Holm Vogel

Kurzbiografie

Holm Vogel war mit seinen Freunden Andre Lange und Kai-Uwe Stelzer am vierten Oktober 1989 an den Ereignissen am Hauptbahnhof beteiligt. Zuvor waren die drei wegen der Teilnahme an einer Demonstration gegen das Reinst-Silizium-Werk in Gittersee verhört wurden. Sie wurden später inhaftiert, wegen Rowdytums angeklagt und erst am zehnten November, einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer, wieder freigelassen.

Heute baut Vogel bewegliche Objekte für Schaufenster. Das Interview führt Thomas Eichberg.

Holm Vogel, geb. 1966

Interview

Herbst ’89, Dresden. Ich erinnere mich, es war ein ziemlich warmer Herbst, die Leute haben geschwitzt in den Botschaften und das Wasser war knapp. Wie haben Sie den Sommer und den Herbst in Dresden erlebt?

Ich kann mich erinnern, dass ich schon damals die Ausreise beantragt hatte. Schon Jahre vorher. Ich habe nicht an eine Veränderung in diesem Land geglaubt und habe mir gedacht: Wenn du jemals in deinem Leben etwas von der Welt sehen willst, kannst du nur das Land verlassen. Alles andere war für mich nicht real. Die ersten Aktionen waren in Gittersee. Wir haben erfahren, dass da ein Reinstsiliziumwerk gebaut werden soll, wo für CDs etwas hergestellt wird, bei dem man hochgiftige Stoffe transportieren musste. Wir haben dagegen mit einem Gottesdienst und Transparenten und so protestiert. Das war immer eine heikle Sache, man hatte eine gewisse Angst, was da so passieren wird. Aber beim ersten Mal ist, glaube ich, gar nichts passiert, außer dass man natürlich das Gefühl hatte, man wird beobachtet. Aber dann habe ich selbst ein Transparent gemalt und draufgeschrieben „Ehrliche Wahlen, saubere Umwelt, statt Reinstsiliziumwerk Gittersee“. Die Kirche war ziemlich voll, es passten gar nicht alle rein. Nach diesem Gottesdienst haben wir die Transparente ausgebreitet. Wir haben die eine Weile gehalten und die Leute haben sie gelesen und sind vorbeigegangen und dann habe ich das wieder zusammen gerollt, das Transparent, und habe es wieder unter die Jacke gesteckt und wollte hoch – die Leute gingen immer von der Kirche hoch zum Werk, wo schon gebaut wurde. Dort oben wollten wir das Transparent noch einmal ausbreiten. Dort habe ich zum ersten Mal Kai-Uwe getroffen und ich habe ihn gefragt und er sagte: „Ja, ich komme mit hoch, um das Transparent mit auszubreiten.“ Sven Tauchertsagte, er habe schon einen Strafbefehl und müsse 2000 Markfür eine Demo vorher zahlen, er würde nicht mit hochgehen. Kai-Uwe sagte dann: „Ja, ich komme mit hoch. Wir machen das oben noch mal auseinander das Ding.“ So auf halbem Wege kam dann Polizei, ob das ein Zivilbeamter oder einer in Uniform war, das kann ich nicht mehr genau sagen, auf uns zu und fragte: „Was haben Sie hier unter der Jacke?“ Da hatte er das Transparent gesehen. Dann wurden wir in ein Polizeiauto eingeladen, also nicht brutal, an diesem Tag ganz normal, im Befehlston natürlich. Dann wurden wir auf die Polizeiwache gefahren und von einem sogenannten Vernehmer befragt, der uns immer Fragen zu dem gestellt hat, was wir dort wollten. Wir hatten dafür keine Strategie. Was wir da tun war aus unserer moralischen Sicht legal und wir haben alles erzählt, was die wissen wollten. Wir haben nicht irgendwas beschönigt oder verändert oder irgendwas anderes erzählt oder versucht, nichts zu erzählen, sondern haben denen erzählt, was sie wissen wollten. Solche Vernehmungen gingen schon mal ein paar Stunden. Das wurde alles mit Schreibmaschine abgetippt.

Es waren nicht die ersten Vernehmungen. Davor war noch das in der Schule. Da hatte ich einen Aufnäher, auf dem „Schwerter zu Pflugscharen“ stand. Das war so eine kleinere Auseinandersetzung mit dem Staat. Die mussten abgemacht werden und die, die sie eben bis zum Schluss nicht abgemacht haben, denen wurde das abgetrennt. Das war aber bloß so eine kleine Vernehmung, vor der Sache in Gittersee, da war ich ja schon in der Lehre, also nicht mehr in der Schule. Das nannte sich zu DDR-Zeiten „Facharbeiter für Grünanlagen“, man könnte heute sagen „Landschaftsgärtner“. Man bekam ein Lehrstellenverzeichnis und was da nicht drin stand, das war nicht im Angebot. Man konnte sich nicht etwas ausdenken oder einen Beruf lernen, den man vielleicht gerne machen würde, wenn der dort nicht in dem Heft drinnen stand. Ich hatte jetzt keine konkreten Berufsvorstellungen und Gärtner klang ganz gut, das konnte ich mir ganz gut vorstellen. Es ist natürlich alles ein bisschen anders gewesen, als ich mir das im Vorfeld gedacht habe.  Gärtner, denkt man, hat viel mit Pflanzen zu tun und so weiter. In Realität gab es aber zwei Teilbereiche: einmal Pflege und einmal Neubau. In der Pflege hat man zum Großteil in Parks den Dreck weggemacht und im Neubau hat man wie auf einer Baustelle gestanden und mangels Technik immer relativ schwere Arbeit gemacht. Man hat immer irgend etwas hin und her geschaufelt. Es war nicht so das, was ich mir unter Gärtner vorgestellt habe. Da gab es auch Gärtner, die im Gewächshaus gearbeitet haben, aber das war eben nicht unser Bereich.

Wie lange haben Sie dort gearbeitet? Also von wann bis wann?

Dort habe ich die Lehre gemacht und dann auch noch ein paar Jahre dort gearbeitet. Nach der Wende habe ich dann auf verschiedenen Friedhöfen als Gärtner gearbeitet. Aber ich hatte die Ausreise schon lange gestellt. Mir ging die ganze staatliche Bevormundung und so ziemlich auf die Nerven und auch, dass ich wegen sinnlosen Dingen herum laufen musste, dass es alltägliche Sachen nicht einfach immer zu kaufen gab, das hat mich ziemlich genervt. Es war sicher auch so, dass ich damals, wie viele andere, von bunten Kaugummis und von schnellen Autos geträumt habe, um es mal salopp zu formulieren und ich hatte den Irrtum wie viele andere, dass, wenn ich auch mal reisen kann, automatisch so ein Lebensglücksgefühl kommt. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es eben nicht so ist oder bloß für eine relativ kurze Zeit.

Gehen wir gedanklich noch mal kurz ein Stück zurück in der Zeit. Auf dem Bahnhof: Wie kam es dazu? Ihr kamt nun auf den Bahnhof in die Halle, können Sie sich noch daran erinnern, wie das zu Stande kam?

In Gittersee, bei der Demo und so weiter, habe ich ein paar Leute kennen gelernt. Darunter war eben Kai-Uwe, Sven, Andre Lange und Stefan Eichler und verschiedene andere. Wir haben dann verschiedene Aktionen zusammen gemacht und waren dann öfter zusammen, quasi ein Freundschaftskreis. An dem Tag der Auseinandersetzungen auf dem Hauptbahnhof waren wir wieder zusammen. Ich denke, wir waren beim Stefan Eichlerder hatte eine eigene Wohnung, was auch eine Seltenheit war damals. Wir haben Deutschlandfunk oder irgendeinen Westsender gehört, dass auf dem Hauptbahnhof  Auseinandersetzungen stattfinden. Wir haben uns überlegt: Da müssen wir hin, unbedingt, müssen gucken, was da los ist. Wir wussten natürlich auch, dass von Prag die Ausreisewilligen mit den Zügen in den Westen gebracht werden sollen. Ich hatte als einziger vom Freundeskreis die Ausreise beantragt. Die anderen waren der Meinung, in der DDR was verändern zu wollen und zu können. Deshalb haben wir von einer DDR Fahne das Emblem abgetrennt und da haben wir ein Fragezeichen daraufgemacht. Das sollte quasi die Frage bedeuten, ob die Ausreise der bessere Weg ist, als das Land nicht zu verlassen, um was zu verändern. Ich wollte zwar selber raus, aber ich habe das so akzeptiert, obwohl es nicht meine Aussage war. Hier was zu verändern schien mir relativ aussichtslos. Mit dieser Flagge sind wir in Richtung Bahnhof gelaufen. Auf dem Bahnhof gab es eine offene Auseinandersetzung zwischen der einen Seite, auf der die Gleisanlagen waren und dem damaligen Intershop. Da ging es rechts und links die Treppen hoch. Da war ein Durchgang, wo heute eine Gaststätte ist. Dort waren Barrikaden aufgebaut. Auf der Seite zur großen Bahnhofshalle hin waren viele, viele Leute – Demonstranten, die allerdings zu den Barrikaden einen gewissen Abstand hatten, weil auf der Gleisseite, hinter den Barrikaden, waren Polizei, Stasi, Staatsleute und direkt an den Barrikaden stand Wasser. Die hatten so eine Art Wasserwerfer. Es war einfach nur ein C-Schlauch am Hydranten angeschlossen. Ein richtiger Wasserwerfer war es nicht, hatten die auch nicht oder konnten sie in den Bahnhof nicht reinfahren, keine Ahnung. Auf jeden Fall hielt sich der Strahl schon in Grenzen. Aber zum ersten Mal habe ich Polizei gesehen hinter dieser Barrikade, in voller Montur, also mit Schild und Helm. Das hatte ich zu DDR-Zeiten vorher nie gesehen. Wir kamen also dort hin und sahen die Auseinandersetzung, über die Barrikaden, die da aufgebaut waren in dem Durchgang. Da war noch Platz, ungefähr zwei, drei Meter. Da wurde Zeug hin und her geworfen, von Demonstranten genauso, wie das wieder zurück kam. Das war ein ständiges Hin und Her. Es war für uns nicht einzusehen, von wem das ausging, war uns auch völlig egal. Für uns war klar, dass die Gewalt vom Staat ausgeht. Wir sind dort hin. In den ersten zehn  Metern hinter diesen Barrikaden stand auch schon das Wasser. Die meisten wollten nicht darin rum laufen und standen in einem gewissen Abstand. Wir sind aber gleich dort vorn rein. Es war keine vom Kopf her überlegte Sache. Ich hatte sogar kurz davor schon meine Ausreisegenehmigung erhalten. Wenn ich jetzt rein kopfmäßig überlegt hätte, wäre ich dort gar nicht rein gegangen in diesen Pulk. Ich hätte mich zurück gehalten, aber das war einfach eine emotionale Sache, dass ich gar nicht überlegt habe. Wir sind dort alle vor und haben alles, was wir greifen konnten, was dort nicht irgendwie fest war, darüber geworfen und irgend jemand, ich denke es war Kai-Uwe, aber das ist unwichtig, reichte mir den Feuerlöscher aus irgendeinem Seitenraum. Es war ein Pulverlöscher. Die anderen hatten mit dem Wasser gesprüht und mit dem Feuerlöscher mussten die erst mal zurückweichen, weil dieses Pulver natürlich auch durch Öffnungen im Helm durchkam. Für mich war es in dem Moment so ein Kampf gegen Goliath, der eigentlich immer am längern Hebel saß, aber in diesem Moment eben nicht. Es hat auch einen gewissen Spaßeffekt gehabt für uns, obwohl es natürlich auch mit Angst verbunden war, logischerweise. Aber in dem Moment hat man gar nicht darüber nachgedacht. Es war klar,  auf welcher Seite wir stehen, da wir im Vorfeld immer schon mehr riskiert haben als die Masse oder die meisten Leute, sag ich mal so. Da war es dann in dem Moment auch klar für uns, dass wir dort oder dort vor gehen und mitmischen bei der Angelegenheit. Diese Auseinandersetzung lief eine ganze Weile und irgendwann haben wir diese Halle verlassen und sind in Richtung Demonstranten gelaufen. Wir sind nicht über die Barrikaden gekommen. Ob das dann noch weiter lief, haben wir nicht weiter verfolgt. Wir sind dann auf die Prager Straße raus und dort waren auch noch Auseinandersetzungen. Dann sind wir eine Weile dort gewesen und sind irgendwann auch wieder nach Hause.

Andre Lange war nicht mehr da, den hatten wir irgendwie verloren. Er war die ganze Zeit mit dem Fotoapparat unterwegs und hat Fotos gemacht. Wir konnten uns denken, dass wir gesucht werden. Den Andre hatten sie offensichtlich verhaftet an dem Tag, weil er war auch zu Hause nicht. Wir haben bei seinen Eltern angerufen und da er über Nacht nicht nach Hause kam, war es relativ klar, dass sie ihn verhaftet hatten. Wir konnten uns natürlich vorstellen, dass sie Rückschlüsse auf uns ziehen können, wenn sie ihn haben. Sie hatten auch Videoaufnahmen gemacht, auf denen man zwar nicht viel erkennen konnte, aber es war auf jeden Fall klar, dass wir auch gesucht werden. Da wurde uns empfohlen, mit Familie Kalex Kontakt aufzunehmen. Das haben wir gemacht und die haben gesagt: „Es ist besser, wenn Ihr Euch versteckt erst mal für die nächste Zeit. Vielleicht kennt Ihr jemanden, bei dem Ihr wohnen könnt, jemand, der nicht im Zusammenhang zu Eurem Freundeskreis oder familiären Umfeld zu bringen ist.“ Da ist uns dann nur die Dorothea eingefallen, da gab es nicht all zu viele Möglichkeiten, muss man mal sagen. Dort sind wir gewesen und die haben uns noch einen Jugendpfarrer genannt, den mussten wir jeden Tag anrufen. Sie haben gesagt: „Ja, den ruft Ihr jeden Tag an, erzählt irgend etwas und solange Ihr anruft ist klar, dass Ihr noch frei seid. Wenn Ihr nicht mehr anruft, dann wissen wir, dass sie Euch haben. Dann werden wir versuchen, irgend etwas zu unternehmen.“ Da sind wir halt bei dieser Dorothea gewesen in der Neustadt auf der Kamenzer Straße.  Wir haben uns dort versteckt und dann von Sven Tauchert erfahren, dass wir gesucht werden. Das war uns schon klar, darüber bestand kein Zweifel. Wir waren dann eine Woche dort. Es war eine kleine Wohnung bei ihr und auf die Dauer war das schlecht machbar. Dann nervte diese Anspannung die ganze Zeit. Wir konnten ja kaum rausgehen oder haben uns nicht getraut. Irgendwann haben wir uns gesagt, irgendetwas müssen wir machen und Kai-Uwe wollte irgendwie versuchen, in den Westen zu fliehen und abenteuerlich durch irgendeinen Fluss schwimmen oder was weiß ich. Für mich war das völlig absurd, weil ich mein Leben nicht riskieren wollte. Das war mir alles viel zu heiß. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich dort durch einen Fluss schwimme oder über einen Todesstreifen versuche rüber zu kommen. Ohne Vorbereitung und ohne Insiderwissen schien mir das völlig aussichtslos – mal abgesehen von der Sache mit den Botschaften. Aber die waren damals dann auch schon alle umstellt. Das war ja auch schon nicht mehr so einfach, nach Ungarn oder in die Tschechei zu kommen, selbst das war schon schwierig. Aus diesem Grund habe ich mir gedacht: Wir stellen uns einfach. Was wollen sie uns? Ich meine, was umwerfend Schlimmes haben wir dort nicht getan. Von Familie Kalex wurde uns aber empfohlen, möglichst keine Aussage zu machen bei den Vernehmungen, damit der Anwalt bessere Chancen hat. Jedenfalls konnte ich Kai-Uwe überreden, dass wir uns stellen und dann haben wir bei der Stasi angerufen und haben gesagt: „Wir kommen morgen mal vorbei, Sie suchen uns ja“ und haben unsere Namen gesagt. Der meinte: „Wer sind sie überhaupt?“ und  „Ja das sagt mir jetzt nichts“ und so. Wir wollen jetzt natürlich auch nicht ewig am Telefon hängen, wir haben von einem öffentlichen Telefon aus angerufen, damals hatte ja nicht jeder ein Telefon zu Hause. Wir wollten den Abend schon noch genießen bis früh, und deshalb haben wir das Gespräch abgebrochen. Wir sind dann noch in der Kneipe gewesen und haben bei mir übernachtet auf der Hohen Strasse. Dort bin ich meinem Vater begegnet und der hat gesagt: „Ja, die waren schon ein paar mal in der Wohnung und haben nach Dir gesucht und nach Dir gefragt und haben in die Schränke geguckt.“ Der hatte immer was in den Ohren drin, damit er in Ruhe schlafen kann, weil den sonst jedes Geräusch gestört hat. Der hat also nicht gehört, wenn jemand rein kam. Da ging nachts mal das Licht an und da standen plötzlich ein paar Leute vorm Bett und haben nach mir gefragt. Die haben in größere Schränke rein geguckt und er hat auch gesagt, obwohl er auf Arbeit war hat er mitbekommen, dass mal jemand in der Wohnung war. Das hat er an verschiedenen Sachen gesehen.  Wir haben gesagt: „Ja ja, wir wissen schon, dass die uns suchen“ und haben uns dann Schlafen gelegt. Am nächsten Morgen ziemlich zeitig klingelte es wild an der Tür. Mein Vater war schon weg auf Arbeit und da stand die Polizei davor und haben uns mitgenommen. Wir brauchten dann nicht selbst zu Stasi fahren, wir wurden hin gefahren. Dann waren wir halt erst mal dort. Drin gab es wieder etliche Vernehmungen und wir hatten erst mal so die Strategie nichts auszusagen zum Fall, weil uns das empfohlen wurde. Das ging halt mit meinem Vernehmer. Ich habe gesagt: “Nein, ich will nichts aussagen zum Fall“ und irgendwie kam dann einer rein zur Tür, ein zweiter Typ, hat auf mich eingeschrien und hat mich so weg geschoben, so dass ich hinfiel. Er hat dann noch ein paar mal mit dem Fuß auf mich eingetreten. Nicht, dass ich irgendwelche Knochenbrüche hatte, aber es war natürlich trotzdem unangenehm. Man hatte dort eher das Gefühl, dass die mit einem machen können, was sie wollen. Man kam sich ziemlich ausgeliefert vor und dieses Gefühl wurde natürlich auch verstärkt. Es wurde mit psychischen Druckmitteln gearbeitet. Also es wurde gesagt: „Ja wenn Du jetzt keine Aussage machst, dann weiß ich nicht, dann kommst Du in die Nasszelle.“ Irgend so etwas in der Art, wo man keine konkrete Aussage hatte, aber selbst seine Phantasie spielen lassen konnte, was dann dort passiert, ob du unter Wasser gesetzt wirst oder untergetaucht oder was weiß ich. Man hat halt so seine Phantasien, um sich so etwas zu überlegen, da müssen schon Leute, die psychologisch geschult sind, mit von der Partie sein. Ich meine gut, das ist wahrscheinlich kein Geheimnis, dass bei Geheimdiensten immer solche Leute mit dabei sind.

Hatten Sie da Angst in dieser Zeit?

Ja, natürlich, vor allem im Gefängnis. Das hat man sich natürlich nicht anmerken lassen, zumindest nicht vor Vernehmern, aber natürlich hatte man Angst, schon seit man verhaftet wurde. Und auch schon, wo man sich versteckt hat, hatte man Angst. Man wusste ja nicht, was passiert. Kai-Uwewar der Meinung, dass die uns auch hätten erschießen können. Das hätte ich nicht geglaubt, sonst hätte ich vielleicht auch versucht über die Grenze zu fliehen. Aber mit langjährigen Haftstrafen und was damit zusammen hängt, ob man nach einer langjährigen Haftstrafe als der selbe Mensch raus kommt wie man rein gegangen ist, solche Dinge habe ich mir schon überlegt. Davor hatte ich schon Angst, logischerweise. Dazu kam, wie gesagt, dass der Vernehmer dann noch rein kam, tätlich gegen mich wurde und mir dann noch zusätzlich Angst gemacht hat. Da war ich dann in einer Situation, in der ich mir gedacht habe: Wenn du jetzt weiter versuchst die Aussage zu verweigern, dann weiß ich nicht, wie das hier ausgeht. So habe ich mir gesagt: Ok, das muss jetzt nicht sein. Dann habe ich alle Sachen wieder ausgesagt zu dem Fall. Wenn wir das von Anfang an gemacht hätten, dann wäre es leichter gewesen, glaube ich. Wenn wir Demos oder irgendwelche Aktionen gemacht hatten vor der Hauptbahnhofsache, waren wir uns unserer Sache moralisch sicher. Da hatten wir keine Skrupel, denen alles zu erzählen. Unsere Meinung und unser Denken zu erklären war für mich kein Problem und für die anderen natürlich auch nicht. Dort waren wir aber in einer Situation, ob man jetzt was Schlimmes gemacht hat oder auch nicht, aber das wurde einem natürlich immer so untergeschoben, da wurde man behandelt, als sei man ein Schwerverbrecher. Man hatte natürlich auch keinen Kontakt zur Außenwelt und wurde  ständig behandelt, als wäre man ein Verbrecher. Von daher war es schwierig auch in dieser Situation zu versuchen, nichts zu sagen. Es ist dann so ausgegangen, dass wir alle unsere Aussagen gemacht haben und dass alles mit Schreibmaschine abgetippt wurde. Mitunter hat dieser Vernehmer auch eigene Formulierungen eingebracht. Die habe ich, so gut wie es ging, noch korrigiert. Was die anderen gar nicht gemacht haben oder beziehungsweise bei den anderen ist es gar nicht zu diesen Tätlichkeiten gekommen, weil die schon im Vorfeld gemerkt haben, hier wollen wir nicht weiter gehen. So habe ich es vielleicht schon ein bisschen weit kommen lassen. Auf jeden Fall kam es an Hand unserer Aussagen zum Prozess,  wo ich zu zweieinhalb Jahren verurteilt wurde, Kai-Uwezu vier Jahren und Andre Lange zu zwei Jahren und drei Monaten, wenn iEch mich recht entsinne.  Gefängnis natürlich, ohne Bewährung. Ich war dann in der Hoffnung, dass ich aufgrund meiner Ausreise irgendwann in den Westen abgeschoben werde, bevor diese unvorstellbare lange Zeit vorbei ist.

Wer war eigentlich die Familie Kalex?

Die Familie Kalex war auch lange schon politisch engagiert. Sie hat meines Wissens zum 13. Februar in der Frauenkirche das erste Treffen oder Gedenken überhaupt organisiert, hatte auch schon ganz viele Probleme mit der Stasi und so weiter. Sie hatte einen Arbeitskreis gegründet, der sich „Wolfspelz“ nannte. Zu dem sind wir gekommen.

Und die lebten in Dresden?

Die lebten in Dresden auf der Tittmannstraße, in der Nähe der Borsbergstraße. Die haben auch organisiert, dass wir dort nicht vergessen waren. Erstens mal war es klar, wo wir nicht mehr angerufen haben bei dem Jungdiakon. Da war so eine Szene: Als unsere Aussagen alle aufgenommen waren, wurden wir von der Stasi in die Schießgasse verlegt. Da war ja auch ein Gefängnis, was ich bis dahin gar nicht wusste. Im Innenhof, da hatte man keine Sicht nach außen. Bei der Umverlegung kam es also erstmalig vor, dass wir uns wiedergesehen haben, ich, der Kai-Uwe und der Andre Lange. Vorher hatten wir natürlich keinen Kontakt. Also was heißt gesehen, das ist auch übertrieben. Man musste immer an der Wand stehen, ausgebreitete Arme und ausgebreitete Beine und die standen neben mir im Gang und Andre flüsterte dann so rüber: „Habt Ihr gehört? In Berlin haben 500.000 demonstriert und haben unsere Freilassung gefordert oder haben unsere Namen genannt.“ Wir wussten aber gar nicht, was außerhalb der Gefängnismauern passiert, wir waren da völlig abgeschnitten, da war auch keine Zeitung, das wurde uns nicht zugänglich gemacht. Ich war erstmal etwas verwirrt über das, was er da sagte. Wir konnten uns aber nicht weiter unterhalten. Im nächsten Moment schrie schon wieder ein Polizist oder Stasityp von hinten: „Ruhe!“ Alles, was ich erfahren habe in dem Moment war, dass da eine halbe Million Menschen irgendwo demonstriert hat und unsere Freilassung gefordert wurde, was mich natürlich im Nachhinein beschäftigt hat. Ich glaube, an demselben Tag oder einen Tag später, wurden wir entlassen aus dem Gefängnis. Das war auch so eine ganz skurrile Situation.

Auf der Schießgasse hatte man einen Freilaufhof, wo man mit anderen zusammen war. Bei der Stasi war das auch einzeln, nur mit den Leuten aus der Zelle, aber auf der Schießgasse waren wir mit fast allen auf der Etage zusammen. Quasi konnte man dort Runden laufen in dem Hof. Da war natürlich ringsherum das Gebäude, man hat bloß nach oben den Himmel gesehen. Da liefen vor mir zwei Menschen und unterhielten sich, und da sagte der eine zum anderen: „Ja haste gehört, man kann jetzt mit dem Ausweis über die Grenze.“ und ich habe das gehört, lief hinter denen und habe gefragt: „Was hast Du gesagt? Sagt das noch mal.“ – „Ja, das stimmt wirklich.“ Ich: „He, das kann nicht sein.“ Der hat mir das glaubhaft versichert. Woher er die Information hatte weiß ich nicht, habe ich sicher auch gefragt oder vergessen. Auf jeden Fall, für mich ein Unding. Aber letzten Endes hat er das nicht gesagt, als wenn er jemanden verscheißern will. Mir war schon klar, dass da auch irgendwas daran ist an dieser Information. An diesem Tag, wo ich das erfahren habe, also an diesem Tag wurden wir dann in die Freiheit entlassen. Das ist aber so ganz skurril, weil man wurde öfter mal von Zelle zu Zelle umverlegt. Bei der Stasi wurde nur eine Nummer genannt: „124! Fertig machen! Vortreten!“ Dann wurde man umverlegt, musste all sein Kram, man hatte ja nicht viel, zusammenpacken und ist dann in die nächste Zelle verlegt worden. So war es auf der Schießgasse dann wieder. Da wurde man allerdings mit Namen, also „Vogel“, gerufen: „Zeug zusammenpacken!“ Ich habe gedacht: Naja, eine Umverlegung. Dann bin ich aber in eine Zelle gekommen, was aber keine typische Zelle war, wo keine Betten und keine Toilette darin war, sondern eigentlich nur ein Raum mit einer Bank. Da saß auch schon Andre Lange darin und das hätten die auf jeden Fall vermieden, wenn nicht irgendetwas Außergewöhnliches wäre. Wir wurden ja genauestens getrennt. Wir haben nie Kontakt gehabt, außer, dass ich durch ein kaputtes Gitter auf der Schießgasse die Leute auf dem Freihof laufen sehen konnte und dann mal runter gerufen habe, aber das war sicher nicht beabsichtigt. Und dann saß ich mit dem Andre Langein der Zelle und sagte mir: He, was ist denn jetzt los? Wollen die uns jetzt verarschen oder was soll das werden jetzt? Dann dauerte es nicht lange und Kai-Uwe kam auch noch in die Zelle. Wir haben uns natürlich dumm angeguckt und haben uns gefragt, was jetzt passiert. Dann wurden wir durch viele Türen geführt und bekamen unsere Sachen, die uns abgenommen wurden. Da haben wir uns gedacht: Die wollen uns jetzt bestimmt verarschen, lassen uns mal kurz raus. Vielleicht wollen sie irgendwelche Kontakte erfahren und uns dann wieder einzusperren. Aber skurril war, dass wir dann durch viele Türen geführt wurden und die Leute, die uns da durchgeführt haben, sahen alle nicht so richtig glücklich aus, irgendwie ein bisschen angespannter als sonst. Die letzte Tür führte in den öffentlichen Teil der Schießgasse, dort war ganz normal zu DDR-Zeiten die KFZ-Anmeldung, also ein Bereich, wo ganz normale Leute ihre Dinge verrichteten. Wir wurden einfach durch eine Tür durchgelassen. Hinter uns wurde die wieder zugeschlossen. Wir hatten eine durchsichtige Tüte mit unserem Zeug darin und standen ganz plötzlich unter normalen Menschen und das war ein ganz skurriler Augenblick, weil du warst ja vorher vollkommen abgeschottet. Im Gefängnis hast du zum Beispiel gar keine Frauen gesehen und wurdest nur im Befehlston angesprochen und dann standest du plötzlich unter normalen Menschen. Die haben gar keine  Notiz von uns genommen. Wir haben dagestanden und haben uns die Leute angeguckt. Wir konnten es gar nicht so richtig glauben und haben ja auch von den Umwälzungen nicht viel mitbekommen. Eigentlich gar nichts, außer dem einen Gespräch, das ich da auf dem Freihof mitbekommen hatte.

Noch einmal zum Bahnhof: Wissen Sie, wer die Barrikaden gebaut hatte ?

Nein, die waren da. Ob die von Seiten der Polizei gebaut wurden oder von Seiten der Demonstranten, die dort waren, weiß ich nicht.

Hatten Sie während dieser Zeit oder später den Eindruck, dass sich in Ihrer Gruppe, unter Ihren Freunden oder im Umfeld, also auch im kirchlichen Umfeld, Leute der Staatsicherheit um Sie gekümmert haben? Dass Informationen aus Ihrer Gruppe nach außen getragen wurden?

Nicht so direkt. Man hat sich aber immer mit diesem Gedanken getragen, wer bei der Stasi arbeiten könnte, wer Informationen von uns weitergeben haben könnte. Ich habe immer gesagt, wir machen einfach unser Ding. Es ist völlig egal. Was wir machen, ist für uns legitim. Wer irgendwelche Gedanken oder Informationen weitergibt, ist uns egal. Wir versuchen unsere Sache durchzuziehen. Wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht klappt, dann können wir auch Rückschlüsse ziehen. Verdächtigungen waren immer im Raum. Wenn wir eine Sache mit Sicherheit durchziehen wollten, dann haben wir im engsten Kreis das beschlossen und haben so wenig wie möglich Leute da eingeweiht.

Was glauben Sie aus heutiger Sicht, welche Motivation hattet ihr damals?

Also ich kann jetzt nur von meiner Motivation sprechen, die ist ähnlich wie bei den anderen. Mich hat dieser ganze Staat und diese Bevormundung tierisch genervt. Also dieses Heuchlerische und diese Parolen, die waren ja wirklich dumm, da hat auch keiner daran geglaubt, der halbwegs Verstand hatte. Die Zeitung war voll von Lobhudeleien auf die wirtschaftliche Lage der DDR, auf die politische Führung und das hat mich tierisch genervt. Jede Nachrichtensendung hat mich genervt, noch schlimmer genervt wie heute die Werbung, da hab ich immer weggeschaltet.

Und wolltet ihr, dass sich was verändert oder wolltet ihr vor allem eure Aggressionen ausleben?

Es war beides natürlich, die Aggression oder die Dinge, die einen genervt haben. Man wollte irgendetwas dagegen tun, man wollte, das schon, irgendwie abbauen. Wenn es was verändert hätte, dann wäre das natürlich gut gewesen. Außerdem wollte ich ja auch wirklich in den Westen und dachte im Vorfeld, das wird die Sache beschleunigen. Ich hab mir das nicht so konkret überlegt, aber unbewusst schon. Wo ich zu der Gruppe gefunden habe, war ich natürlich auch sehr froh. Wo ich dort mit dem Plakat hin gegangen bin nach Gittersee, war ich ja noch alleine und wenn man da in der Gruppe was macht, hat man natürlich vielmehr Mut, dann läuft das ganz anders, dann ist das viel viel einfacher. Die Reisefreiheit hat mich natürlich auch gestört. Diese ganze verlogene Ausdrucksweise: „antifaschistischer Schutzwall“ und so ein Schwachsinn. Dass man eingesperrt ist und dass man nicht frei in irgendwelche Länder reisen kann, dass man mit seinem Leben bezahlt, wenn man das versucht, ist ja schon absurd. Und dann immer dieses Gerede, dass das die bessere Gesellschaft ist, wo doch klar auf der Hand liegt: Wenn das so wäre, dann können wir ja mal in die Schlechtere zu Besuch fahren, um uns davon zu überzeugen. Aber das war ja nicht möglich. Es war alles so extrem simpel doof und war einfach nervend für mich. Natürlich wollte ich mal nach Paris fahren oder irgendwo anders hin. Auch Amerika wollte ich gerne mal sehen, habe ich aber bis heute noch nicht geschafft .

Würden Sie sagen, dass die Ereignisse im Herbst ’89, unter anderem natürlich als Schwerpunkt die Ereignisse am Dresdner Hauptbahnhof, Ihre persönliche Biografie maßgeblich verändert haben?

Selbstverständlich. Also ich denke, dass sich die Biografie jedes DDR-Bürgers dadurch verändert hat, logischerweise, aber meine natürliche besonders. Erstens wüsste ich nicht, wie lange ich im Gefängnis zugebracht hätte, wenn sich nichts geändert hätte. Zum Zweiten, wäre ich dann erst mal in den Westen gekommen, so wäre ich aus meinem Umfeld völlig herausgekommen. Ich hätte natürlich nach der Wende wieder herkommen können, wie es so viele gemacht haben, auch aus unserem Freundeskreis, aber ich hätte erstmal völlig andere Erfahrungen gemacht. Es wären vielleicht auch positive Erfahrungen geworden, weiß ich nicht. Ich war auch nicht scharf darauf, die Erfahrungen machen zu müssen und mich völlig neu einzuleben in einer fremden Umgebung, das habe ich natürlich dadurch vermeiden können.

Und wie würden Sie aus der heutigen Sicht das Ergebnis des Herbstes ’89 für Sie persönlich bezeichnen oder bewerten?

Ich denke schon, dass sich viele Sachen verbessert haben. Es gibt ja keine Bevormundungen mehr und Pressefreiheit. Ich denke, der große Irrtum in dieser Zeit war für die DDR-Bürger, dass Geld oder materielle Dinge oder auch Reisefreiheit ein persönliches Glücksgefühl auf Dauer bringen. Also das Fazit hatte ich schon, dass das dann nicht passiert ist. Ich denke, dass wir an anderen Dingen arbeiten müssen, als an wirtschaftlichen Dingen, weil diese ganzen materiellen Dinge bringen kein dauerhaftes Zufriedenheits- oder Glücksgefühl. Das kann man wahrscheinlich nur im zwischenmenschlichen Bereich finden. Ich denke, die Zukunft müsste sich mehr in diese Bereiche ausrichten, als in Richtung Wirtschaft. Immer mehr zu haben, das bringt am Ende nichts. Also für mich ist ja Geld auch in gewisser Weise eine Droge. Man will immer mehr, hat immer mehr und ist trotzdem nicht zufrieden damit. Es ist eine gesellschaftlich anerkannte Droge, was ja die anderen meistens nicht sind. Also, wer viel Geld hat, der wird eher gut angesehen. Jeder will es haben, es ist eine sehr verbreitete legale Droge. Ich hatte ja den Vorteil, dass der Westen zu mir gekommen ist und trotzdem hat sich dieses Glücksgefühl, was ich an bunten Kaugummis und schnellen Autos festgemacht hab, nicht eingestellt. Das sollte man sich heute bewusst machen, wenn man von mehr Geld träumt.

Würden Sie sagen, Sie sind ein heimatverbundener Mensch? Also sind Sie froh, in Dresden bleiben zu können und dass Sie damals nicht wegfahren mussten?

Ich denke schon. Ich könnte mir auch vorstellen, unter gewissen Umständen, woanders zeitweilig zu wohnen oder zu leben. Aber damals war ich auf jeden Fall sehr froh, in Dresden bleiben zu können. Das war am Anfang der Wende noch nicht so richtig klar: Macht man jetzt doch noch schnell rüber oder wird die Mauer dann wieder zugemacht? Man hatte schon gewisse Bedenken, aber als es dann klar war, dass sich dieses Land verändert, war für mich nicht die Frage, irgendwo anders hinzugehen. Es wäre für mich auch jetzt schwierig, nur wegen einer Arbeit oder einer besseren Bezahlung in ein anderes Land oder Bundesland zu gehen. Das würde ich jetzt nicht für so wichtig erachten, um dafür den vertrauten Kreis zu verlassen

Gab es für Sie in den letzten zwanzig Jahren Enttäuschungen?

Da fällt mir jetzt so konkret nichts ein, außer eben diesem Glücksgefühl aufgrund banaler Dinge wie Reisefreiheit, materieller Dingen oder so, von denen ich gedacht habe, dass ich mich dadurch im Allgemeinen für längere Sicht gut fühle. Das war die größte Enttäuschung.

Wie würden Sie Ihren persönlichen Lebensraum, Ihr persönliches Lebensumfeld heute beschreiben? Sind Sie ein zufriedener Mensch ?

Ich würde sagen, ich bin nicht glücklich, aber auf jeden Fall zufriedener als damals. Ich lebe auf einem ganz anderen Level, aber mir ist das nicht jeden Tag bewusst. Damals war ich noch viel unglücklicher und unzufriedener. Es hatte aber weniger mit dem Staat zu tun, als ich gedacht habe. Es lag mehr an persönlichen Beziehungen. Damals, vor der Wende, habe ich gedacht, in diesem Staat kann man einfach nicht glücklich werden. Heute  bin ich der Meinung, dass in Deutschland jeder die Möglichkeit hat, sein Leben zu leben, ob er nun Aussteiger ist oder irgendwo nach Kanada in den Wald ziehen will. Zu DDR-Zeiten konnte er das nicht. Aber das Glück hatte damit eben wenig zu tun gehabt. Ich habe dem Staat an persönlichem Unglück mehr Schuld gegeben, als er hatte.

Gäbe es für Sie eine Empfehlung an die heutige Zeit?

Das habe ich für mich selbst noch nicht völlig gelöst, diese Aufgabe. Da ist es blöd Glücksprognosen zu verteilen. Ich denke, dass der materielle Aspekt nicht so vorder­gründig sein sollte. Das sage ich jetzt auch mehr vom Kopf her, weil ich hätte natürlich auch lieber mehr Geld, aber man sollte lieber an den zwischenmenschlichen Beziehungen arbeiten, ich glaube, das bringt auf Dauer mehr. Also Freunde und Beziehungen, Partnerschaft, ich denke das ist länger anhaltend und viel wichtiger. Das Zusammenleben zum Beispiel fand ich nun wieder zu DDR-Zeiten besser, da man einen gemeinsamen Feind hatte oder einen gemeinsamen Gegner. Das war zumindest bei uns so. Die letzten Jahre oder Monate war man enger zusammen und hat seine Freunde auch besser kennen­gelernt. Heute macht jeder sein eigenes Süppchen.