neustadt. Sicherlich, wenn man eben irgendwelche Wähler oder Wahlergebnisse sieht, nicht sehr erfolgreich. Ich habe auch die Bürgerliste in Dresden mit initiiert, die jetzt quasi nicht mehr existiert, mit einem Programm, was ich nach wie vor für hervorragend halte. Ich muss einfach konstatieren, dass im politischen Raum der Zeit dafür kein Platz ist. Auf der einen Seite können sich die zur Zeit bestehenden Parteien und Gruppierungen noch irgendwie durchlavieren. Auf der anderen Seite ist das Interesse der Menschen, so muss ich das konstatieren, nicht so wahnsinnig groß, eben ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Das ist unbequem, ist anstrengend. Die Methoden, die es gibt, auch sehr gute Methoden, stoßen auf sehr wenig Gegenliebe. So ist keine qualifizierte Bürgerbeteiligung zu machen.

Wenn Sie diese Bürgerliste mit drei Worten Ihrem historischen Platz zuordnen sollten, wo würden Sie den bestimmen?

Ich würde es als große Überschrift sagen: „Reale Bürgerbeteiligung!“ Das heißt was anderes, als Meinungsumfragen, was anderes, als die Verantwortung abzugeben an Parteien. Dafür gibt es unter anderem eben eine sehr qualifizierte Methode mit einem schrecklichen Begriff, Planungszelle – erfunden worden vom Professor Dienel5 in Wuppertal, Anfang der 70er Jahre. Dort werden politische Probleme oder überhaupt Probleme nicht mehr von gewählten Vertretern oder von Interessengruppen behandelt, sondern von nach einem Zufallsverfahren ausgewählten einfachen Leuten. Die kommen miteinander ins Gespräch, werden informiert und geschult über einen bestimmten Zeitraum, um dann im Gespräch untereinander und im Gespräch mit den Fachleuten zu einer Empfehlung zu kommen. Das halte ich für ein hervorragendes Instrument.

Das ist ja so ähnlich wie die Gruppe der 20 oder nur ein kleines bisschen?

Es gibt sicherlich ein paar Parallelen zur Gruppe der 20 in der Erstentstehung. Wobei eben die Auswahl der Gruppe nicht völlig zufällig war. Heute würde so eine Planungszelle wirklich als Zufallsstichprobe aus der Einwohnermeldekartei gezogen werden. Aber in der Vielfalt der Repräsentanz und in der Freiheit von Eigeninteressen gegenüber den augenblicklichen Problemen, sehe ich schon da Parallelen.

Vielen herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch!


1: Hotel Newa ist heute: Hotel Pullmann

2: Axel Viehweger

3: Hans Jörcke

4: Die Gruppe der 20 von Michael Richter und Erich Sobeslavsky, Böhlau Verlag, München 1999

5: Dieter C. Dienel